Kapitel 1: Bill's Geschichte

Bill's Geschichte.


Inhalt

[Vorwort]  [Kapitel 1]  [Kapitel 2]  [Kapitel 3]  [Kapitel 4]  [Kapitel 5]  [Kapitel 6]  [Kapitel 7]  [Kapitel 8]  [Kapitel 9]  [Kapitel 10]  [Kapitel 11]  [12 Traditionen]  [Stichwortverzeichnis]


Geschichte

[Doktor Bobs Alptraum]  [Unser Freund aus dem Süden]  [Der Hobby-Braumeister]  [Freiheit von den Fesseln]  [Einsame Bemühung


"So rate ich jedem Alkoholiker ernstlich, daß er dieses Buch durchliest. Und wenn er vielleicht als ein Spötter mit dem Lesen anfing, so wird er hoffentlich mit einem Gebet enden."

Dr. med. William D. Silkworth

Auch die Stadt in New England, in die wir jungen Offiziere von Plattsburg aus verlegt wurden, war vom Kriegstaumel erfaßt. Wir fühlten uns geschmeichelt, wenn uns angesehene Bürger in ihre Häuser einluden und uns das Gefühl gaben, Helden zu sein. Hier spürten wir mitten im Krieg Zuneigung und Anerkennung. Es waren erhabene Momente, und manchmal waren wir auch richtig ausgelassen und fröhlich. Endlich ging das Leben nicht mehr an mir vorbei. In diesem Drunter und Drüber entdeckte ich den Alkohol. Eindringliche Warnungen und Vorurteile meiner Familie gegen das Trinken waren vergessen. Kurz darauf waren wir auf dem Weg nach Europa. Ich fühlte mich sehr einsam und wandte mich wieder dem Alkohol zu.

Wir landeten in England. Ich besuchte Winchester Cathedral. Ich war davon sehr beeindruckt. Als ich draußen herumschlenderte, erweckte ein holpriger Vers auf einem alten Grabstein meine Aufmerksamkeit:

"Hier liegt ein Hampshire Grenadier
Der starb beim kalten kleinen Bier.
Einen guten Soldaten man nie vergaß
egal wie er starb - durch Musket' oder Maß."

Eine ominöse Warnung - ich beachtete sie nicht.

Mit zweiundzwanzig Jahren schon Kriegsveteran, kam ich schließlich nach Hause. Ich fühlte mich als Führernatur, denn hatten mir die Männer meiner Einheit nicht ihre besondere Wertschätzung gezeigt? Mit meinem Führungstalent wollte ich an die Spitze großer Unternehmen kommen, die ich mit sicherem Geschick leiten würde.

Ich belegte einen Abendkursus in Rechtswissenschaften und bekam eine Anstellung als Wirtschaftsprüfer in einer Wertpapier-Gesellschaft. Das Streben nach Erfolg hatte mich gepackt. Ich würde der Welt zeigen, wie wichtig ich war. Meine Arbeit führte mich zur Wall Street, und nach und nach begann ich, mich für die Börse zu interessieren. Viele verloren Geld - aber einige wurden auch sehr reich dabei. Warum nicht auch ich? Ich befaßte mich jetzt auch mit Wirtschaftswissenschaften. Da ich schon auf dem Weg zum Alkoholiker war, schaffte ich beinahe meinen Jurakursus nicht. Bei einer der Abschlußprüfungen war ich so betrunken, daß ich weder denken noch schreiben konnte. Obwohl ich noch nicht ständig trank, war meine Frau beunruhigt. In langen Gesprächen versuchte ich, sie zu beruhigen, indem ich ihr erzählte, daß geniale Männer ihre besten Projekte im Suff ersannen und daß die würdevollsten Gedanken-Konstruktionen der Philosophie von daher stammten.

Als ich den Kursus in Rechtswissenschaft beendet hatte, wußte ich, daß Jura nichts für mich war. Ich war in das Mahlwerk der Wall Street geraten. Wirtschafts- und Finanzbosse waren meine Vorbilder. Aus dieser Verbindung von Suff und Spekulationen begann ich die Waffe zu schmieden, die sich eines Tages wie ein Bumerang gegen mich richten und mich kaputtmachen würde. Meine Frau und ich lebten bescheiden und sparten 1000 Dollar. Wir legten das Geld in Wertpapieren an, die damals billig und kaum gefragt waren. Meine Vermutung, daß sie eines Tages im Kurs erheblich steigen würden, bestätigte sich später. Ich konnte Maklerfreunde jedoch nicht dazu bewegen, mich los-zuschicken, um einen Überblick über Fabriken und Unternehmen zu gewinnen. Aber meine Frau und ich beschlossen, es trotzdem zu tun. Nach einer von mir entwickelten Theorie verloren die meisten Leute ihr Geld an der Börse durch Unkenntnis des Marktes. Später entdeckte ich noch viele andere Gründe dafür.

