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Eine Mutter blätterte selbstvergessen in einer kleinen medizinischen Zeitschrift. Der Artikel eines Arztes über Trunksucht erregte ihre Aufmerksamkeit. Alles, was sich auf
dieses Thema bezog, war der Durchsicht würdig, denn ihr Sohn, ihr einziges Kind, hatte seit Jahren die Kontrolle über das Trinken verloren. Jedes weitere Jahr seiner Trinkerei
hatte neues Herzeleid hinzugefügt, obwohl auch dem kleinsten Hoffnungsstrahl nachgegangen worden war und obwohl er verzweifelt versucht hatte, aufzuhören. Das alles hatte nur
wenig Erfolg gezeitigt. Gelegentlich war es ihm gelungen, für kurze Perioden nüchtern zu bleiben, doch unter dem Strich wurde alles ständig schlimmer.
Schweren Herzens las also die Mutter den kurzen Artikel, denn sie war stets in Alarmbereitschaft, um irgendetwas zu finden, was sich für ihren Sohn als hilfreich erweisen
könnte.
Der Artikel gab nur einen vagen Hinweis auf die Lösung, die von vielen Alkoholikern gefunden worden war, und die in diesem Buch ausführlich dargelegt ist. Doch die Mutter
schrieb sofort an den Arzt, erläuterte ihr herzzerreißendes Problem und bat um weitere Informationen. Sie spürte, daß es irgendwo Hilfe geben mußte, und zwar
mit Sicherheit, denn andere Menschen waren vom Alkoholismus genesen. Also hatte ihr Sohn auch eine Erfolgschance.
Der Arzt leitete ihren Brief an Alkoholiker Anonymus weiter. Er endete wie folgt:
"Nur Gott weiß, ob Sie meinem Sohn helfen können. Doch es würde viele von uns Angehörigen glücklich machen, denn wir lieben ihn und leiden mit ihm bei seinen
vergeblichen Anstrengungen, sein Problem zu überwinden. Bitte akzeptieren Sie meine Dankbarkeit für das, was Sie vielleicht für ihn tun können und lassen Sie bitte von
sich hören."
Ein paar Tage später wurde dieser Mutter der folgende Brief zugesandt. Es war unser allererster Versuch, einem anderen Menschen nur durch diesen Buchtext zu helfen:
"Hier im Osten haben ungefähr einhundert Männer eine Lösung für Alkoholismus gefunden, die tatsächlich etwas bewirkt. Wir sind jetzt
bei der Vorbereitung eines Buches, mit dem wir anderen Menschen zu helfen hoffen, die in gleicher Weise leiden, und wir fügen einen rohen Entwurf der ersten beiden Kapitel bei.
Rohentwürfe der weiteren Kapitel werden wir Ihnen so bald wie möglich zukommen lassen."
Eine Zeitlang kam keine Antwort, so schrieben wir erneut:
"Anbei übersenden wir Ihnen eine vervielfältigte Kopie der Vor-Veröffentlichung des Buches »ALCOHOLICS ANONYMOUS«. Wir würden uns freuen, mehr über
den Zustand Ihres Sohnes zu hören und seine Reaktion auf dieses Buch zu erfahren, da dies unsere erste Gelegenheit ist, den Versuch zu unternehmen, einem Alkoholiker auf weite
Entfernung zu helfen. Bitte, schreiben Sie uns. Mit freundlichem Gruß, Alkoholiker Anonymus"
Wieder folgte ein geraume Zeit des Schweigens im fernen Westen. Wir fingen schon an zu denken, dieses Buch sei ohne persönlichen Kontakt nicht relevant. Schließlich erhielten
wir einen langen Brief von dem Sohn selbst. Wir spüren, daß dieser Brief ungeheuer hilfreich für andere Menschen ist, die an entfernten Orten leben, einsam sind und das
Gefühl haben, absolut nicht in der Lage zu sein, dieses Programm ganz allein ausarbeiten zu können. Dieser Brief ist eine umfassende Beschreibung der Bemühungen eines
einzelnen Menschen, das aufzugreifen, was wir anzubieten hatten und das Programm allein weiterzutragen. - Allein, abgesehen von einem Buch und der Hilfe, die ihm gedruckte Seiten geben
konnten; allein, bis er unser Genesungsprogramm versucht und spirituellen Trost und Hilfe gefunden hatte. Er schrieb folgendes:
Ich möchte Euch aus tiefstem Herzen für Eure Briefe und für »ALCOHOLICS ANONYMOUS« danken. Ich habe das Manuskript von Anfang bis Ende gelesen, und das war
wirklich das erste Mal, daß eine Lektüre, die Alkoholismus behandelt, für mich einen Sinn ergab und Verständnis für die Problematik des Alkoholikers zeigte.
