| | V O R W O R T zur vierten Auflage der deutschen Übersetzung des Buches "Anonyme Alkoholiker" Das Buch "Anonyme Alkoholiker" enthält die geistigen Prinzipien und die praktischen Anleitungen, mit denen die Selbsthilfegemeinschaft alkoholkranker Männer und Frauen seit nunmehr fast fünf Jahrzehnten erfolgreich arbeitet. Die AA Gemeinschaft ist 1935 in den Vereinigten Staaten von zwei hoffnungslosen Trinkern gegründet worden. Einer der beiden Gründer, der New Yorker Börsenmakler Bill W., hat die Erfahrungen der jungen Gemeinschaft und ihrer bis dahin etwa hundert Mitglieder 1939 aufgeschrieben und unter dem Titel "Alcoholics Anonymous" veröffentlicht. Das Buch stieß auf Aufmerksamkeit und hat der Gemeinschaft den Namen gegeben, unter dem sie mittlerweile in mehr als hundert Ländern verbreitet ist. Die ersten Gruppen der Anonymen Alkoholiker sind in Deutschland zu Anfang der fünfziger Jahre entstanden. Die Männer und Frauen, die sich damals im Erfahrungsaustausch um Nüchternheit und Lebenserneuerung bemühten, hatten dafür als Anleitung und Hilfe zunächst nur, was Sprachkundige aus Besuchen amerikanischer AA Meetings mitbrachten. Es gab noch keine Übersetzungen von AA Literatur. Während kleinere Schriften bald übersetzt waren und als kopierte Handzettel in Umlauf kamen, wurde das AA-Standardwerk "Anonyme Alkoholiker" lange Zeit vermißt. Die amerikanischen Anonymen Alkoholiker hüten mit Respekt und Dankbarkeit dieses Buch in seiner ursprünglichen Form. "The Big Book" - das große Buch, wie sie es nennen, ist in der Gemeinschaft weit verbreitet. Die Gruppen sorgen dafür, daß neue Mitglieder der Gemeinschaft recht bald mit dem Buch vertraut werden. Nach dem Farbeinband der bisher erschienenen deutschsprachigen Ausgaben wird hierzulande vom "Blauen Buch" gesprochen. Rund zehn Jahre hatten die ersten Gruppen in Deutschland auf das Buch warten müssen. Dann übersetzte Pfarrer Heinz Kappes, ein der AA Gemeinschaft verbundener Geistlicher, das Buch. Heinz Kappes, der in einem Schlußkapitel dieses Buches zu Wort kommt, schickte damals sein Manuskript an die AA-Zentrale nach New York, von wo es in kleiner Auflage broschürt zurückkam. Es gab somit die erste bescheidene Ausgabe des "Blauen Buches". In dieser Form wurde es später im eigenen Land noch einmal nachgedruckt. Anfang der siebziger Jahre überarbeitete ein Team von AA-Mitglie- dern aus Deutschland, der Schweiz und aus Österreich die erste Übersetzung. Es gab die dritte Auflage des Buches, von der insge- samt 18 000 Exemplare gedruckt worden sind. Diese Auflage enthielt erstmals auch, neben dem an den amerikanischen Text angelehnten Kernteil des Buches, Lebensgeschichten Anonymer Alkoholiker. Ein Teil der Lebensgeschichten aus der dritten Auflage sind in diese vierte Auflage übernommen worden. Einige andere Lebensge- schichten sind neu hinzugekommen. Übersetzt aus dem amerikanischen Originalbuch sind die Lebensgeschichten der AA Gründer Bill. W. und Dr. Bob sowie die Aufzeichnungen des Mannes, der sich als dritter dem noch jungen Bündnis angeschlossen hat. Neu übersetzt ist der Kernteil des Buches, der bis Kapitel elf reicht. Dabei wurde dem Wunsch des AA-Weltbüros in New York Rech- nung getragen, bei der deutschen Übersetzung dem amerikanischen Originaltext möglichst eng zu folgen, damit durch die sprachliche Übertragung nichts von den AA-Grundgedanken verlorengeht oder verändert wird. Auf dieses Vorwort folgen Einleitungen und Vorreden zu den bisher erschienenen amerikanischen Auflagen des Buches. Weil diese Vor- worte gleichzeitig ein Stück Aufzeichnung von AA-Geschichte dar stellen, wurden sie mit in dieses Buch aufgenommen. Das gilt auch für die "Meinung des Arztes", ein auf die Vorworte folgendes Kapitel, das Dr. Silkworth als einer der frühen Freunde der Ge- meinschaft geschrieben hat. In den Lebensgeschichten im mittleren Teil des Buches schildern Frauen und Männer aller Altersgruppen und Gesellschaftsschichten die Not ihrer Krankheit und den Weg, den sie mit Hilfe der Anony- men Alkoholiker danach gegangen sind. Die Kapitel im Anhang zu diesem Buch sind wiederum weitgehend aus dem amerikanischen Original übernommen worden. Das gilt für die AA-Traditionen ebenso wie für die Abschnitte über "Die seelische Erfahrung" und über die Ansichten, die Geistliche und Ärzte von den Anonymen Alkoholikern haben. Die im Anhang abgedruckten Anmerkungen zum Lasker-Preis stammen aus dem Originalbuch und sind ergänzt durch einen Hinweis auf den Hermann-Simon-Preis. Ergänzt um Hinweise auf die Gegebenheiten im deutschsprachigen Europa ist das Kapitel "Wie man mit den Anonymen Alkoholikern in Verbindung kommt". Die Gedanken in den Kapiteln "Die seelische Erfahrung" und "Aus der Sicht von Geistlichen" werden vertieft durch den Beitrag von Pfarrer Heinz Kappes "Gott, wie ich ihn verstehe". Am Schluß dieser Vorrede ist allen zu danken, die an diesem Buch mitgearbeitet haben: den Übersetzern, dem mit der Überarbeitung beauftragten Literaturteam und den Schreibern der Lebensgeschich- ten. In den Dank einzubeziehen sind die Pioniere der AA-Gemein- schaft, auf die das Genesungsprogramm und die erstmalige Nieder- schrift dieses Buches zurückgeht, und diejenigen, die sorgsam über die Unverfälschtheit der AA-Botschaft wachen. - Das Erscheinen dieses Buches ist begleitet von dem Wunsch und von der Hoffnung, daß es in die Hände vieler kommt, die daraus Nutzen zu ziehen imstande sind. Mai 1983 Anonyme Alkoholiker deutschsprachiger Länder Einleitung zur jüngsten Ausgabe des amerikanischen Buches "Alcoholics Anonymous" Dies ist die dritte Auflage des Buches "Anonyme Alkoholiker". Die erste Ausgabe erschien im April 1939, und in den darauffolgenden sechzehn Jahren kamen 300 000 Exemplare in Umlauf. Die zweite Auflage, 1955 veröffentlicht, erreichte insgesamt 1 150 000 Exem- plare. Weil das Buch für unsere Gemeinschaft zum Grundtext geworden ist und einer so großen Zahl von Alkoholikern, Männern und Frauen, hilfreich bei ihrer Genesung war, gibt es in der Gemeinschaft keine Neigung, an diesem Text etwas Grundlegendes zu ändern. Deshalb wurde der erste Teil des Werkes, in dem das Genesungspro- gramm beschrieben ist, unverändert in der Form der Überarbeitung für die zweite und dritte Ausgabe übernommen. Das Kapitel "Die Ansicht des Arztes" blieb so, wie es ursprünglich im Jahr 1939 von Dr. William Silkworth, dem großen medizinischen Gönner unserer Gemeinschaft, geschrieben worden ist. Der zweiten Auflage wurden die Anhänge über die Zwölf Traditionen und die Anleitung, wie man in Kontakt mit der Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker kommt, beigefügt. Die einschneidendste Änder- ung geschah in dem Teil der persönlichen Lebensgeschichten, der erweitert wurde, um das Wachstum der Gemeinschaft widerzuspiegeln. Die Geschichte "Dr. Bobs Alptraum" und sechs andere persönliche Geschichten der ersten Ausgabe wurden beibehalten, dreißig neue Geschichten beigefügt und dieser Teil in drei Gruppen geordnet. (Anmerkung zur deutschen Ausgabe: Die Bemerkungen über die Lebensgeschichten beziehen sich auf das amerikanische Originalbuch. Diese Ausgabe enthält Lebensgeschichten deutschsprachiger Anonymer Alkoholiker.) In der vorliegenden dritten Ausgabe des Buches blieb die Gruppe I (Pioniere der Anonymen Alkoholiker) unverändert. Neun der Ge- schichten in der zweiten Gruppe ("Sie hörten rechtzeitig auf") wurden von der zweiten Ausgabe übernommen und mit acht neuen Geschichten ergänzt. Die acht Geschichten der dritten Gruppe ("Sie verloren nahezu alles") wurden um fünf neue erweitert. Alle Änderungen in dem "Großen Buch" (AA-Freunde in Amerika gaben dem Buch den Kosenamen "The Big Book"), hatten den gleichen Sinn und Zweck, die heutige Gestalt der Gemeinschaft zutreffend dazu stellen und noch mehr leidende Alkoholiker zu erreichen. Wenn Sie ein Trinkproblem haben, so hoffen wir, werden Sie beim Lesen einer der Lebensgeschichten innehalten und sich sagen: "Ja, das war bei mir auch so" oder noch besser: "Ja, ich fühlte ebenso" und noch entscheidender: "Ja, ich glaube, dieses Programm kann bei mir auch wirksam werden." Mai 1983 Anonyme Alkoholiker deutschsprachiger Länder Vorwort zur ersten Auflage des amerikanischen Buches Dies ist das Vorwort, wie es beim Erstdruck der Erstauflage im Jahr 1939 erschienen war. Wir Mitglieder der Anonymen Alkoholiker sind mehr als hundert Männer und Frauen, die von einem geistigen und körperlichen Zu stand Genesung gefunden haben, der hoffnungslos zu sein schien. Die wichtigste Absicht dieses Buches ist: Wir wollen anderen Alkoholikern genau den Weg beschreiben, der zu unserer Genesung geführt hat. Wir hoffen, daß diese Seiten so überzeugend sind, daß keine weiteren Beweise nötig sind. Wir meinen auch, daß jedermann durch diesen Bericht unserer Erfahrungen den Alkoholiker besser verstehen lernt. Viele Menschen begreifen nicht, daß der Alkoholiker ein sehr kranker Mensch ist. Darüber hinaus sind wir überzeugt, daß unsere Lebensmethode auch für alle anderen Menschen von Nutzen sein kann. Es ist wichtig, daß wir anonym bleiben, denn wir sind zur Zeit noch zu wenig, um mit der überwältigenden Zahl von Hilferufen fertig zu werden, die wahrscheinlich durch diese Veröffentlichung ausgelöst werden. Da wir meist im Geschäftsleben stehen oder einen freien Beruf haben, könnten viele von uns ihre Beschäftigung nicht ausüben, wenn wir als Alkoholiker bekannt würden. Wir bitten um Verständnis dafür, daß unsere Arbeit mit Alkoholikern eine Nebenbeschäftigung ist. Wenn wir in der Öffentlichkeit schreiben oder reden, dann soll jedes Mitglied unserer Gemeinschaft seinen Familiennamen weglas- sen: es soll sich statt dessen einfach als "ein Mitglied der Anonymen Alkoholiker" bezeichnen. Wir