Wir gaben unsere Stellungen auf, und ab ging's auf dem Motorrad, den Beiwagen vollgestopft mit Zelt, Decken, Kleidern zum Wechseln und drei großen Handbüchern des Finanzmarktes. Unsere Freunde meinten, man sollte uns auf unseren Geisteszustand untersuchen. Vielleicht hatten sie recht. Da ich einigen Erfolg beim Spekulieren gehabt hatte, besaßen wir etwas Geld. Um unser kleines Kapital nicht angreifen zu müssen, arbeiteten wir einen Monat auf einer Farm. Für lange Zeit sollte das für mich die letzte ehrliche, körperliche Arbeit gewesen sein. Wir bereisten den ganzen östlichen Teil der Vereinigten Staaten in einem Jahr. Am Ende verschafften mir meine Berichte an die Wall Street dort eine neue Stellung, und ich hatte ein hohes Spesenkonto zur Verfügung. Ein Termingeschäft brachte uns in jenem Jahr Gewinn von mehreren tausend Dollar.

In den nächsten paar Jahren flogen mir Geld und Beifall nur so zu. Ich hatte es geschafft. Das Rascheln der Geldscheine brachte viele dazu, meinen Einschätzungen und Ideen zu folgen. Der Aufschwung der späten zwanziger Jahre nahm überschäumende Formen an. Alkohol bildete einen wichtigen Bestandteil meines Lebens. In den Jazzlokalen der Stadt wurde hitzig debattiert. Jeder warf mit Tausendern nur so um sich und phantasierte von Millionen. Sollten die Spötter ruhig spotten, mir war's gleich. Ich machte mich zum Gastgeber von Schönwetterfreunden.

Mein Trinken nahm ernstere Formen an, ich trank fast den ganzen Tag und beinahe jeden Abend. Die Vorhaltungen meiner Freunde führten zu Streit. Ich wurde zum einsamen Wolf. In unserer aufwendigen Wohnung gab es häßliche Szenen. Meiner Frau war ich nie richtig untreu geworden. Vor Seitensprüngen bewahrte mich die Anhänglichkeit zu ihr und meine zeitweilig extreme Trunkenheit.

Im Jahr 1929 packte mich das Golf-Fieber. Deshalb zogen wir aufs Land. Für meinen Ehrgeiz, den damals berühmten Golfspieler Walter Hagen zu schlagen, erwartete ich den Beifall meiner Frau. Aber der Alkohol holte mich schneller ein, als ich Walter Hagen schlagen konnte. Das morgendliche Zittern begann. Beim Golfspiel war es möglich, von morgens bis abends zu trinken. Es machte mir Spaß, auf dem exklusiven Platz umherzustreifen, der in mir schon solche Ehrfurcht erweckt hatte, als ich noch ein Junge gewesen war. Meine Haut nahm die makellose Bräune der Wohlhabenden an. Mit amüsierter Skepsis beobachtete der örtliche Bankangestellte den regen Ein- und Ausgang meiner dicken Schecks.

Ganz unerwartet brach im Oktober 1929 an der New Yorker Börse die Hölle los. Nach einem dieser verteufelten Tage schwankte ich aus einer Hotelbar in ein Maklerbüro. Es war abends acht Uhr, fünf Stunden nachdem die Börse geschlossen hatte. Der automatische Kursanzeiger tickte immer noch. Ich starrte auf einen Papierstreifen mit der Notierung PKF-32. Am Morgen waren es noch 52 gewesen. Wie so viele meiner Freunde war auch ich ruiniert. Die Zeitungen berichteten, daß Menschen von den hohen Dächern der Finanzburgen in den Tod gesprungen waren. Das widerte mich an. Ich würde nicht springen. Ich ging in die Bar zurück. Seit 10 Uhr morgens hatten meine Freunde mehrere Millionen verloren - na und? Morgen war ein neuer Tag. Beim Trinken kehrte meine alte, verbissene Entschlossenheit zu gewinnen zurück.

Am nächsten Morgen rief ich einen Freund in Montreal an. Er hatte genügend Geld übrigbehalten und meinte, es wäre besser, wenn ich nach Kanada ginge. Im Frühjahr des folgenden Jahres lebten wir wieder in unserem altgewohnten Stil. Ich fühlte mich wie Napoleon nach der Rückkehr von Elba. Für mich gab es kein St. Helena. Aber bald trank ich wieder, und mein großzügiger Freund war gezwungen, mich fallenzulassen. Diesmal waren wir endgültig pleite.