Ich fand, daß die persönlichen Geschichten ganz genau meine eigene Erfahrung betrafen; jede von ihnen könnte meine eigene Geschichte gewesen sein.
Ich begann mit dem Trinken 1917, als ich achtzehn war. Ich meldete mich zur Armee, wurde Unteroffizier und dann als Feldwebel nach Übersee versetzt. Ich schloß mich
älteren Männern an, trank, spielte und rannte mit ihnen herum und probierte alles aus, was Frankreich zu bieten hatte.
Nach meiner Rückkehr aus Frankreich trank ich weiter. Seinerzeit konnte ich nachts eine Menge saufen, am nächsten Morgen aufstehen, zur Arbeit gehen und mich okay fühlen.
In den darauf folgenden fünfzehn Jahren folgte ein Rausch dem anderen, und als es schlimmer wurde, bedeutete das natürlich auch ein Arbeitsplatz nach dem anderen. Ich war
häufiger Fahrgast im LKW der Militärpolizei und dergleichen mehr. Dann meldete ich mich zum U.S. Marine Corps. Das war ein Versuch, von all dem wegzukommen. Dreizehn Monate lang
trank ich sehr wenig und wurde zum Feldwebel Artillerie befördert. Normalerweise braucht man zehn oder zwölf Jahre, um diesen Dienstgrad zu erreichen, wenn überhaupt. Ich
begann wieder zu trinken. Nach sechs Monaten wurde ich zum Front Sergeant degradiert. Ich ließ mich versetzen, um von meinen früheren Bekannten wegzukommen.
Dann folgten einige Jahre in China. China war vor allem ein Ort für Leute, die dem Schnaps fernbleiben wollten. Als meine vier Jahre vorbei waren, ließ ich mich nicht wieder
anmustern.
Es kamen weitere Jobs: Autoverkäufer, Immobilienmakler usw. Dann abwärts zu Gelegenheitsarbeiten. Ich trank so viel, daß niemand das Risiko eingehen konnte, mir eine feste
Anstellung zu geben, nicht einmal für eine Tätigkeit, die mir leicht gefallen wäre, wenn ich den Schnaps in Ruhe gelassen hätte. Ich heiratete, und der Schnaps
löste die Ehe auf. Meine Mutter war ein Nervenbündel. Ich wurde pro Jahr drei- oder viermal wegen Trunkenheit verhaftet. Ich wurde bei zwei verschiedenen Anlässen in
staatliche Krankenhäuser zwangsweise eingewiesen, aber bald nach der Entlassung war ich wieder am Trinken. Vor zwei Jahren machte ich eine Entziehungskur in einer
Privatklinik. Eine Woche, nachdem ich herauskam, war ich neugierig darauf, was wohl passierte, wenn ich einen zur Brust nehmen würde. Ich nahm ihn - und es passierte gar nichts. Ich
trank noch einen - muß ich weiter erzählen? Ich ging zurück in die Privatklinik, kam heraus und war für ein paar Monate okay - dann war ich wieder am Saufen.
Nun, davor und auch während dieser Kuren hatte ich in einem staatlichen Krankenhaus für geistig Behinderte gearbeitet. Ich sah ständig die Auswirkungen des Alkohols, aber
half mir das vielleicht, um die Finger vom Schnaps zu lassen? Nein - wirklich nicht. Wenigstens verhalf es mir zu der Erkenntnis, daß ich in der Klapsmühle landen und jemand
anders den Schlüssel haben würde, falls ich es nicht tat. Nachdem ich einige Jahre in Irrenanstalten gearbeitet hatte, und zwar aufgrund meiner Größe von 1,90 m und
meines Gewichtes von 100 kg immer auf Stationen mit gewalttätigen Patienten, merkte ich, daß dort zuviel nervöse Spannung herrschte, und ich brach alle paar Monate
zusammen und war eine Woche oder zehn Tage lang betrunken.
Ich verließ die Arbeit in der Psychiatrie und bekam eine Anstellung im Allgemeinen Bezirkskrankenhaus, wo ich nun in einer medizinischen Station arbeitete. Wir bekamen des
öfteren Patienten im Entzug, die mit einem Katzenjammer usw. eingeliefert wurden. Ich mäßigte mich ein bißchen, aber nicht genug. Ich machte alle sechs oder acht
Wochen ein paar Tage lang blau.