richten auch an die Presse die sehr ernste Bitte, daß sie diesen Wunsch achtet; andernfalls entstünden uns Nachteile. Wir sind keine Organisation im üblichen Sinn dieses Wortes. Bei uns gibt es keine Mitgliedsbeiträge oder sonstige finanzielle Verpflichtungen. Die einzige Voraussetzung für die Mitgliedschaft ist der ehrliche Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören. Wir sind mit keinem besonderen Religionsbekenntnis, keiner Sekte oder Kirche verbunden, wir stehen aber auch in keinem Gegensatz zu irgend etwas oder zu irgend jemand. Wir wollen einfach denen zu Hilfe kommen, die von dieser Krankheit betroffen sind. Wir würden uns sehr freuen, von den Lesern zu hören, die durch dieses Buch zu positiven Ergebnissen gekommen sind; von besonderem Interesse sind für uns Mitteilungen von solchen, die anfingen, mit anderen Alkoholikern zu arbeiten. In solchen Fällen möchten wir uns nützlich erweisen. Für Anfragen von wissenschaftlichen, medizinischen und religiösen Organisationen sind wir dankbar. Anonyme Alkoholiker Vorwort zur zweiten Auflage des amerikanischen Buches Seitdem im Jahre 1939 das ursprüngliche Vorwort zu diesem Buch geschrieben worden ist, hat sich wahrhaft ein Wunder ereignet. In unserer frühesten Ausgabe sprachen wir die Hoffnung aus: "Jeder Alkoholiker, der auf Reisen ist, möge an seinem Reiseziel die Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker vorfinden. Schon jetzt", so fährt jener alte Text fort, "sind in anderen Gemeinden Gruppen mit zwei, drei oder fünf unserer Mitglieder entstanden." Seitdem wir dieses Buch zum ersten Mal in Druck gaben, sind bis zum Erscheinen der zweiten Auflage im Jahr 1955 sechzehn Jahre vergangen. In dieser kurzen Zeit ist die Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker auf fast 6000 Gruppen emporgeschossen; die Mitgliederzahl umfaßt weit über 150 000 genesene Alkoholiker.* In jedem der Staaten der USA und in allen Provinzen Kanadas gibt es solche Gruppen. Die AA-Gemeinschaft hat blühende Zweige auf den Britischen Inseln, in den skandinavischen Ländern, in Südafrika, Südamerika, Mexiko, Alaska, Australien und Hawaii. Wenn man alles zusammenzählt, sind in etwa 50 fremden Ländern und Besitztümern der Vereinigten Staaten vielversprechende Anfänge gemacht worden. Solche Anfänge nehmen gerade jetzt in Asien Form an. Viele unserer Freunde stärken unseren Mut und sagen: dies alles ist ja nur erst der Anfang; in ihm stecken die Vorzeichen einer bevorstehenden viel größeren Zukunft. * Zahlenangaben in diesem Vorwort beziehen sich auf den Stand, den die AA-Gemeinschaft 1955 erreicht hatte. Der Funke, der die erste AA-Gruppe entflammen sollte, wurde im Juni 1935 in Akron, Ohio, bei einem Gespräch entzündet, das zwi- schen einem New Yorker Börsenmakler und einem Arzt aus Akron geführt wurde. Sechs Monate zuvor war der Finanzmann durch eine plötzliche seelische Erfahrung von seiner Trunksucht befreit worden. Dies war auf ein Zusammentreffen mit einem befreundeten Alkoholiker erfolgt, der mit den Oxford-Gruppen jener Tage in Berührung gekommen war. Eine andere große Hilfe war dem Makler durch einen New Yorker Spezialarzt in der Behandlung von Alkoholikern zuteil geworden, durch den inzwischen verstorbenen Dr. William D. Silkworth, der heute von den AA-Mitgliedern beinahe wie ein medizinischer Heiliger verehrt wird. Dr. Silkworths Bericht über jene Anfangstage unserer Gemeinschaft erscheint auf den folgenden Seiten. Von diesem Arzt hatte der Makler erfahren, daß Alkoholismus eine lebensgefährliche Krankheit ist. Obwohl der Makler nicht alle Grundsätze der Oxford- Gruppen annehmen konnte, war er doch davon überzeugt, daß eine moralische Inventur notwendig sei, ferner die freimütige Aussprache über die Charakterfehler, die Wiedergutmachung an die Geschädigten, die Hilfsbereitschaft anderen gegenüber sowie der Glaube an Gott und das unbedingte Vertrauen auf Ihn. Vor seiner Reise nach Akron hatte sich der Makler mit vielen Alkoholikern große Mühe gegeben, weil er der Auffassung war, daß nur ein Alkoholiker einem anderen Alkoholiker helfen könne. Der Erfolg dieser Arbeit bestand aber nur darin, daß er selbst nüch- tern geblieben war. Der Finanzmann war auf einer Geschäftsreise nach Akron gekommen. Das Geschäft war fehlgeschlagen. Und nun war bei ihm die große Furcht entstanden, daß er wieder zu trinken anfangen würde. Plötzlich wurde ihm klar, daß er, um sich selber zu retten, die Mitteilung über seine Heilung zu einem anderen Alkoholiker bringen müsse. Jener andere Alkoholiker war eben der Arzt in Akron. Dieser Arzt hatte schon wiederholt seelisch-geistige Methoden erprobt, um mit seinem Alkoholdilemma fertig zu werden. Er war jedoch dabei immer wieder gescheitert. Als der Makler ihm aber die Ansichten des Dr. Silkworth über den Alkoholismus und dessen Hoffnungslosigkeit mitteilte, begann der Chirurg, sich mit einer Willenskonzentration um die seelischen Heilmittel seiner Krankheit zu bemühen, wie er sie vorher nie hatte aufbringen können. Er wurde nüchtern und trank bis zum Augenblick seines Todes im Jahre 1950 keinen Alkohol mehr. Dies schien zu beweisen, daß ein Alkoholiker auf einen anderen eine Einwirkung ausüben konnte, wie es Nichtalkoholiker niemals fertigbrachten. Aber es zeigte auch, daß ein intensives Bemühen des einen Alkoholikers um den anderen für die dauernde Genesung lebensnotwendig war. Von diesem Augenblick an arbeiteten die beiden Männer fast wie besessen mit Alkoholikern, die in die entsprechende Abteilung des Städtischen Krankenhauses in Akron kamen. Ihr allererster, ein wirklich verzweifelter Fall, genas sofort und wurde das AA-Mit- glied Nummer drei. Er hat nie mehr einen Schluck Alkohol getrun- ken. Diese Arbeit in Akron dauerte den ganzen Sommer 1935 hin durch. Es gab auch viele Fehlschläge. Aber gelegentlich kam es doch zu einem ermutigenden Erfolg. Als der Makler im Herbst 1935 wieder nach New York zurückkehrte, war tatsächlich die erste AA Gruppe entstanden, obwohl das um jene Zeit noch niemand so recht wahrnahm. Gegen Ende 1937 war die Zahl der Mitglieder, die schon eine be- trächtliche Zeit ihrer Nüchternheit erfolgreich bestanden hatten, so groß, daß die Gemeinschaft davon überzeugt war: jetzt ist ein neues Licht in der finsteren Welt des Alkoholikers aufgegangen. Eine zweite Gruppe hatte sich in New York gebildet. Außerdem gab es verstreut wohnende einzelne Alkoholiker, welche die grundlegenden Ideen in Akron oder in New York erfaßt hatten und nun versuchten, in anderen Städten Gruppen zu bilden. Nun war nach der Meinung der um ihre Existenz ringenden Gruppen die Zeit gekommen, daß sie ihre Kunde und einzigartige Erfahrung der Welt zur Kenntnis brachten. Im Frühjahr des Jahres 1939 trug dieser Entschluß seine Frucht in der Veröffentlichung dieses Buches. Damals war die Mitgliederzahl auf etwa 100 Männer und Frauen gestiegen. Diese flügge gewordene Gemeinschaft, die bis dahin ohne Namen gewesen war, wurde von jetzt ab nach dem Titel ihres eigenen Buches "Anonyme Alkoholiker" genannt. Die Zeit des Blindfliegens war zu Ende: Die Anonymen Alkoholiker traten in eine neue Phase ihrer Pionierzeit ein. Mit dem Erscheinen des neuen Buches nahmen viele Ereignisse ihren Anfang. Der bekannte Geistliche Dr. Harry Emerson Fosdick besprach das Buch mit warmer Zustimmung. Im Herbst 1939 druckte der damalige Herausgeber der Zeitschrift "Liberty", Fulton Oursler, in seiner Zeitschrift einen Teil daraus ab unter der Überschrift "Alkoholiker und Gott". Das brachte eine Flut von 800 dringenden Anfragen in das kleine Büro in New York, das inzwischen eingerichtet worden war. Jede Anfrage wurde mit gewissenhafter Gründlichkeit beantwortet, Broschüren und Bücher wurden versandt. Mitglieder bestehender Gruppen, die als Geschäftsleute viel unterwegs waren, wurden auf diese zukünftigen Neulinge aufmerksam gemacht. Neue Gruppen entstanden. Und man entdeckte zum Erstaunen von jedermann, daß man die Kunde von AA ebenso durch die Post wie durch das gesprochene Wort übermitteln konnte. Ende 1939 schätzte man, daß 800 Alkoholiker auf ihrem Weg zur Genesung waren. Im Frühjahr des Jahres 1940 gab John D. Rockefeller für viele seiner Freunde einen Empfang, zu welchem er AA-Mitglieder einlud, damit sie dort ihre Lebensgeschichte erzählten. Die Nachricht hiervon ging durch die Kabel der Welt. Wieder gingen Erkundigungen ein, und viele Menschen gingen zu den Buchläden, um das Buch "Anonyme Alkoholiker" zu kaufen. Im März 1941 war die Mitgliederzahl auf 2000 angewachsen. Dann schrieb Jack Alexander einen Artikel in der "Saturday Evening Post" und stellte vor das allgemeine Publikum ein so überzeugendes Bild von der AA Gemeinschaft hin, daß uns die Hilferufe von Alkoholikern geradezu überschwemmten. Gegen Ende 1941 zählte man 8000 Mitglieder. Nun schossen überall die AA-Gruppen wie Pilze aus dem Boden. AA war zu einer festen Einrichtung in der amerikanischen Nation geworden. Damit trat unsere Gemeinschaft in ihre gefährliche und aufregende Periode der Entwicklungsjahre ein. Sie mußte die folgende Probe bestehen: Konnten diese großen Massen von Alkoholikern, die eben noch ein völlig ungeordnetes Leben geführt hatten, erfolgreiche Gemeinschaften miteinander bilden und zusammenarbeiten? Würde es Streitigkeiten über die Mitgliedschaft, die Leitung und das Geld geben? Würde es zu Kämpfen um Macht und Vorherrschaft kommen? Würden Spaltungen eintreten, welche die AA-Gemeinschaft wieder auseinanderrissen? Bald traten gerade diese Probleme überall und in jeder Gruppe auf. Jedoch erwuchs aus dieser Erfahrung mit ihren Sorgen und Zerreißproben die Überzeugung: Entweder müssen die Anonymen Alkoholiker eng zusammenhalten, oder sie werden einzeln zugrunde gehen. Entweder