Wir zogen zu den Eltern meiner Frau. Ich fand Arbeit, die ich jedoch nach einer Schlägerei mit einem Taxifahrer verlor. Gott sei Dank konnte damals noch niemand voraussehen, daß ich fünf Jahre lang keinen festen Arbeitsplatz haben und genauso lange Zeit kaum einen nüchternen Atemzug tun würde.

Meine Frau nahm eine Stellung in einem Kaufhaus an. Wenn sie abends erschöpft nach Hause kam, fand sie mich betrunken vor. Ich wurde zum unerwünschten Herumtreiber in den Maklerbüros.

Alkohol war kein Luxus mehr, er wurde zur Notwendigkeit. Zwei bis drei Flaschen schwarz gebrannter Gin wurden zur Gewohnheit. Kleine Geschäfte brachten hin und wieder einige hundert Dollar, so daß ich meine Schulden in den Bars und Lebensmittelgeschäften bezahlen konnte. So ging es endlos weiter. Ich wachte morgens sehr früh auf und war dabei von heftigem Zittern geschüttelt. Um überhaupt frühstücken zu können, brauchte ich erst ein Wasserglas Gin und ein halbes Dutzend Flaschen Bier. Trotzdem glaubte ich immer noch, die Situation im Griff zu haben. Es gab aber auch nüchterne Phasen, die meiner Frau wieder Hoffnung machten.

Nach und nach wurde es schlimmer. Das Haus wurde von Gläubigern übernommen, meine Schwiegermutter starb, meine Frau und mein Schwiegervater wurden krank.

Dann bot sich mir eine vielversprechende Gelegenheit, ein Geschäft zu machen. Die Aktien waren auf dem Tiefstand von 1932, und irgendwie gelang es mir, eine Käufergruppe zu bilden. Ich sollte großzügig am Gewinn beteiligt werden. Die guten Chancen verdarb ich mir durch eine neue Sauftour.

Ich wachte auf. Das mußte ein Ende haben. Ich sah ein, daß ich nicht mal mehr einen einzigen Schluck trinken durfte. Ich war restlos fertig. Früher hatte ich oft leere Versprechungen gemacht. Jetzt aber war meine Frau glücklich darüber, daß es mir dieses Mal ernst damit war. Es war mir ernst.

Kurz danach kam ich dennoch betrunken nach Hause. Ich hatte mich nicht dagegen gewehrt. Wo waren meine guten Vorsätze geblieben? Ich wußte es einfach nicht. Es war mir auch nicht bewußt geworden. Jemand hatte mir ein Glas zugeschoben, und ich hatte es ausgetrunken. War ich verrückt? Bei so viel Unüberlegtheit schien ich nicht weit davon entfernt zu sein.

Ich erneuerte meinen Vorsatz und versuchte es wieder. Nach einiger Zeit wurde das Selbstvertrauen von Überheblichkeit abgelöst. Ich konnte über die Schnapsbrennereien lachen. Jetzt wußte ich, worauf es ankam. Eines Tages betrat ich ein Café, um zu telefonieren. Plötzlich stand ich an der Bar, ohne zu wissen, wie ich dahin gekommen war.

Als mir der Whisky zu Kopf stieg, sagte ich mir, daß ich es das nächste Mal besser machen würde. Jetzt wollte ich mich erst einmal besser fühlen und ließ mich vollaufen.

Die Reue, den Schrecken und die Hoffnungslosigkeit am nächsten Morgen werde ich nie vergessen. Der Mut zu kämpfen war weg. Mein Hirn raste unkontrolliert, und ich hatte ein schreckliches Gefühl von drohendem Unheil. Es war noch nicht Tag, und ich wagte kaum, über die Straße zu gehen aus Angst, zusammenzubrechen und von einem Lieferwagen überfahren zu werden, denn es war noch dämmerig. Eine Kneipe, die die ganze Nacht geöffnet hatte, versorgte mich mit etlichen Glas Bier. Meine verkrampften Nerven kamen schließlich zur Ruhe. Durch eine Morgenzeitung erfuhr ich, daß an der Börse wieder der Teufel los war. In mir auch. Der Börsenmarkt würde sich erholen, ich aber nicht. Das war hart. Sollte ich mich umbringen? Nein - jetzt nicht. Ich war wie benebelt. Gin würde das beheben. Zwei Flaschen und - totales Vergessen.