Ich heiratete wieder. Sie war ein Mädchen aus gutem katholischen Hause, und in ihrer Familie war es üblich, Alkohol und vor allem Wein im Hause zu haben. Sie konnte mein
Trinkproblem natürlich nicht verstehen - das konnte ich ja noch nicht einmal selbst verstehen. Und mit der Zeit wurden meine arme alte Mutter und meine Frau immer besorgter.
Mutter hörte von Eurer wundervollen Arbeit und schrieb an einen Arzt. Ihr antwortetet mit Briefen und schicktet schließlich dieses Buch. Noch bevor das Buch
ankam, hatte ich die ersten beiden Kapitel gelesen, und danach wußte ich, die einzige Möglichkeit, diesen Fluch zu beenden, bestand darin, eine größere KRAFT, GOTT,
um Hilfe zu bitten. Das wurde mir klar, obwohl ich gerade auf einer Sauftour war!
Ich nahm mit einem Freund von mir Kontakt auf, der Verbindungsoffizier der kriegsversehrten Veteranen des Ersten Weltkriegs ist. Er setzte sich für meine Betreuung in einer
staatlichen Klinik ein, die sich auf Alkoholismus spezialisiert hatte. Ich wollte meinen Körper vom Alkohol entgiften und mit diesem neuen Gedanken gleich richtig beginnen. Ich gab
eine Grippe als Grund für mein Fehlen an. Unter der Obhut des leitenden Psychiaters verbrachte ich vom 1. September 1938 bis zum 15. Januar 1939 die meiste Zeit in diesem
Krankenhaus, wo mir der Blinddarm entfernt und ein Leistenbruch behoben wurde.
Vor sechs Wochen kam ich aus dem Krankenhaus, und Euer Buch wartete hier auf mich. Ich las es nicht nur, sondern ich brütete darüber, um ja nichts zu versäumen. Im stillen
dachte ich dabei, ja, das ist der einzige Weg. Gott ist meine einzige Chance. Ich habe schon früher gebetet, doch ich glaube, nicht in der richtigen Art und Weise. Ich bin den
Vorschlägen des Buches gefolgt, und so glücklich wie heute war ich schon seit Jahren nicht mehr. Ich bin sicher, daß ich die Lösung gefunden habe, dank ALCOHOLICS
ANONYMOUS.
Ich habe Gespräche mit einem anderen Mann geführt, mit einem Rechtsanwalt, der mit mir gemeinsam in der Klinik war. Er hat jetzt mein Buch, und er ist ganz begeistert.
Ich gehe jede Woche in die Klinik zur Nachuntersuchung und um meine Medikamente abzuholen, die ich bekomme, nur ein Wundheilmittel, keine Beruhigungsmittel. Der Direktor der Klinik hat mich gebeten, mit ein paar Patienten von unserer Front Kontakt aufzunehmen. Ich sagte ihm, wie dankbar ich wäre, daß er mich so etwas tun
ließ!
Könntet Ihr mir Kontakt-Adressen von anderen AA's hier draußen geben? Ich weiß, daß mir das helfen würde und auch eine Hilfestellung wäre, um anderen zu
helfen.
Ich hoffe, daß mein Brief für Euch einen Sinn ergibt. Ich könnte noch viel mehr schreiben, aber ich habe das alles einfach so geschrieben, wie es mir gerade in den Kopf
kam.
Bitte, laßt wieder von Euch hören."
Die einsamen Anstrengungen dieses Mannes waren eindrucksvoll. Könnte die Geschichte seiner einsamen Genesung nicht wirklich hilfreich für viele andere Menschen sein, die ganz
auf sich allein gestellt beginnen müßten und einzig und allein dieses Buch als Hilfe hätten? Also schickten wir ihm sofort ein Telegramm:
BRIEF SOEBEN ERHALTEN +++ BITTEN UM ERLAUBNIS BRIEF IM BUCH ANONYM ZU VERÖFFENTLICHEN +++ IST ERSTES BEISPIEL DAFÜR WAS OHNE PERSÖNLICHE KONTAKTE ERREICHT WERDEN KANN +++
WICHTIG +++ TELEGRAFIERE DEIN EINVERSTÄNDNIS +++ BUCH GEHT BEREITS IN DRUCK +++ Alkoholiker Anonymus
Sein Telegramm traf am nächsten Tag ein:
ERTEILE ERLAUBNIS MIT GROSSER FREUDE +++ VIEL GLÜCK.
Stand: 27. Juni 1997
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