mußten wir unsere Gemeinschaft zu einer Einheit zusammenschließen oder die Bühne der Geschichte verlassen. So wie wir die Grundsätze entdeckt hatten, nach denen der einzelne Alkoholiker sein Leben gestalten konnte, so mußten wir auch jene Regeln entwickeln, nach welchen die AA-Gruppen und die AA-Gemeinschaft als Ganzes am Leben bleiben und wirkungsfähig funktionieren konnten. Man kam zu der Überzeugung, daß man keinen Alkoholiker, keinen Mann und keine Frau, aus unserer Gemeinschaft ausschließen durfte. Unsere Leiter müßten dienen, sie dürften aber nie regieren. Jede Gruppe mußte völlig selbständig sein. Es dürfte bei uns keine hauptberuflich tätigen Therapeuten geben. Außerdem dürfte es keine Mitglieds- und andere Pflichtbeiträge geben. Unsere Aufgaben müßten durch unsere eigenen freiwilligen Beiträge gedeckt werden. Überhaupt sollte man selbst in unseren Zentralbüros mit einer möglichst geringen Organisation auskommen. Unsere Beziehungen zur Öffentlichkeit sollten eher auf Anziehung als auf Werbung gegründet sein. Es wurde die Entscheidung getroffen, daß alle Mitglieder auf der Ebene von Presse, Radio, Fernsehen und Film anonym bleiben müßten. Und wir dürften unter keinen Umständen Stellungnahmen abgeben, unseren Namen für andere Bestrebungen hergeben, Bündnisse mit ihnen eingehen oder uns in öffentliche Auseinandersetzungen verwickeln lassen. Das war der wesentliche Inhalt der "Zwölf Traditionen" der Anony- men Alkoholiker, die im Anhang dieses Buches ausführlich behandelt werden. Obwohl keiner dieser Grundsätze die Kraft von Vorschriften oder Gesetzen besaß, waren sie doch um 1950 so weithin angenommen, daß sie von unserer Ersten Internationalen Konferenz in Cleveland bestätigt wurden. Heute ist diese bemerkenswerte Einigkeit in der AA-Gemeinschaft einer der allerwichtigsten Aktivposten, den wir haben. Im selben Maß wie die inneren Schwierigkeiten unserer Reifejahre allmählich ausgebügelt wurden, nahm die Öffentlichkeit die Anony- men Alkoholiker mit einer stürmisch wachsenden Freundlichkeit an. Dafür gab es zwei Hauptgründe: die große Zahl der Genesungen und die wiedervereinigten Familien. Diese machten überall einen star- ken Eindruck. Von den Alkoholikern, die zu den AA kamen und einen ernsthaften Versuch damit machten, wurden 50 Prozent nüchtern und blieben es auch; 25 Prozent wurden erst nach verschiedenen Rück fällen nüchtern; und von den restlichen 25 Prozent erfuhren die, die weiter bei den AA blieben, eine Besserung ihrer Krankheit. Weitere Tausende nahmen an ein paar AA-Meetings teil und lehnten das Programm zunächst ab. Aber auch von diesen kamen zahlreiche, ungefähr zwei von dreien, im Laufe der Zeit wieder zurück. Ein weiterer Grund dafür, daß die AA-Gemeinschaft so weithin angenommen wurde, war die Hilfe unserer Freunde - der Freunde aus dem Bereich der Medizin, der Religion, der Presse, zusammen mit zahllosen anderen, die unsere sachkundigen ständigen Fürsprecher wurden. Ohne eine solche Unterstützung hätte die Gemeinschaft sich viel langsamer entwickelt. Im Anhang dieses Buches findet man manche Empfehlungen von jenen frühen medizinischen und theologischen Freunden der Anonymen Alkoholiker. Die AA-Gemeinschaft ist keine religiöse Organisation. Auch nehmen wir keinen speziellen medizinischen Standpunkt ein. Trotzdem arbeiten wir mit den Männern der Medizin und Religion eng zusam- men. Da der Alkoholismus jeden ohne Ansehen seiner Person befallen kann, stellen unsere Mitglieder einen genauen Querschnitt durch die Bevölkerung von Amerika dar; und derselbe Prozeß geht nun auch in fernen Ländern vor sich. Nach der Religionszugehörigkeit haben wir unter uns: Katholiken, Protestanten, Juden, Hindus und -in geringer Zahl- auch Moslems und Buddhisten. Mehr als 15 Prozent unserer Mitglieder sind Frauen. Unsere Mitgliederzahlen wachsen gegenwärtig in jedem Jahr um etwa sieben Prozent. Angesichts der Not von vielen Millionen tatsächlicher und möglicher Alkoholiker in der Welt ist unser Wirken von relativ geringem Einfluß. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden wir auch nie in der Lage sein, uns mit mehr als nur einem Bruchteil des gesamten Alkoholproblems in allen seinen Verzweigungen zu befassen. Ganz gewiß beanspruchen wir kein Monopol auf die eigentliche Therapie des Alkoholikers. Doch erfüllt uns die große Hoffnung, daß alle diejenigen, die bisher noch keine Lösung ihres Alkoholproblems gefunden haben, auf den Seiten dieses Buches vielleicht eine Antwort finden und daß sie sich uns auf dem Höhenweg zu einer neuen Freiheit anschließen mögen. Vorwort zur dritten Auflage des amerikanischen Buches Als diese Ausgabe im März 1976 in die Druckerei ging, zählte die Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker vorsichtig geschätzt welt- weit über eine Million Mitglieder, mit über 28 000 Meetingsgruppen, 1980 mehr als 33 000, in über 90 Ländern. Umfragen unter AA-Gruppen in den Vereinigten Staaten und in Kanada haben ergeben, daß es in der Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker nicht nur mehr Mitglieder gibt, sondern daß sich die AA immer mehr verbreitet. Frauen stellen jetzt mehr als ein Viertel der Mitglieder. Unter den neuen Mitgliedern liegt der Anteil der Frauen bei einem Drittel. Sieben Prozent -das ergab die Umfrage- sind unter dreißig Jahre alt, viele davon unter zwanzig. 1980 stellten die Frauen ein Drittel der Mitglieder; elf Prozent waren unter dreißig Jahre alt. Die Grundsätze des AA-Programms, so scheint es, gelten für Men- schen mit den unterschiedlichsten Lebensarten, hat doch das Pro- gramm Genesung für Angehörige der verschiedensten Nationalitäten gebracht. Die Zwölf Schritte, sie sind die Zusammenfassung des Programms, können in einem Land "Doce Pasos", im anderen "Douze Etapes" heißen, sie folgen jedoch dem gleichen Pfad zur Genesung, der von den ersten Mitgliedern der Anonymen Alkoholiker markiert worden ist. Ungeachtet des großen Wachstums und der Spannweite der Gemein- schaft, ist das Programm in seinem Kern einfach und persönlich. Alle Tage, überall in der Welt, beginnt die Genesung des einen Alkoholikers durch das Gespräch mit einem anderen Alkoholiker, indem die Erfahrung, die Kraft und die Hoffnung geteilt wird. Die Meinung des Arztes Wir Anonymen Alkoholiker glauben, daß der Leser interessiert sein wird zu erfahren, wie die Medizin den Genesungsplan einschätzt, der in diesem Buch dargestellt wird. Ganz gewiß muß eine überzeu- gende Beurteilung von seiten jener Ärzte kommen, die ihre Erfah- rung mit den Leiden unserer Mitglieder gemacht und deren Rückkehr zu einem gesunden Leben beobachtet haben. Ein wohlbekannter Arzt, Direktor an einem in Amerika weithin bekannten Krankenhaus, das sich auf Alkohol- und Rauschgiftsüchtige spezialisiert, richtete an Anonyme Alkoholiker den folgenden Brief: An jeden, den es betrifft: "Seit vielen Jahren habe ich mich auf die Behandlung des Alkoho- lismus spezialisiert. Gegen Ende 1934 behandelte ich einen Patienten, der zwar einst ein erfolgreicher Geschäftsmann mit hoher Erwerbskraft gewesen, aber nun zum Alkoholiker von dem Typ geworden war, den ich als hoffnungslos zu betrachten pflegte. Im Verlauf seiner dritten Behandlung machte er sich gewisse Vor- stellungen davon, durch welche Mittel man möglicherweise zur Genesung gelangen könnte. Es war ein Teil seiner eigenen Wieder- herstellung, daß er damit begann, seine Auffassung anderen Alkoholikern mitzuteilen, und ihnen einprägte, sie müßten dies genauso wieder mit anderen machen. Daraus ist das Fundament einer rapide wachsenden Gemeinschaft zwischen diesen Männern und ihren Familien geworden. Es sieht so aus, als ob dieser Mann und mehr als hundert andere wirklich genesen sind. Ich persönlich weiß um eine große Zahl von Fällen dieser Art, bei der andere Methoden völlig versagt hatten. Diese Tatsachen scheinen mir für die Medizin äußerst wichtig zu sein. Wegen der außerordentlichen Möglichkeiten zu einem raschen Wachsen, die in dieser Gruppe liegen, könnte sie eine neue Epoche in den Annalen des Alkoholismus bedeuten. Es könnte sehr wohl sein, daß diese Leute einen Weg zur Genesung für Tausende besit- zen, die sich in der gleichen Situation befinden. Man kann sich absolut auf all das verlassen, was sie über sich selbst aussagen." Ihr ergebener gez. William D. Silkworth, M.D. Der Arzt, der uns auf unsere Bitten diesen Brief gab, hatte die Freundlichkeit, seine Absichten in einem anderen Dokument weiter auszuführen, das hier folgt. Er bestätigte in dieser Darstellung, daß wir, die unter den Qualen des Alkoholismus gelitten haben, davon überzeugt sein müssen, daß die körperliche Verfassung des Alkoholikers genauso anomal ist wie seine geistige. Wir waren damit nicht zufrieden, daß man uns sagte, wir könnten deshalb unser Trinken nicht beherrschen, weil wir uns nicht richtig an unsere Lebensverhältnisse anpassen könnten, daß wir immer auf der Flucht vor der Wirklichkeit des Lebens seien oder daß wir an ausgesprochenen seelischen Defekten litten. Diese Dinge waren bis zu einem gewissen Grad -tatsächlich sogar bis zu einem beträchtlichen Grad- bei manchen von uns wahr. Wir waren aber auch davon überzeugt, daß unser Körper von der Krankheit gleichfalls betroffen war. Nach unserer Überzeugung ist jede Darstellung des Alkoholikers, die diesen körperlichen Aspekt außer acht läßt, unvollständig. Die Theorie des Arztes, daß wir an einer Allergie gegenüber dem Alkohol leiden, interessiert uns. Da wir Laien sind, mag unsere Auffassung von der Richtigkeit dieser Theorie natürlich wenig Bedeutung haben. Als ehemalige Problemtrinker können wir aber sagen, daß diese Erklärung uns sinnvoll erscheint. Sie gibt uns für viele Dinge eine Deutung, für die wir anders