Körper und Geist [body and mind] sind wunderbare Mechanismen. Sie hielten diese Qual noch zwei Jahre aus. In meiner schrecklichen morgendlichen Verfassung vergriff ich mich an dem dünnen Portemonnaie meiner Frau. Dann stand ich wieder einmal schwankend vor einem offenen Fenster oder am Medikamentenschrank, in dem Gift war, und verfluchte mich als Schwächling. Wir ergriffen die Flucht von der Stadt aufs Land - und wieder zurück-; so suchten meine Frau und ich, dieser Situation zu entkommen. Dann kam die Nacht, in der meine körperlichen und seelischen Qualen [mental torture] so höllisch waren, daß ich Angst hatte, durchs geschlossene Fenster zu springen. Irgendwie schaffte ich es, meine Matratze in ein unteres Stockwerk zu zerren, um die Gefahr zu verringern, falls ich plötzlich springen sollte. Ein Arzt kam und gab mir ein starkes Beruhigungsmittel. Am nächsten Tag nahm ich beides, Gin und Beruhigungsmittel. Diese Mischung gab mir bald den Rest. Alle fürchteten um meine Gesundheit [sanity]. Ich auch. Wenn ich trank, konnte ich wenig oder nichts essen. Ich hatte 20 kg Untergewicht.

Mein Schwager ist Arzt. Seiner Freundlichkeit verdanke ich es, daß ich in eine landesweit bekannte Klinik für seelische und körperliche [mental and physical] Rehabilitation von Alkoholikern eingewiesen wurde. Durch eine sogenannte Belladonna- Behandlung wurde mein Hirn wieder klar. Hydrotherapie (Abspritzen mit kaltem Wasser) und leichte Gymnastik halfen viel. Doch das Beste war, daß ich einen freundlichen Arzt traf, der mir erklärte, daß ich zwar selbstsüchtig und dumm gewesen war, aber auch ernsthaft krank, körperlich und seelisch [bodily and mentally].

Es erleichterte mich irgendwie, als ich erfuhr, daß Alkoholiker einen erstaunlich geschwächten Willen haben, wenn es darum geht, gegen Alkohol zu kämpfen, obwohl dieser Wille in anderer Beziehung oft stark bleibt. Das erklärte mein unglaubliches Benehmen bei dem verzweifelten Versuch, mit dem Trinken aufzuhören. Da ich mich nun selbst verstand, keimte neue Hoffnung in mir. Drei oder vier Monate hing der Himmel voller Geigen. Regelmäßig ging ich in die Stadt und verdiente sogar etwas Geld. Das war sicherlich die Antwort: Selbsterkenntnis!

Es war nicht die Antwort, denn der gefürchtete Tag kam, an dem ich wieder trank. Mit meiner moralischen und körperlichen Gesundheit ging es rapide bergab. Nach kurzer Zeit war ich wieder im Krankenhaus. Das war das Ende, der Vorhang fiel, so schien es mir. Meiner besorgten und verzweifelten Frau wurde mitgeteilt, daß ich innerhalb eines Jahres entweder durch Herzversagen im Delirium tremens oder durch Gehirnerweichung enden würde. Sie müsse mich bald dem Totengräber oder der Irrenanstalt überlassen.

Mir brauchte man das nicht zu sagen. Ich wußte es und begrüßte beinahe den Gedanken. Mein Stolz war aufs tiefste verletzt. Ich war sehr von mir selbst überzeugt und von meiner Fähigkeit, Schwierigkeiten zu überwinden. Dennoch wurde ich schließlich in die Ecke gedrängt. Nun sollte ich in abgrundtiefe Finsternis stürzen und mich den endlosen Reihen von Säufern anschließen, die mir vorangegangen waren. Ich dachte an meine arme Frau. Trotz allem hatten wir auch viel Spaß gehabt. Was würde ich nicht alles geben, um wiedergutzumachen! Damit war es aber jetzt vorbei.

Worte können nicht die Einsamkeit und Verzweiflung wiedergeben, die ich im tiefen Morast des Selbstmitleids fand. Wüstensand war um mich herum in allen Richtungen. Ich hatte mein Spiel gespielt - und verloren. Ich gab mich geschlagen. Der Alkohol war mein Meister.

Zitternd verließ ich als gebrochener Mann das Krankenhaus. Furcht hielt mich für kurze Zeit nüchtern. Dann kam der heimtückische Irrsinn des ersten Schlucks, und am "Tag der Armee" 1934 war ich wieder voll drin. Alle kamen zu der Überzeugung, daß man mich irgendwo einsperren müsse, oder ich würde elend zugrunde gehen. Wie finster ist es doch vor der Morgendämmerung! In Wirklichkeit war das der Anfang meiner letzten Saufphase. Bald aber sollte ich in das hineinkatapultiert werden, was ich gern als die "Vierte Dimension des Daseins" bezeichne. Ich sollte Glück, Frieden und Nützlichkeit kennenlernen in einer Lebensweise [way of life], die unglaublich viel schöner ist als die vergangenen Zeiten.