keine Begründung finden könnten. Obwohl unsere Lösung auf der Ebene des Seelischen und der Uneigennützigkeit liegt, sind wir doch dafür, daß der Alkoholiker, der noch zittrig und verwirrt ist, in ein Krankenhaus aufgenommen wird. In den allermeisten Fällen ist es notwendig, daß das Gehirn eines Menschen erst wieder klar gemacht wird, bevor man sich ihm nähern kann. Die Aussichten, daß er versteht und annimmt, was wir ihm anbieten, sind dann viel größer. Der Arzt schreibt: "Das Thema, das in diesem Buch dargestellt wird, scheint mir für die, welche unter der Alkoholsucht leiden, von allerhöchster Bedeutung zu sein. Ich sage das nach einer vieljährigen Erfahrung als der medizi- nische Direktor eines der ältesten Krankenhäuser des Landes, das Alkohol- und Rauschgiftsüchtige behandelt. Ich empfand darum eine wirkliche Genugtuung, als ich gebeten wurde, einige Worte über einen Gegenstand beizufügen, der in so meisterhafter und eingehender Weise auf diesen Seiten behandelt wird. Wir Ärzte haben schon seit langer Zeit erkannt, daß eine Art moralischer Psychologie für die Alkoholiker von drängender Wichtigkeit war. Diese Anwendung brachte aber Schwierigkeiten mit sich, die zu überwinden weit über unser Vermögen ging. Mit unseren ultra-modernen Ausrüstungen und unserer wissenschaftlichen Einstellung allem gegenüber sind wir vielleicht nicht gut genug ausgerüstet, die Mächte des Guten anzuwenden, die außerhalb erlernter Erkenntnisse liegen. Vor vielen Jahren kam einer der maßgeblichen Mitverfasser dieses Buches in dieses Krankenhaus und in unsere Behandlung. Während der Zeit, da er hier war, gewann er einige Auffassungen, die er dann sofort praktisch zur Anwendung brachte. Später bat er dann um die Erlaubnis, daß er hier anderen Patienten seine Geschichte erzählen durfte. Trotz einiger Bedenken haben wir unsere Zustimmung dazu gegeben. Die Fälle, die wir dann weiter verfolgt haben, waren außerordentlich interessant. Manche von ihnen waren tatsächlich erstaunlich. Für jemand, der so lang und mühsam auf dem Gebiet des Alkoholismus gearbeitet hat, sind dies wahrhaft begeisternde Dinge: die Selbstlosigkeit dieser Männern, die wir dabei beobachten konnten, das völlige Fehlen eines eigennützigen Beweggrundes und ihr Gemeinschaftsgeist. Sie glauben an ihre Sache, mehr aber noch an jene Macht, die einen chronischen Alkoholiker von den Pforten des Todes zurück reißen kann. Natürlich muß man einen Alkoholiker zuerst von seiner körperlichen Sucht nach dem berauschenden Getränk befreien. Das erfordert oft eine systematische Krankenhausbehandlung, ehe er von psychologischen Maßnahmen den größtmöglichen Nutzen haben kann. Wir glauben -und wir haben dies auch vor einigen Jahren als Vermutung vorgetragen- daß die Wirkung des Alkohols bei diesen chronischen Alkoholikern eine Allergie auslöst; denn das Phänomen der Sucht ist auf diese Gruppe begrenzt und kommt beim durchschnittlichen maßvollen Trinker nie vor. Diese allergischen Typen können niemals mehr Alkohol in irgendeiner Form ohne Gefahr zu sich nehmen. Wenn sich die Gewohnheit bei ihnen erst einmal herausgebildet hat und wenn offenbar geworden ist, daß sie nicht aufhören können, wenn sie ihr Vertrauen zu sich und den Mitmenschen verloren haben, dann häufen sich die Probleme und werden in erschreckendem Maße immer unlösbarer. Wortreiche, aber inhaltsarme Appelle richten da selten etwas aus. Wenn man etwas sagen will, was das Interesse dieser Alkoholiker wecken und wachhalten soll, dann muß es Tiefe und Gewicht haben. Wenn die Alkoholiker ihr Leben völlig umkrempeln sollen, dann müssen ihre Ideale in den allermeisten Fällen in einer Macht wurzeln, die größer ist als sie selbst. Sollte jemand das Gefühl haben, daß wir Psychiater, die ein Kran- kenhaus für Alkoholiker zu leiten haben, mit einer solchen Äußerung sentimental erscheinen, dann möge er einmal eine Zeitlang mit uns vorn an der Front stehen, sich die Tragödien, die verzweifelten Frauen und die kleinen Kinder anschauen. Die Überwindung dieser Nöte sollte für ihn zum Teil seiner täglichen Arbeit werden und ihm auch in der Nacht noch seinen Schlaf rauben. Dann wird sich auch der zynischste Kritiker nicht mehr darüber wundern, daß wir diese Gemeinschaft angenommen und ermutigt haben. Langjährige Erfahrung bestärkt uns in der Ansicht, daß nichts zur Rehabilitation dieser Männer in höherem Maße beigetragen hat als die selbstlose Bewegung, die jetzt unter ihnen selbst im Wachsen begriffen ist. Die Wirkung, die der Alkohol hervorruft, ist für Männer und Frauen der wesentliche Grund zum Trinken. Obwohl sie zugeben, daß sie sich schaden, ist die vom Alkohol beeinflußte Wahrnehmung so vage, daß nach einer gewissen Zeit Wahres von Falschem nicht mehr unterschieden werden kann. Für diese Männer und Frauen erscheint dann ihr alkoholisches Leben allein als das normale. Sie sind ruhelos, reizbar, unzufrieden, bis sie erneut das Gefühl von Erleichterung und Behaglichkeit bekommen, das sofort nach einigen Gläsern Alkohol über sie kommt - Alkohol, den sie andere Menschen völlig ungestraft zu sich nehmen sehen. Nachdem sie aber wieder, wie so viele Alkoholiker, diesem Begehren erlegen sind und in dem Maße, wie sich in ihnen die Erscheinungsform der Sucht entwickelt- gehen sie durch die bekannten Stadien einer Sauftour hindurch, aus der sie dann voller Reue wieder auftauchen mit dem festen Entschluß, nie wieder zu trinken. Das wiederholt sich nun immer und immer wieder. Und wenn ein solcher Mensch dann nicht die Erfahrung einer völligen psychischen Umwandlung machen kann, besteht sehr wenig Hoffnung darauf, daß er zur Genesung kommt. Andererseits findet sich -so seltsam dieser Vorgang denen er scheint, die ihn nicht verstehen- genau dieselbe Person, die völlig verloren zu sein schien, die so viele Probleme hatte, daß sie daran verzweifelte, sie überhaupt je lösen zu können, sobald einmal diese psychische Umwandlung stattfand, plötzlich ganz leicht dazu imstande, ihr Verlangen nach Alkohol zu beherrschen. Die einzige dazu nötige Anstrengung besteht darin, daß man von ihr das Befolgen einiger einfacher Regeln verlangt. Männer haben mich mit ebenso ehrlichem wie verzweifeltem Flehen bedrängt: "Doktor, ich kann so nicht mehr weitermachen. Ich besitze alles, was das Leben wertvoll macht. Ich muß mit dem Trinken aufhören, aber ich bringe es nicht fertig. Sie müssen mir helfen." Wenn ein Arzt diesem Problem gegenübersteht und wenn er sich selbst gegenüber ehrlich ist, wie sehr muß er da so oft seine eigene Unzulänglichkeit fühlen. Und wenn er auch alles hergibt, was er in sich hat, so ist es doch oft nicht genug. Da merkt man, daß man etwas mehr als nur die menschliche Kraft braucht, um die entscheidende psychische Umwandlung zustandezubringen. Obwohl die Gesamtsumme der Genesungen, die durch psychatrisches Bemühen bewirkt wird, beträchtlich ist, müssen wir Ärzte doch zugeben, daß wir auf die Lösung des Gesamtproblems eine noch recht geringe Einwirkung zustandebringen. Viele Typen von Alkoholikern sprechen auf die gewöhnliche psychologische Methode nicht an. Ich stehe nicht auf der Seite derer, die glauben, daß der Alkoho- lismus ganz und gar ein Problem der verstandesmäßigen Kontrolle ist. Ich habe viele Patienten gehabt, die zum Beispiel eine ganze Reihe von Monaten an der Lösung eines bestimmten Problems oder an einem geschäftlichen Unternehmen gearbeitet hatten, die bis zu einem gewissen ihnen günstigen Datum in Ordnung gebracht werden mußten. Sie tranken etwa einen Tag vor diesem Datum ein Glas, und das Phänomen ihrer Sucht trat wieder so sehr in den Vordergrund und verdrängte alle anderen Interessen, daß sie die wichtige Verabredung nicht einhalten konnten. Diese Leute tranken wirklich nicht, um zu fliehen; sie tranken, um ein Begehren zu überwinden, das sie mit ihrer verstandesmäßigen Kontrolle nicht beherrschen konnten. Das Suchtverlangen bringt Menschen in Situationen, in denen sie bereit sind, eher alles zu opfern, als weiter gegen die Sucht zu kämpfen. Die Einteilung der Alkoholiker in bestimmte Klassen scheint höchst schwierig zu sein und liegt im einzelnen auch außerhalb der Absicht dieses Buches. Unter Alkoholikern gibt es natürlich die Psychopathen, die in ihrem Gefühlsleben labil sind. Dieser Typ ist uns allen bekannt. Sie schwören ständig dem Alkohol auf ewig ab und quälen sich mit Schuldgefühlen. Sie fassen viele Entschließungen, sie treffen aber nie eine Entscheidung. Dann gibt es den Typ des Menschen, der einfach nicht zugeben will, daß er kein Glas vertragen kann. Er plant immer neue Trinkmethoden. Er verändert seine Alkoholsorte oder seine Umgebung. Dann gibt es den Typ, der immer noch meint, er könne ohne Gefahr wieder trinken, nachdem er eine gewisse Zeit völlig frei vom Alkohol gewesen war. Und es gibt den manisch depressiven Typ, der von seinen Freunden vielleicht am wenigsten verstanden wird und über den ein ganzes Kapitel geschrieben werden könnte. Und dann gibt es wieder jene Typen, die eigentlich in jeder Beziehung normal sind, wenn man von der Wirkung absieht, die der Alkohol auf sie ausübt. Oft sind sie fähige, intelligente und liebenswürdige Menschen. Sie alle -und noch viele andere- haben ein einziges Symptom mit einander gemeinsam: Sie können nicht anfangen zu trinken, ohne daß sie die Erscheinungsform der Sucht entwickeln. Wir haben die Vermutung ausgesprochen, daß diese Erscheinung der Sucht auf eine Allergie hinweist, welche diese Leute von den anderen Menschen unterscheidet und sie zu einer besonderen Gruppe macht. Noch nie ist diese Veranlagung durch irgendeine Behandlungsart, die mir bekannt geworden ist, auf die Dauer beseitigt worden. Als die einzige Abhilfe können wir nur zur vollkommenen Enthaltung vom Alkohol raten. Aber diese Feststellung stürzt uns sofort in einen brodelnden Kessel von Diskussionen. Viel ist für und wider geschrieben worden. Unter den Ärzten scheint sich jedoch als die allgemeine Meinung durchgesetzt zu haben, daß der chronische Alkoholismus unheilbar ist. Wo aber gibt es eine Lösung? Vielleicht kann ich diese Frage am besten beantworten, indem ich über eine meiner Erfahrungen berichte. Etwa ein Jahr, bevor ich diese Erfahrung machte, wurde uns ein Mann eingeliefert, den wir wegen chronischem Alkoholismus behandeln sollten. Er hatte sich nur teilweise von einem Magenbluten erholt und schien überdies ein Fall von pathologischem geistigen Zerfall zu sein. Er hatte alles verloren, was das Leben lebenswert macht, und er lebte sozusagen nur noch, um zu trinken. Er gab das freimütig zu und glaubte auch selbst, daß es für ihn keine Hoffnung mehr gab. Nachdem man ihm den Alkohol entzogen hatte, fand man, daß keine dauernde Schädigung des Gehirns vorlag. Er nahm den Lebensplan auf sich, der in diesem Buch dargestellt wird. Ein Jahr später rief er mich an und kündigte seinen Besuch an. Und da hatte ich ein ganz eigenartiges Erlebnis. Ich erinnerte mich an den Namen des Mannes und erkannte auch einigermaßen seine Gesichtszüge wieder. Aber damit hörte auch alle Ähnlichkeit auf. Aus jenem zitternden, verzweifelten nervösen Wrack war ein neuer Mensch geworden, der nur so überströmte von Selbstvertrauen und Zufriedenheit. Ich sprach eine Zeitlang mit ihm. Ich konnte aber einfach in mir das Gefühl nicht mehr wachrufen, daß ich ihn früher gekannt hatte. Für mich war er ein Fremder, und als ein solcher verließ er mich auch. Eine lange Zeit ohne Alkohol lag zwischen unseren Begegnungen. Wenn ich eine geistige Aufmunterung brauche, dann denke ich oft an einen anderen Fall, der uns von einem in New York sehr bekannten Arzt überwiesen worden war. Der Patient hatte sich seine eigene Diagnose gestellt. Weil er von der Hoffnungslosigkeit seiner Lage überzeugt war, hatte er sich in einem verlassenen Schuppen versteckt und war entschlossen, dort zu sterben. Einige Leute, die nach ihm fahndeten, hatten ihn gerettet und in einem entsetzlichen Zustand zu mir gebracht. Nachdem er körperlich wieder hergestellt war, hatte er ein Gespräch mit mir, in dem er frei heraus sagte, jede Behandlung sei nur eine Kraftvergeudung, wenn ich ihm nicht die Versicherung geben könne - was noch nie jemand habe tun können-, daß er in Zukunft die Willenskraft besitzen werde, seinem Drang zum Trinken zu widerstehen. Sein Alkoholproblem war so vielschichtig und seine Depression war so tief, daß wir fühlten, seine einzige Hoffnung läge nur noch in dem, was wir damals eine "moralische Psychologie" nannten; wir zweifelten aber daran, daß selbst dies eine Wirkung auf ihn ausüben würde. Immerhin ließ er sich völlig von den Gedanken überzeugen, die in diesem Buch enthalten sind. Seit einer langen Reihe von Jahren hat er kein einziges Glas mehr getrunken. Dann und wann sehe ich ihn; er ist ein Mensch von so feiner Art geworden, wie man sie immer gern sehen möchte. So rate ich jedem Alkoholiker ernstlich, dieses Buch durchzulesen. Er mag als Spötter mit dem Lesen anfangen, vielleicht endet er mit einem Gebet." William D. Silkworth, M.D. Kapitel 1 Bills Geschichte Auch die Stadt in New England, in die wir jungen Offiziere von Plattsburg aus verlegt wurden, war vom Kriegstaumel erfaßt. Wir fühlten uns geschmeichelt, wenn uns angesehene Bürger in ihre Häuser einluden und uns das Gefühl gaben, Helden zu sein. Hier spürten wir mitten im Krieg Zuneigung und Anerkennung. Es waren erhabene Momente, und manchmal waren wir auch richtig ausgelassen und fröhlich. - Endlich ging das Leben nicht mehr an mir vorbei. In diesem Drunter und Drüber entdeckte ich den Alkohol. Eindringliche Warnungen und Vorurteile meiner Familie gegen das Trinken waren vergessen. - Kurz darauf waren wir auf dem Weg nach Europa. Ich fühlte mich sehr einsam und wandte mich wieder dem Alkohol zu. Wir landeten in England. Ich besuchte Winchester Cathedral. Ich war davon sehr beeindruckt. Als ich draußen herumschlenderte, erweckte ein Vers auf einem alten Grabstein meine Aufmerksamkeit: "Hier liegt ein Hampshire Grenadier, der trank zu Tod sich, ach, mit zuviel Krügen kühlem Bier. Gedenken folgt dem Kriegsmann nach, ob ihn der grimm'ge Tod erschlug durch Kugel oder Krug." Eine Warnung, die ich in den Wind schlug. Mit zweiundzwanzig Jahren schon Kriegsveteran, kam ich schließlich nach Hause. Ich fühlte mich als Führernatur, denn hatten mir nicht die Männer meiner Einheit gerade das immer wieder bestätigt? Mit meinem Führungstalent wollte ich an die Spitze großer Unternehmen kommen, die ich mit sicherem Geschick leiten würde. Ich belegte einen Abendkursus in Rechtswissenschaften und bekam eine Anstellung als Schadenssachbearbeiter in einer Versicherungsgesellschaft. Das Streben nach Erfolg hatte mich gepackt. Ich würde der Welt zeigen, wie wichtig ich war. Meine Arbeit führte mich zur Wall Street, und nach und nach begann ich, mich für die Börse zu interessieren. Viele verloren Geld - aber einige wurden auch sehr reich dabei. Warum nicht auch ich? Außer mit Jura befaßte ich mich jetzt auch mit Wirtschaftswissenschaften. Da ich schon auf dem Weg zum Alkoholiker war, schaffte ich beinahe meinen Jurakursus nicht. Bei einer der Abschlußprüfungen war ich so betrunken, daß ich weder denken noch schreiben konnte. Obwohl ich noch nicht ständig trank, war meine Frau beunruhigt. In langen Gesprächen versuchte ich, sie zu beruhigen, indem ich ihr erzählte, daß geniale Männer ihre besten Einfälle im Suff hatten und so zu höchsten philosophischen Erkenntnissen gekommen waren. Als ich den Kursus in Rechtswissenschaft beendet hatte, wußte ich, daß Jura nichts für mich war. Ich war in das Mahlwerk der Wall Street geraten. Wirtschafts- und Finanzbosse waren meine Vorbilder. Aus dieser Verbindung von Suff und Spekulationen begann ich die Waffe zu schmieden, die sich eines Tages wie ein Bumerang gegen mich richten und mich kaputtmachen würde. Meine Frau und ich lebten bescheiden und sparten 1000 Dollar. Wir legten das Geld in Wertpapieren an, die damals billig und kaum gefragt waren. Meine Vermutung, daß sie eines Tages im Kurs erheblich steigen würden, bestätigte sich später. Ich konnte Maklerfreunde jedoch nicht dazu bewegen, mich loszuschicken, um einen Überblick über Fabriken und Unternehmen zu gewinnen. Aber meine Frau und ich beschlossen, es trotzdem zu tun. Nach einer von mir entwickelten Theorie verloren die meisten Leute ihr Geld an der Börse durch Unkenntnis des Marktes. Später entdeckte ich noch viele andere Gründe dafür. Wir gaben unsere Stellungen auf, und ab ging's auf dem Motorrad, den Beiwagen vollgestopft mit Zelt, Decken, Kleidern zum Wechseln und drei großen Handbüchern des Finanzmarktes. Unsere Freunde meinten, man sollte uns auf unseren Geisteszustand untersuchen. Vielleicht hatten sie recht. Da ich einigen Erfolg beim Spekulieren gehabt hatte, besaßen wir etwas Geld. Um unser kleines Kapital nicht angreifen zu müssen, arbeiteten wir einen Monat auf einer Farm. Für lange Zeit sollte das für mich die letzte ehrliche, körperliche Arbeit gewesen sein. Wir bereisten den ganzen östlichen Teil der Vereinigten Staaten in einem Jahr. Am Ende verschafften mir meine Berichte an die Wall Street dort eine neue Stellung, und ich hatte ein hohes Spesenkonto zur Verfügung. Ein Termingeschäft brachte uns in jenem Jahr Gewinn von mehreren tausend Dollar. In den nächsten paar Jahren flogen mir Geld und Beifall nur so zu. Ich hatte es geschafft. Das Rascheln der Geldscheine brachte viele dazu, meinem Beispiel zu folgen. Der Aufschwung der späten zwanziger Jahre nahm überschäumende Formen an. Alkohol bildete einen wichtigen Bestandteil meines Lebens. In den Jazzlokalen der Stadt wurde hitzig debattiert. Jeder warf mit Tausendern nur so um sich und phantasierte von Millionen. Sollten die Spötter ruhig spotten, mir war's gleich. Ich machte mich zum Gastgeber von Schönwetterfreunden. Mein Trinken nahm ernstere Formen an, ich trank fast den ganzen Tag und beinahe jeden Abend. Die Vorhaltungen meiner Freunde führten zu Streit und machten mich zum Einzelgänger. In unserer aufwendigen Wohnung gab es häßliche Szenen. Meiner Frau war ich nie richtig untreu geworden. Vor Seitensprüngen bewahrte mich die Anhänglichkeit zu ihr und meine zeitweilig extreme Trunkenheit. Im Jahr 1929 packte mich das Goldfieber. Deshalb zogen wir aufs Land. Für meinen Ehrgeiz, den damals berühmten Golfspieler Walter Hagen zu schlagen, erwartete ich den Beifall meiner Frau. Aber der Alkohol holte mich schneller ein, als ich Walter Hagen schlagen konnte. Das morgendliche Zittern begann. Beim Golfspiel war es möglich, von morgens bis abends zu trinken. Es machte mir Spaß, auf dem exklusiven Platz umherzustreifen, der in mir schon solche Ehrfurcht erweckt hatte, als ich noch ein Junge gewesen war. Meine Haut nahm die makellose Bräune der Wohlhabenden an. Mit amüsierter Skepsis beobachtete der örtliche Bankangestellte den regen Ein- und Ausgang meiner dicken Schecks. Ganz unerwartet brach im Oktober 1929 an der New Yorker Börse die Hölle los. Nach einem dieser verteufelten Tage schwankte ich aus einer Hotelbar in ein Maklerbüro. Es war abends acht Uhr, fünf Stunden nachdem die Börse geschlossen hatte. Der automatische Kursanzeiger tickte immer noch. Ich starrte auf einen Papierstreifen mit der Notierung XYZ 32. Am Morgen waren es noch 52 gewesen. Wie so viele meiner Freunde war auch ich ruiniert. Die Zeitungen berichteten, daß Menschen von den hohen Dächern der Finanzburgen in den Tod gesprungen waren. Das widerte mich an. Ich würde nicht