Gegen Ende jenes tristen Novembers saß ich in meiner Küche und trank. Mit einer gewissen Befriedigung dachte ich daran, daß genug Gin im Hause versteckt war, um mich durch die Nacht und über den nächsten Tag zu bringen. Meine Frau arbeitete. Ich überlegte, ob ich es wagen konnte, eine Flasche Gin am Kopfende unseres Bettes zu verstecken. Vor Tagesanbruch würde ich sie brauchen.

Meine Überlegungen wurden durch das Telefon unterbrochen. Mit munterer Stimme fragte ein alter Schulfreund, ob er mal rüberkommen könne. Er war nüchtern. Soweit ich zurückdenken konnte, war er schon seit Jahren nicht mehr nüchtern nach New York gekommen. Ich war überrascht. Gerüchten zufolge hatte man ihn wegen alkoholischen Irrsinns mit gerichtlichem Beschluß in eine geschlossene Anstalt gebracht. Ich fragte mich, wie er da hatte herauskommen können. Sicher würde er zum Abendessen bleiben, und dann könnte ich ganz offen mit ihm trinken. Ohne Rücksicht auf sein Wohlergehen dachte ich nur daran, den Geist früherer Tage wieder heraufzubeschwören. Als Krönung einer Sauftour hatten wir einmal sogar ein Flugzeug gechartert. Sein Kommen war wie eine Oase in dieser trostlosen Wüste sinnlosen Lebens. Das war es - eine Oase! Säufer sind so.

Die Tür ging auf, er stand da, frisch rasiert und strahlend. Da war etwas in seinem Blick. Er war auf unerklärliche Weise verändert. Was war geschehen?

Ich schob ihm einen Schnaps über den Tisch. Er lehnte ihn ab. Enttäuscht, aber neugierig überlegte ich, was in den Kerl gefahren war. Er war nicht mehr er selbst.

"Komm, was soll das Ganze?" fragte ich skeptisch.

Er schaute mich offen an. Lächelnd sagte er einfach: "Ich habe meinen Glauben gefunden."

Ich war bestürzt. Das war es also. Im vergangenen Sommer ein alkoholischer Spinner und jetzt ein leicht spinnender Glaubensbruder, argwöhnte ich. Er hatte diesen verklärten Blick. Ja, der alte Bursche hatte Feuer gefangen. Laß ihn schwätzen, meinen Segen hat er! Außerdem würde mein Gin länger halten als sein Predigen.

Aber es war kein Geschwätz. Mit einfachen, knappen Worten berichtete er, wie zwei Männer vor Gericht erschienen waren und den Richter dazu gebracht hatten, seinen Einweisungsbeschluß auszusetzen. Sie hatten von einer simplen religiösen Idee gesprochen und von einem praktischen Aktionsprogramm. Das war vor zwei Monaten, und das Ergebnis sprach für sich selbst. Es wirkte! [It worked!]

Er war gekommen, um seine Erfahrungen an mich weiterzugeben - wenn ich Wert darauf legte. Ich war wie vor den Kopf geschlagen, aber dennoch interessiert. Mit Sicherheit war ich interessiert. Ich mußte es sein, denn ich war ohne Hoffnung.

Er sprach stundenlang. Kindheitserinnerungen tauchten in mir auf. Es war mir, als hörte ich die Stimme des Pfarrers, wenn ich an stillen Sonntagen weit draußen auf den Hügeln saß. Da war dieser Vorschlag zu einem Nüchternheitsgelübde, das ich nie unterschrieb. Ebenso erinnerte ich mich an den gutmütigen Spott meines Großvaters über einige Kirchgänger und deren Getue, auch daran, daß er darauf beharrte, es gäbe wirklich Musik in den Sphären. Gleichzeitig aber sprach er dem Pfarrer das Recht ab, ihm vorzuschreiben, wie er den Klängen zu lauschen habe. Ich dachte an die Furchtlosigkeit, mit der mein Großvater von all diesen Dingen kurz vor seinem Tode gesprochen hatte. Bei diesen Gedanken, die aus der Vergangenheit aufstiegen, bekam ich einen Kloß im Hals.

Der Kriegstag in der alten Winchester Cathedral tauchte wieder vor mir auf.

Ich hatte immer an eine Kraft, größer als ich, geglaubt und mir über diese Dinge oft Gedanken gemacht. Ich war kein Atheist. Tatsächlich gibt es nur wenige wirkliche Atheisten, denn Atheismus bedeutet, blind der seltsamen Theorie zu vertrauen, daß das Universum aus dem Nichts kommt und ziellos ins Nichts rast. Die von mir verehrten, intelligenten Helden aus der Chemie, der Astronomie, ja sogar die aus der Evolutionsslehre, sprachen von allumfassenden Gesetzen und Kräften, die am Werk waren. Trotz aller gegenteiligen Anzeichen gab es bei mir wenig Zweifel, daß eine machtvolle Absicht und Ordnung [rhythm] allem zugrunde lag. Wie konnte es ohne eine dahinterstehende höhere Intelligenz so genaue und unwandelbare Gesetze geben? Ich mußte ganz einfach an einen Geist des Universums [Spirit of the Universe] glauben, der weder Zeit noch Grenzen kennt. Bis dahin war ich mit meinen Gedanken gekommen.