springen. Ich ging in die Bar zurück. Seit 10 Uhr morgens hatten meine Freunde mehrere Millionen verloren - na und? Morgen war ein neuer Tag. Beim Trinken kehrte meine alte, verbissene Entschlossenheit zu gewinnen zurück. Am nächsten Morgen rief ich einen Freund in Montreal an. Er hatte genügend Geld übrigbehalten und meinte, es wäre besser, wenn ich nach Kanada ginge. Im Frühjahr des folgenden Jahres lebten wir wieder in unserem altgewohnten Stil. Ich fühlte mich wie Napoleon nach der Rückkehr von Elba. Für mich gab es kein St. Helena. Aber bald trank ich wieder, und mein großzügiger Freund war gezwungen, mich fallenzulassen. Diesmal waren wir endgültig pleite. Wir zogen zu den Eltern meiner Frau. Ich fand Arbeit, die ich jedoch nach einer Schlägerei mit einem Taxifahrer verlor. Gott sei dank konnte damals noch niemand voraussehen, daß ich fünf Jahre lang keinen festen Ar- beitsplatz haben und genauso lange Zeit kaum nüchtern sein würde. Meine Frau nahm eine Stellung in einem Kaufhaus an. Wenn sie abends erschöpft nach Hause kam, fand sie mich betrunken vor. Ich wurde zum unerwünschten Herumtreiber in den Maklerbüros. Alkohol war kein Luxus mehr, er wurde zur Notwendigkeit. Zwei bis drei Flaschen schwarz gebrannter Gin wurden zur Gewohnheit. Kleine Geschäfte brachten hin und wieder einige hundert Dollar, so daß ich meine Schulden in den Bars und Lebensmittelgeschäften bezahlen konnte. So ging es endlos weiter. Ich wachte morgens sehr früh auf und war dabei von heftigem Zittern geschüttelt. Um überhaupt frühstücken zu können, brauchte ich erst ein Wasserglas Gin und ein halbes Dutzend Flaschen Bier. Trotzdem glaubte ich immer noch, die Situation im Griff zu haben. Es gab aber auch nüchterne Phasen, die meiner Frau wieder Hoffnung machten. Nach und nach wurde es schlimmer. Das Haus wurde von Gläubigern übernommen, meine Schwiegermutter starb, meine Frau und mein Schwiegervater wurden krank. Dann bot sich mir eine vielversprechende Gelegenheit, ein Geschäft zu machen. Die Aktien waren auf dem Tiefstand von 1932, und irgendwie gelang es mir, eine Käufergruppe zu bilden. Ich sollte großzügig am Gewinn beteiligt werden. Die guten Chancen verdarb ich mir durch eine neue Sauftour. Ich wachte auf. Das mußte ein Ende haben. Ich sah ein, daß ich nicht mal mehr ein einziges Glas trinken durfte. Ich war restlos fertig. Früher hatte ich die heiligsten, schriftlichen Versprech- ungen gemacht. Jetzt aber war meine Frau glücklich darüber, daß es mir dieses Mal ernst damit war. Es war mir ernst. Kurz danach kam ich dennoch betrunken nach Hause. Ich hatte mich nicht dagegen gewehrt. Wo waren meine großen Vorsätze geblieben? Ich wußte es einfach nicht. Es war mir auch nicht bewußt geworden. Jemand hatte mir ein Glas zugeschoben, und ich hatte es ausgetrunken. War ich verrückt? Bei so viel Unüberlegtheit schien ich nicht weit davon entfernt zu sein. Ich erneuerte meinen Vorsatz und versuchte es wieder. Nach einiger Zeit wurde das Selbstvertrauen von Überheblichkeit abgelöst. Ich konnte über die Schnapsbrennereien lachen. Jetzt wußte ich, worauf es ankam. Eines Tages betrat ich ein Café, um zu telefonieren. Plötzlich stand ich an der Bar, ohne zu wissen, wie ich dahin gekommen bin. Als mir der Whisky zu Kopf stieg, sagte ich mir, daß ich es das nächste Mal besser machen würde. Jetzt wollte ich mich erst einmal besser fühlen und ließ mich vollaufen. Die Reue, den Schrecken und die Hoffnungslosigkeit am nächsten Morgen werde ich nie vergessen. Der Mut zu kämpfen war weg. Mein Hirn raste unkontrolliert, und ich hatte ein schreckliches Gefühl von drohendem Unheil. Es war noch nicht Tag, und ich wagte kaum, |über die Straße zu gehen aus Angst, zusammenzubrechen und von einem Lieferwagen überfahren zu werden. Eine Kneipe, die die ganze Nacht geöffnet hatte, versorgte mich mit etlichen Glas Bier. Meine verkrampften Nerven kamen schließlich zur Ruhe. Durch eine Morgenzeitung erfuhr ich, daß an der Börse wieder der Teufel los war. In mir auch. Der Börsenmarkt würde sich erholen, ich aber nicht. Das war hart. Sollte ich Schluß machen? Nein - jetzt nicht. Ich war wie benebelt. Gin würde das beheben. Zwei Flaschen und - totales Vergessen. Körper und Geist sind wunderbare Mechanismen. Sie hielten diese Qual noch zwei Jahre aus. In meiner schrecklichen morgendlichen Verfassung vergriff ich mich an dem dünnen Portemonnaie meiner Frau. Dann stand ich wieder einmal schwankend vor einem offenen Fenster oder am Medikamentenschrank, in dem Gift war, und ver- fluchte mich als Schwächling. Durch Ausflüge in die Umgebung versuchten wir, dieser Situation zu entfliehen. Dann kam die Nacht, in der meine körperlichen und geistigen Qualen so höllisch waren, daß ich Angst hatte, durchs geschlossene Fenster zu springen. Irgendwie schaffte ich es, meine Matratze in ein unteres Stockwerk zu zerren, um die Gefahr zu verringern, falls ich plötzlich springen sollte. Ein Arzt kam und gab mir ein starkes Beruhigungsmittel. Am nächsten Tag nahm ich beides, Gin und Beruhigungsmittel. Diese Mischung gab mir bald den Rest. Alle fürchteten um meinen Verstand. Ich auch. Wenn ich trank, konnte ich wenig oder nichts essen. Ich hatte 40 Pfund Untergewicht. Mein Schwager ist Arzt. Mit seiner und meiner Mutter Hilfe wurde ich in ein bekanntes Rehabilitations-Krankenhaus für Alkoholiker gebracht. Durch eine sogenannte Belladonna-Behandlung wurde mein Hirn wieder klar. Hydrotherapie und leichte Gymnastik halfen viel. Doch das Beste war, daß ich einen freundlichen Arzt traf, der mir erklärte, daß ich zwar selbstsüchtig und leichtsinnig gewesen war, aber auch ernsthaft krank, körperlich und geistig. Es erleichterte mich irgendwie, als ich erfuhr, daß Alkoholiker einen erstaunlich geschwächten Willen haben, wenn es darum geht, gegen Alkohol zu kämpfen, obwohl dieser Wille in anderer Beziehung oft stark bleibt. Das erklärte mein unglaubliches Benehmen bei dem verzweifelten Versuch, mit dem Trinken aufzuhören. Da ich nun wußte, wie es um mich stand, keimte neue Hoffnung in mir. Drei oder vier Monate hielt diese Stimmung an. Regelmäßig ging ich in die Stadt und verdiente sogar etwas Geld. Selbsterkenntnis - das war sicherlich die Antwort. Es war nicht die Antwort, denn der gefürchtete Tag kam, an dem ich wieder trank. Mit meiner moralischen und körperlichen Gesundheit ging es rapide bergab. Nach kurzer Zeit war ich wieder im Krankenhaus. Das war das Ende, der Vorhang fiel, so schien es mir. Meiner besorgten und verzweifelten Frau wurde mitgeteilt, daß ich innerhalb eines Jahres entweder durch Herzversagen im Delirium tremens oder durch Gehirnerweichung enden würde. Sie müsse mich bald entweder dem Totengräber oder der Irrenanstalt überlassen. Mir brauchte man das nicht zu sagen. Ich wußte es und begrüßte beinahe den Gedanken. Mein Stolz war aufs tiefste verletzt. Ich, der ich so sehr von mir überzeugt war und von meiner Fähigkeit, Schwierigkeiten zu überwinden, war schließlich in die Ecke gedrängt. Nun sollte ich in die Dunkelheit fallen und mich den endlosen Reihen von Säufern anschließen. Ich dachte an meine arme Frau. Trotz allem waren wir glücklich gewesen. Was würde ich nicht alles geben, um wiedergutzumachen! Damit war es aber jetzt vorbei. Worte können nicht die Einsamkeit und Verzweiflung wiedergeben, die ich im tiefen Morast des Selbstmitleids fand. Treibsand war um mich herum in allen Richtungen. Ich hatte mein Spiel gespielt - und verloren. Der Alkohol war mein Meister. Zitternd verließ ich als gebrochener Mann das Krankenhaus. Furcht ernüchterte mich für kurze Zeit. Dann kam der heimtückische Irrsinn des ersten Glases, und am "Tag der Armee" 1934 war ich wieder voll drin. Alle kamen zu der Überzeugung, daß man mich irgendwo einsperren müsse, oder ich würde elend zugrunde gehen. Wie dunkel ist es doch vor Tagesanbruch. In Wirklichkeit war das der Anfang meiner letzten Saufphase. Bald aber sollte ich in das geschleudert werden, was ich gern als die "vierte Dimension" des Daseins bezeichne. Ich sollte Glück, Frieden und eigene Nützlichkeit kennenlernen in einem neuen Leben, das mit fortschreitender Zeit immer schöner wird. Und das geschah so: Gegen Ende des tristen Novembers saß ich in meiner Küche und trank. Mit einer gewissen Befriedigung dachte ich daran, daß genug Gin im Hause versteckt war, um mich durch die Nacht und über den nächsten Tag zu bringen. Meine Frau arbeitete. Ich überlegte, ob ich es wagen konnte, eine Flasche Gin am Kopfende unseres Bettes zu verstecken. Vor Tagesanbruch würde ich sie brauchen. Meine Überlegungen wurden durch das Telefon unterbrochen. Mit munterer Stimme fragte ein alter Schulfreund, ob er mal rüber kommen könne. Er war nüchtern. Soweit ich mich erinnern konnte, lag es Jahre zurück, daß er in diesem Zustand nach New York gekommen war. Ich war überrascht. Gerüchten zufolge hatte man ihn wegen alkoholischen Irrsinns in eine Klinik eingewiesen. Ich fragte mich, wie er da hatte herauskommen können. Sicher würde er zu Abend essen, und dann könnte ich ganz offen mit ihm trinken. Ohne Rücksicht auf sein Wohlergehen dachte ich nur daran, den Geist früherer Tage heraufzubeschwören. Als Krönung einer Sauftour hatten wir einmal sogar ein Flugzeug gechartert. Sein Kommen war wie eine Oase in dieser trostlosen Wüste sinnlosen Lebens. Das war es - eine Oase! Säufer sind so. Die Tür ging auf, er stand da, frisch rasiert und strahlend. Da war etwas in seinem Blick. Er war auf unerklärliche Weise verändert. Was war geschehen? Ich schob ihm einen Drink zu. Er lehnte ihn ab. Enttäuscht, aber neugierig überlegte ich, was mit dem Kerl geschehen war. Er war nicht mehr er selbst. "Komm, was soll das alles?", fragte ich mit Nachdruck. Er schaute mich offen