Damit hörte die Gemeinsamkeit zwischen der Geistlichkeit, den Weltreligionen und mir schon auf. Wenn sie von einem Gott sprachen, der mir persönlich nahestand, der ein Gott der Liebe, der übermenschlichen Stärke und der Wegweisung [direction] war, wurde ich verwirrt, und mein Denken [mind] verschloß sich solchen Theorien.

Ich war bereit, zuzugestehen, daß Christus ein großer Mann gewesen war, in weitem Abstand gefolgt von denjenigen, die ihn für sich beanspruchen. Seine moralische Lehre hielt ich für ausgezeichnet. Für mich hatte ich das akzeptiert, was mir paßte und bequem war; den Rest beachtete ich nicht.

Die Kriege, die Verbrennungen und Grausamkeiten, die durch Religionsstreitigkeiten entfacht worden waren, machten mich krank. Mir kamen ehrliche Zweifel, ob die Religionen der Menschheit, aufs Ganze gesehen, überhaupt Gutes gebracht hatten. Wenn ich nach dem urteilte, was ich in Europa und danach gesehen hatte, war Gottes Kraft in menschlichen Angelegenheiten unbedeutend und die "Brüderlichkeit der Menschen" ein grausamer Witz. Wenn es einen Teufel gab, dann schien er der Herr dieser Welt zu sein, und mich hatte er mit Sicherheit in seiner Gewalt.

Aber nun saß mein Freund vor mir und erklärte mir geradeheraus, daß Gott für ihn das getan hatte, was er selbst für sich nicht hatte tun können. Sein menschlicher Wille hatte versagt. Ärzte hatten ihn für unheilbar erklärt. Die Gesellschaft war drauf und dran, ihn einzusperren. Wie ich selber, hatte er die vollständige Niederlage zugegeben. Mit dem Effekt, daß er wieder auferstanden war von den Toten und vom Schrotthaufen auf eine Ebene des Lebens gehoben wurde, die besser war als das Beste, das er je gekannt hatte!

Kam diese Kraft aus ihm selbst? Offensichtlich nicht. In ihm war nicht mehr Kraft gewesen, als in diesem Augenblick in mir war; und da war gar keine.

Das haute mich um. Es begann so auszusehen, als ob religiöse Menschen am Ende doch den richtigen Riecher hatten. Hier war etwas im Menschenherzen am Werk, was Unmögliches möglich machte. Meine bisherige Meinung über Wunder mußte ich nun drastisch korrigieren. Weg mit dem alten Hut. Hier saß mir ein Wunder am Küchentisch direkt gegenüber und verkündete große, gute Neuigkeiten.

Ich sah, daß bei meinem Freund viel mehr als nur die alte Ordnung wiederhergestellt worden war [much more than inwardly reorganized]. Er hatte eine andere Basis. Er wurzelte in neuem Boden.

[Die folgenden Absätze sind das Ergebnis langwieriger, zäher Verhandlungen. Als Zugeständnis an einige antireligiös eingestellte Mitglieder der New Yorker Gruppe wurden sie später in den Text eingefügt:

Trotz des lebenden Beispiels meines Freundes blieben in mir Reste meines alten Vorurteils. Das Wort Gott erweckte in mir immer noch eine Art Antipathie. Dieses Gefühl verstärkte sich bei dem Gedanken, daß es einen mir nahestehenden Gott geben sollte. Mir lag dieser Gedanke nicht. Für Begriffe wie schöpferische Intelligenz, allumfassender Geist oder Naturgeist konnte ich mich begeistern, aber ich widersetzte mich dem Gedanken an einen Herrscher im Himmel, wie liebevoll seine Herrschaft auch immer sein mochte. Ich habe seither mit einer Menge von Leuten gesprochen, die früher genauso empfunden hatten.

Mein Freund machte einen Vorschlag, der mir damals als ein neuer Gedanke erschien. Er sagte: "Warum suchst du dir nicht deinen eigenen Begriff von Gott?" Diese Aussage traf mich hart. Sie ließ den intellektuellen Eisberg schmelzen, in dessen Schatten ich viele Jahre gelebt und gefröstelt hatte. Endlich stand ich im Sonnenlicht.

Es kam nur darauf an, bereit zu sein, an eine Macht, größer als ich, zu glauben. Mehr wurde von mir für meinen Anfang nicht gefordert. Ich erkannte, daß von hier aus das Wachstum beginnen konnte. Auf dem Fundament völliger Bereitschaft könnte ich das aufbauen, was ich in meinem Freund sah. Wollte ich das haben? Selbstverständlich wollte ich.]

Dadurch wurde ich davon überzeugt, daß Gott sich um uns Menschen kümmert, wenn wir Ihn nur genug wollen. Endlich sah ich, fühlte ich, glaubte ich. Stolz und Vorurteile fielen wie Schuppen von meinen Augen. Eine neue Welt tat sich auf.

Die wirkliche Bedeutung meines Erlebnisses in der Kathedrale brach über mich herein. Für einen kurzen Augenblick hatte ich Gott gebraucht und gewollt. In mir war eine demütige Bereitschaft, Ihn bei mir zu haben, und Er kam. Aber bald wurde das Gefühl für Seine Gegenwart überdeckt durch weltliche Geschäftigkeit, vor allem in mir selbst. Und so war es seitdem immer. Wie blind war ich!

Den letzten Alkoholentzug machte ich im Krankenhaus. Die Behandlung erschien ratsam, denn ich hatte Anzeichen von Delirium tremens. Seitdem habe ich keinen Alkohol mehr getrunken.

Dort befahl ich mich demütig Gott an, so wie ich Ihn damals verstand, und bat Ihn, mit mir zu tun, was Er wolle. Ich vertraute mich uneingeschränkt Seiner Fürsorge und Leitung an. Zum ersten Mal gab ich zu, daß ich von mir aus nichts war; ohne Ihn war ich verloren. Schonungslos bekannte ich mich zu meinen Sünden und bekam die Bereitschaft, sie durch diesen neu gewonnenen Freund mit Stumpf und Stiel ausrotten zu lassen.

Mein Schulfreund besuchte mich, und ich vertraute ihm voll meine Probleme und Mängel an. Wir machten eine Liste von Menschen, die ich verletzt hatte und gegen die ich Groll hegte. Ich erklärte meine völlige Bereitschaft, diese Leute aufzusuchen, um ihnen meine Fehler einzugestehen. Niemals durfte ich sie dabei kritisieren. All diese Dinge mußte ich nach besten Kräften in Ordnung bringen.

Ich mußte mein Denken im Licht des neuen Gott-Bewußtseins in mir überprüfen. Was mir früher als "gesunder Menschenverstand" erschien, war mir jetzt gar nicht mehr so selbstverständlich. Im Zweifel würde ich mich ruhig hin setzen, Ihn nur um Orientierung und Kraft bitten, meinen Problemen in Seinem Sinn begegnen zu können. Niemals wollte ich etwas für mich selbst erbitten, es sei denn, ich könnte damit anderen nützlich sein. Nur so konnte ich erwarten, etwas zu erhalten. Und das würde in hohem Maße sein.

Mein Freund versprach, sobald diese Dinge getan seien, würde ich in eine neue Beziehung zu meinem Schöpfer treten. Ich würde dann die Grundelemente eines neuen Lebensweges besitzen, der die Antwort auf all meine Probleme sei. Das Glauben an die Kraft Gottes, und dazu eine genügend große Portion Bereitwilligkeit, Ehrlichkeit und Demut waren die wesentlichen Erfordernisse, um die Dinge in Ordnung zu bringen und diese Ordnung aufrechtzuerhalten.

Einfach, aber nicht leicht: Ein Preis mußte bezahlt werden. Das bedeutete Zerstörung der Ichbezogenheit. Ich muß mich in allem an den Vater des Lichts wenden, der über uns allen steht.

Das waren revolutionäre und drastische Vorschläge, aber in dem Augenblick, in dem ich sie voll annahm, hatten sie eine elektrisierende Wirkung. Da war in mir Siegesgefühl, dem Frieden und Gelassenheit folgten, wie ich es vorher nie gekannt habe. Das gab mir unendliches Vertrauen. Ich fühlte mich emporgehoben, wie von einem starken, frischen Bergwind durchweht. Gott offenbart sich den meisten Menschen allmählich. Aber auf mich war Seine Einwirkung schlagartig und tiefgreifend.

Für einen Augenblick war ich stark beunruhigt und rief meinen Freund, den Arzt, um ihn zu fragen, ob ich noch bei Verstand sei. Er hörte mir erstaunt zu.

Schließlich schüttelte er seinen Kopf und sagte: "Mit dir ist etwas geschehen, was ich nicht verstehe. Aber bleib nur dabei. Besser so als vorher." Der gute Doktor behandelt jetzt viele Menschen, die solche Erfahrungen machen, und er weiß, daß sie real sind.