an. Lächelnd sagte er einfach: "Ich habe meinen Glauben gefunden." Ich war bestürzt. Das war es also. Im vergangenen Sommer ein alkoholischer Spinner und jetzt ein leicht spinnender Glaubensbruder, argwöhnte ich. Er hatte diesen verklärten Blick. Ja, der alte Bursche hatte Feuer gefangen. Lass' ihn schwätzen, meinen Segen hat er! Außerdem würde mein Gin länger halten als sein Predigen. Aber es war kein Geschwätz. Mit einfachen, knappen Worten be- richtete er, wie zwei Männer vor Gericht erschienen waren und den Richter dazu gebracht hatten, seinen Einweisungsbeschluß aufzuhe- ben. Sie hatten von einem einfachen Glaubensgedanken und einem praktischen, zu Aktivität auffordernden Arbeitsprogramm gesprochen. Das war vor zwei Monaten, und das Ergebnis war offensichtlich. Es funktionierte! Er war gekommen, um seine Erfahrungen an mich weiterzugeben - wenn ich Wert darauf legte. Ich war wie vor den Kopf geschlagen, aber dennoch interessiert. Gewiß war ich interessiert. Ich mußte es sein, denn ich war ohne Hoffnung. Er sprach stundenlang. Kindheitserinnerungen tauchten in mir auf. Es war mir, als hörte ich die Stimme des Pfarrers, wenn ich an stillen Sonntagen weit draußen auf den Hügeln saß. Da war dieser Vorschlag zu einem Nüchternheitsgelübde, dem ich nie gefolgt war. Ebenso erinnerte ich mich an den gutmütigen Spott meines Großvaters über die Geistlichkeit und deren Getue, auch daran, daß er darauf beharrte, es gäbe wirklich Musik in den Sphären. Gleichzeitig aber sprach er dem Pfarrer das Recht ab, ihm vorzuschreiben, wie er den Klängen zu lauschen habe. Ich dachte an die Furchtlosigkeit, mit der mein Großvater von all diesen Dingen kurz vor seinem Tode gesprochen hatte. Bei diesen Gedanken, die aus der Vergangenheit auftauchten, hatte ich einen Kloß im Hals. Der Kriegstag in der alten Wingerter Cathedral tauchte wieder auf. Ich hatte immer an eine Macht, größer als ich selbst, geglaubt und hatte mir oft über diese Dinge Gedanken gemacht. Ich war kein Atheist. Tatsächlich gibt es nur wenige Atheisten, denn Atheismus bedeutet blind der seltsamen Theorie zu vertrauen, daß das Universum aus dem Nichts kommt und ziellos in das Nichts rast. Die von mir anerkannten geistigen Größen aus der Chemie, der Astronomie, ja sogar die aus der Abstammungslehre, sprachen von allumfassenden Gesetzen und Kräften, die am Werk waren. Trotz aller gegenteiligen Anzeichen gab es bei mir wenig Zweifel, daß eine machtvolle Absicht und Ordnung allem zugrunde lag. Wie konnte es ohne Geist und Verstand so genaue und unwandelbare Gesetze geben? Ich mußte ganz einfach an einen Geist des Universums glauben, der weder Zeit noch Grenzen kennt. Bis dahin war ich mit meinen Gedanken gekommen. Damit hörte die Gemeinsamkeit zwischen der Geistlichkeit, den Weltreligionen und mir schon auf. Wenn sie von einem Gott sprachen, der mir nahestand, der ein Gott der Liebe, der übermenschlichen Stärke und der Wegweisung war, wurde ich verwirrt, und mein Geist verschloß sich solchen Theorien. Ich war bereit, zuzugestehen, daß Christus ein großer Mann gewesen war, in weitem Abstand gefolgt von denjenigen, die ihn für sich beanspruchen. Seine geistige Lehre hielt ich für ausgezeichnet. Für mich hatte ich das akzeptiert, was mir paßte und bequem war; den Rest beachtete ich nicht. Die Kriege, die Verbrennungen und Grausamkeiten, die durch Religionsstreitigkeiten entfacht worden waren, machten mich krank. Mir kamen ehrliche Zweifel, ob die Religionen den Menschen überhaupt Gutes gebracht hatten. Wenn ich davon ausging, was ich in Europa und danach gesehen hatte, konnte ich von göttlichem Wirken zwischen den Menschen nichts spüren. Hier noch von Brüderlichkeit zu reden, war ein grausamer Witz. Wenn es einen Teufel gab, schien er der Herr der Welt zu sein, und mich hatte er mit Sicherheit in seiner Gewalt. Aber nun saß mein Freund vor mir und erklärte mir geradeheraus, daß Gott für ihn das getan hatte, was er selbst für sich nicht hatte tun können. Sein menschlicher Wille hatte versagt. Ärzte hatten ihn für unheilbar erklärt. Die Gesellschaft war drauf und dran, ihn einzusperren. Wie ich hatte auch er seine totale Niederlage eingestanden. Dann war er tatsächlich wieder von den Toten auferstanden, von einem Abfallhaufen in ein Leben, wie er es besser nie gekannt hatte. Kam diese Kraft aus ihm selbst? Offensichtlich nicht. In ihm war nicht mehr Kraft gewesen als in diesem Augenblick in mir war; und da war gar keine. Das haute mich um. Es dämmerte mir, religiöse Menschen könnten trotz allem recht haben. Hier war etwas im Menschenherzen am Werk, was Unmögliches möglich machte. In dem Moment wurde meine Vorstellung von Wundern drastisch verändert: Weg mit dem alten Hut. Hier saß mir ein Wunder am Küchentisch gegenüber und verkündete große, gute Neuigkeiten. Ich sah, daß mein Freund mehr als eine innerliche Wandlung durch gemacht hatte. Er hatte eine andere Basis. Er wurzelte in neuem Boden. Trotz des lebenden Beispiels meines Freundes blieben in mir Reste meines alten Vorurteils. Das Wort Gott erweckte in mir immer noch eine Art Antipathie. Dieses Gefühl verstärkte sich bei dem Gedan- ken, daß es einen mir nahestehenden Gott geben sollte. Mir lag dieser Gedanke nicht. Für Begriffe wie schöpferische Intelligenz, allumfassender Geist oder Naturgeist konnte ich mich begeistern, aber ich widersetzte mich dem Gedanken an einen Herrscher im Himmel, wie liebevoll seine Herrschaft auch immer sein mochte. Ich habe seither mit einer Menge von Leuten gesprochen, die früher genauso empfunden hatten. Mein Freund machte einen Vorschlag, der mir damals als ein neuer Gedanke erschien. Er sagte: "Warum suchst du dir nicht deinen eigenen Begriff von Gott?" Diese Aufforderung überzeugte mich. Sie ließ den geistigen Eisberg schmelzen, in dessen Schatten ich viele Jahre gelebt und gezittert hatte. Schließlich stand ich im Sonnenlicht. Es kam nur darauf an, bereit zu sein, an eine Macht, größer als ich selbst, zu glauben. Mehr wurde von mir für meinen Anfang nicht gefordert. Ich erkannte, daß von hier aus das Wachstum beginnen konnte. Auf dem Fundament vollständiger Bereitschaft könnte ich das aufbauen, was ich in meinem Freund sah. Würde ich die Bereitschaft haben? Selbstverständlich würde ich. So wurde ich davon überzeugt, daß Gott für uns Menschen da ist, wenn wir ihn wirklich wollen. Endlich sah ich, fühlte ich, glaubte ich. Stolz und Vorurteile fielen wie Schuppen von meinen Augen. Eine neue Welt tat sich auf. Die wirkliche Bedeutung meines Erlebnisses in der Kathedrale ging mir plötzlich auf. Für einen kurzen Augenblick hatte ich Gott gebraucht und gewollt. In mir war eine demütige Bereitschaft, Ihn bei mir zu haben, und Er kam. Aber bald wurde das Gefühl für Seine Gegenwart überdeckt durch laute Geschäftigkeit, vor allem in mir selbst. Und so war es seitdem immer. Wie blind war ich! Den letzten Alkoholentzug machte ich im Krankenhaus. Die Behandlung erschien ratsam, denn ich hatte Anzeichen von Delirium tremens. Dort empfahl ich mich demütig Gott, so wie ich ihn damals verstand, und bat ihn, mit mir zu tun, was er wolle. Ich vertraute mich uneingeschränkt seiner Fürsorge und Leitung an. Zum ersten Mal gab ich zu, daß ich von mir aus nichts war; ohne Ihn war ich verloren. Schonungslos bekannte ich mich zu meinen Sünden und war bereit, sie von diesem neugewonnenen Freund mit Stumpf und Stiel von mir nehmen zu lassen. Seitdem habe ich keinen Alkohol mehr getrunken. Mein Schulfreund besuchte mich, und ich vertraute ihm voll meine Probleme und Mängel an. Wir machten eine Liste von Menschen, die ich verletzt hatte und gegen die ich Groll hegte. Ich erklärte meine völlige Bereitwilligkeit, diesen Leuten meine Fehler einzu- gestehen. Niemals mehr wollte ich sie kritisieren. All diese Dinge mußte ich nach besten Kräften in Ordnung bringen. Ich mußte mein Denken im Licht meiner neuen Gotteserkenntnis überprüfen. Was mir früher als "gesunder Menschenverstand" erschien, war mir jetzt gar nicht mehr so selbstverständlich. Im Zweifel würde ich mich ruhig hinsetzen, Ihn nur um Leitung und Kraft bitten, mich meinen Problemen in Seinem Sinn stellen zu können. Niemals wollte ich etwas für mich selbst erbitten, es sei denn, ich könnte damit anderen nützlich sein. Nur so konnte ich erwarten, etwas zu erhalten. Und das würde in hohem Maße sein. Mein Freund versprach, ich würde in eine neue Beziehung zu meinem Schöpfer treten, wenn diese Dinge getan wären. Ich würde die Grundlagen für eine neue Lebensform erhalten und Antworten auf alle meine Probleme. Die wesentlichen Voraussetzungen waren: Glaube an die Macht Gottes, dazu genug Bereitwilligkeit, Ehrlichkeit und Demut, den Dingen einen neuen Stellenwert zu geben und zu erhalten. Einfach, aber nicht leicht: Ein Preis mußte bezahlt werden. Das bedeutete Zerstörung der Ichbezogenheit. Ich muß mich in allem an den Vater des Lichts wenden, der über uns allen steht. Das waren revolutionäre und einschneidende Vorschläge, aber in dem Augenblick, in dem ich sie voll annahm, hatten sie eine elektrisierende Wirkung. Da war in mir Siegesgefühl, dem Frieden und Gelassenheit folgten, wie ich es vorher nie gekannt habe. Das gab mir unendliches Vertrauen. Ich fühlte mich emporgehoben, wie von einem starken, frischen Bergwind durchweht. Gott offenbart sich den meisten Menschen zögernd. Aber auf mich war sein Wirken schlagartig und tiefgreifend. Für einen Augenblick war ich stark beunruhigt und rief meinen Freund, den Arzt, um ihn zu fragen, ob ich noch bei Verstand sei. Er hörte mir erstaunt zu. Schließlich schüttelte er seinen Kopf und sagte: "Mit dir ist etwas geschehen, was ich nicht verstehe. Aber bleib nur dabei. Besser so als vorher." - Der gute Doktor hat später