Während ich im Krankenhaus lag, kam mir der Gedanke, daß es Tausende von hoffnungslosen Alkoholikern gibt, die vielleicht glücklich darüber wären, das zu erhalten, was mir so frei gegeben worden war. Vielleicht könnte ich einigen von ihnen helfen. Sie könnten es wiederum bei anderen bewirken [work with others].

Mein Freund betonte die absolute Notwendigkeit für mich, diese Prinzipien in allen persönlichen Angelegenheiten zu praktizieren. Insbesondere sei es unerläßlich, mit anderen zu arbeiten, so wie er es mit mir getan hatte. Glaube ohne Taten sei tot, sagte er. Wie einleuchtend und wahr für den Alkoholiker! Wer es versäumt, sein spirituelles Leben weiterzuentwickeln und zu vervollkommnen, durch aufopferungsvolle Arbeit für andere, der kann die vor ihm liegenden Versuchungen und Tiefschläge bestimmt nicht überleben. Wer nicht in diesem Sinne arbeitet, wird mit Sicherheit wieder trinken. Wer aber Alkoholiker ist und wieder trinkt, wird mit Sicherheit sterben. Dann ist der Glaube ohne Taten wirklich tot. Bei uns ist das jedenfalls so.

Meine Frau und ich widmeten uns mit Begeisterung [enthusiasm] der Aufgabe, anderen Alkoholikern zur Lösung ihrer Probleme zu verhelfen. Das traf sich gut. Meine alten Geschäftsfreunde blieben nämlich skeptisch, so daß ich anderthalb Jahre lang kaum Arbeit fand. Damals ging es mir nicht besonders gut, Wellen von Selbstmitleid und Groll überschwemmten mich. Das trieb mich manchmal fast zum Trinken zurück. Bald fand ich heraus: Wenn alle anderen Mittel versagten, konnte ich den Tag retten, indem ich mit einem anderen Alkoholiker arbeitete [work with another alcoholic].

Oft bin ich verzweifelt zu meinem alten Krankenhaus gegangen. Wenn ich mich dort mit jemandem unterhielt, war ich verblüfft, wie schnell ich wieder aufgerichtet und auf die Füße gestellt war. Das ist ein Lebensrezept, das auch in schwierigen Zeiten funktioniert.

Schnell fanden wir viele Freunde. Es bildete sich eine Gemeinschaft, und es ist eine wunderbare Sache, daran teilzuhaben. Wir können uns des Lebens freuen, selbst unter Druck und Schwierigkeiten. Ich habe Hunderte von Familien gesehen, die ihre Füße auf diesen Weg gesetzt haben, der wirklich zu einem Ziel führt. Wir haben gesehen, daß die unmöglichsten häuslichen Verhältnisse wieder in Ordnung kamen, daß Streit und Verbitterung aller Art ausradiert wurden. Ich habe Menschen gesehen, die aus Anstalten kamen und ihren wichtigen Platz im Leben der Familien und Gemeinden wieder einnahmen. Geschäftsleute und Akademiker haben ihr Ansehen wiedergewonnen. Es gibt kaum eine Form von Ärger und Elend, die wir nicht bewältigt haben. In einer westlich (von New York) gelegenen Stadt [Akron] und in deren Umgebung (Cleveland) sind es achtzig von uns und unsere Familien. Wir treffen uns regelmäßig [meet frequently], so daß Neulinge die Gemeinschaft finden können, die sie suchen. An diesen zwanglosen Zusammenkünften nehmen oft vierzig bis achtzig Personen teil. Wir wachsen an Zahl und Kraft.

Ein Alkoholiker, der noch am Glas hängt, ist kein liebenswertes Geschöpf. Unser Ringen um sie ist unterschiedlich anstrengend, oft komisch und manchmal tragisch. Ein armer Kerl beging bei uns zu Haus Selbstmord. Er konnte oder wollte unsere Art zu leben nicht begreifen.

Dennoch haben wir viel Freude an allem. Ich vermute, daß mancher schockiert wäre über unsere scheinbare Weltlichkeit und Leichtlebigkeit. Dahinter aber verbirgt sich tödlicher Ernst. Gott muß 24 Stunden am Tag [twenty-four hours a day] in uns und durch uns arbeiten - oder wir kommen um.

Die meisten von uns haben das Gefühl, daß wir nicht weiter nach Utopia (dem zukünftigen Paradies), noch nach dem Himmel suchen müssen. Wir haben ihn bei uns - jetzt und hier. Täglich vervielfacht sich das einfache Gespräch mit meinem Freund in unserer Küche zu einem immer weiter werdenden Kreis des "Friedens auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen" [Luk2,14].

[Im Buch: Abbildung der Titelseite des Manuskripts von 1938]

[Im Buch: Abbildung des Vorworts des Manuskripts von 1938]



Stand: 27. Juni 1997