noch viele Menschen erlebt, die solche Erfahrungen gemacht haben, und er wußte dann, daß es so etwas wirklich gibt. Während ich im Krankenhaus lag, kam mir der Gedanke, daß es Tausende von hoffnungslosen Alkoholikern gab, die glücklich darüber wären, das zu erhalten, was mir so großmütig gegeben worden war. Vielleicht könnte ich einigen von ihnen helfen. Sie wiederum könnten es anderen weitergeben. Mein Freund verwies darauf, wie notwendig es sei, diese Prinzipien allen meinen persönlichen Angelegenheiten zugrunde zu legen. Dazu gehörte vorrangig, mit anderen so zusammenzuarbeiten, wie er es mit mir getan hatte. Glaube ohne Taten sei leblos, sagte er. Wie einleuchtend und wahr für den Alkoholiker! Wenn ein Alkoholiker es versäumte, sein geistiges Leben durch Arbeit und selbstlose Hilfe für andere zu vervollkommnen und zu erweitern, konnte er nicht die mit Sicherheit vor ihm liegenden Versuchungen und Tiefschläge überleben. Wenn er nicht in diesem Sinn arbeitet, wird er bestimmt wieder trinken, und wenn er wieder trinkt, wird er bestimmt sterben. Deshalb ist der Glaube ohne Taten wirklich tot. Und das trifft auf uns ganz sicherlich zu. Meine Frau und ich widmeten uns mit Begeisterung der Aufgabe, anderen Alkoholikern bei der Lösung ihrer Probleme zu helfen. Das traf sich gut. Meine alten Geschäftsfreunde blieben nämlich skep- tisch, so daß ich anderthalb Jahre lang kaum Arbeit fand. Damals ging es mir nicht besonders gut, Wellen von Selbstmitleid und Groll überschwemmten mich. Das trieb mich manchmal fast zum Glas zurück. Bald fand ich heraus: Wenn alle anderen Mittel versagten, konnte ich den Tag retten, indem ich mich um einen anderen Alkoholiker kümmerte. Oft bin ich verzweifelt zu meinem alten Krankenhaus gegangen. Wenn ich mich dort mit jemanden unterhielt, war ich verblüfft, wie schnell ich wieder aufgerichtet und auf die Füße gestellt war. Das ist ein Lebensrezept, das in schwierigen Fällen hilft. Schnell fanden wir viele Freunde. Es bildete sich eine Gemein- schaft, und es ist eine wunderbare Sache, daran teilzuhaben. Wir können uns des Lebens freuen, selbst unter Druck und Schwierigkeiten. Ich habe Hunderte von Familien gesehen, die ihre Füße auf diesen Weg gesetzt haben, der wirklich zu einem Ziel führt. Wir haben gesehen, daß die unmöglichsten häuslichen Verhältnisse wieder in Ordnung kamen. Streit und Verbitterung aller Art verschwanden. Ich habe Menschen gesehen, die aus Anstalten kamen und ihren wichtigen Platz im Leben der Familien und Gemeinden wieder einnahmen. Geschäftsleute und Akademiker haben ihr Ansehen wiedergewonnen. Es gibt kaum eine Form von Ärger und Elend, die wir nicht bewältigt haben. In einer Stadt im Westen und in deren Umgebung gibt es tausend von uns und unseren Familien. Wir treffen uns häufig, so daß Neulinge die Gemeinschaft finden können, die sie suchen. An diesen zwanglosen Zusammenkünften nehmen oft zwischen fünfzig und zweihundert Personen teil. An Zahl und Kraft nehmen wir ständig zu. Ein Alkoholiker, der noch am Glas hängt, ist kein liebenswertes Geschöpf. Unser Ringen um sie ist unterschiedlich anstrengend, oft komisch und manchmal tragisch. Ein armer Kerl beging bei uns zu Haus Selbstmord. Er konnte oder wollte unsere Art zu leben nicht begreifen. Dennoch haben wir viel Freude an allem. Ich vermute, daß mancher schockiert ist über unsere scheinbare Frivolität und Weltlichkeit. Dahinter aber verbirgt sich tödlicher Ernst. Der Glaube muß 24 Stunden am Tag in uns und durch uns arbeiten, oder wir kommen um. Die meisten von uns erkennen, daß wir nicht weiter nach Utopia suchen müssen. Wir haben es jetzt und hier. Täglich wird aus dem einfachen Gespräch mit meinem Freund in unserer Küche ein sich erweiternder Kreis von Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. (Bill W., Mitbegründer der AA-Gemeinschaft, ist am 24. Januar 1971 gestorben.) Kapitel 2 Es gibt eine Lösung Wir Anonymen Alkoholiker kennen Tausende von Männern und Frauen, die einst genauso hoffnungslos waren wie Bill. Fast alle haben ihre Gesundheit wieder erlangt. Sie haben das Trinkproblem gelöst. Wir sind Durchschnitts-Amerikaner. Alle Schichten und viele Berufe sind bei uns ebenso vertreten wie politische, wirtschaftliche, soziale und religiöse Richtungen. Wir sind Menschen, die normalerweise keinen Umgang miteinander hätten. Jedoch besteht zwischen uns eine Kameradschaft, ein gegenseitiges Wohlwollen und Verständnis. Das ist unbeschreiblich schön. Wir fühlen uns wie Passagiere eines Ozeanriesen nach der Rettung aus Seenot, wenn Verbrüderung, Lebensfreude und Gemeinschaftsgefühl das Schiff erfüllen, vom Maschinenraum bis zur Kommandobrücke. Im Gegensatz zu den Schiffspassagieren hört unsere Freude über das Entkommen aus der Katastrophe nicht auf, wenn wir nachher wieder unsere eigenen Wege gehen. Das Gefühl, gemeinsam eine Gefahr durchstanden zu haben, ist ein Teil der Kraft, die uns verbindet. Doch das allein würde uns nie so zusammengehalten haben, wie wir heute zusammenstehen . Für jeden von uns ist es eine unvorstellbare Tatsache, daß wir eine gemeinsame Lösung gefunden haben. Wir haben einen Weg gefunden, über den wir uns einig sind und auf dem wir brüderlich vereint und in voller Harmonie weitergehen. Das ist die gute Nachricht, die dieses Buch den Menschen bringt, die noch unter Alkoholismus leiden. Eine Krankheit dieser Art -wir sind zu der Überzeugung gekommen, daß es eine Krankheit ist- bezieht unsere Umgebung so mit ein wie keine andere Krankheit. Hat jemand Krebs, wird er von allen bemitleidet, und keiner ist verärgert oder verletzt. Nicht so aber bei der Alkoholkrankheit, denn mit ihr geht eine Vernichtung aller Dinge einher, die den Wert des Lebens ausmachen. Sie zieht alle mit herunter, deren Leben mit dem Leidenden verbunden ist. Diese Krankheit hat in ihrem Gefolge: Mißverständnisse, tiefe Verärgerung, finanzielle Unsicherheit, angewiderte Freunde und verärgerte Arbeitgeber. Mitbetroffen sind auch unschuldige Kinder, unglückliche Frauen und Eltern. Diese Liste läßt sich beliebig fortsetzen. Wir hoffen, daß dieses Buch diejenigen informiert und tröstet, die betroffen sind oder jemals betroffen sein könnten. Davon gibt es viele. Hochqualifizierte Psychiater, die mit uns zu tun hatten, waren manchmal nicht in der Lage, einen Alkoholiker dazu zu bringen, rückhaltlos über seinen Zustand zu sprechen. Seltsamerweise finden Ehefrauen, Eltern und nahe Freunde uns Alkoholiker gewöhnlich noch unzugänglicher als der Psychiater und der Arzt. Der ehemals süchtige Trinker, der den Ausweg gefunden hat und der gewappnet ist mit Erkenntnissen über sich selbst, kann im allgemeinen das volle Vertrauen eines anderen Alkoholikers in wenigen Stunden gewinnen. Ehe es aber zu einem solchen gegenseitigen Verstehen kommt, ist nur wenig oder nichts zu erreichen. Derjenige, der auf den Alkoholiker zugeht, hatte die gleichen Schwierigkeiten und weiß, wovon er spricht. Aus der ganzen Haltung seines Gesprächspartners erkennt der Betroffene, daß das der Mann mit der richtigen Antwort ist. Dieser Mann hat nicht die Einstellung: "Ich bin besser als du!" Er hat nur den aufrichtigen Wunsch zu helfen. Es sind keine Beiträge zu zahlen, es werden keine eigennützigen Zwecke verfolgt, es wird niemandem schön getan, es müssen keine Moralpredigten ertragen werden. Das sind die wirksamsten Voraussetzungen dafür, daß jemand aufstehen und wieder leben kann. Niemand von uns empfindet diese Arbeit als einzige Berufung. Wir glauben auch nicht, daß wir erfolgreicher wären, wenn wir es täten. Wir glauben, daß das Aufhören mit dem Trinken nur ein Anfang ist. Wichtiger ist es, die neuen Grundsätze zu Haus, im Beruf und im Geschäftsleben anzuwenden. Wir alle verbringen viel von unserer freien Zeit im Bemühen um andere Alkoholiker, was wir noch näher beschreiben werden. Nur wenigen ist es möglich, nahezu ihre gesamte Zeit dieser Aufgabe zu widmen. Wenn wir auf dem Weg bleiben, den wir beschritten haben, wird zweifellos viel Gutes erreicht; dennoch ist damit kaum mehr als die Oberfläche des Problems angekratzt. Diejenigen von uns, die in großen Städten leben, sind betroffen bei dem Gedanken, daß täglich Hunderte von Alkoholikern in Vergessenheit geraten. Viele könnten genesen, wenn sie die Gelegenheit hätten, wie wir sie gehabt haben. Wie können wir das weitergeben, was uns so bereitwillig gegeben wurde? Wir haben beschlossen, anonym ein Buch zu veröffentlichen, in welchem wir das Problem so darstellen, wie wir es sehen. In diese Arbeit werden wir unsere gesammelten Erfahrungen und Kenntnisse einbringen. Wir empfehlen damit ein brauchbares Programm für jeden, der ein Problem mit dem Trinken hat. Es ist notwendig, daß medizinische, psychiatrische, gesellschaft liche und religiöse Fragen diskutiert werden. Dabei sind wir uns bewußt, daß diese Themen von ihrer Substanz her oft strittig sind. Nichts würde uns mehr Freude bereiten, als ein Buch zu schreiben, das keinen Anlaß für Streit und Auseinandersetzungen gibt. Wir werden unser Bestes tun, dieses Ideal zu verwirklichen. Die meisten von uns spüren, daß echte Toleranz gegenüber Fehlern und Ansichten anderer Menschen und die Achtung vor ihren Meinungen eine Einstellung ist, die uns für andere nützlicher macht. Für uns Alkoholiker hängt das Leben im wahrsten Sinne des Wortes davon ab, daß wir ständig an andere Alkoholiker denken und nach Wegen suchen, ihnen aus der Not zu helfen. Sie werden sich sicher schon gefragt haben, warum wir alle vom Trinken schwer krank wurden. Sie sind ohne Zweifel neugierig, wie und warum wir, trotz gegenteiliger Ansicht von Fachleuten aus einer hoffnungslosen Erkrankung von Geist und Körper genesen konnten. Wenn Sie Alkoholiker sind und mit dem Trinkproblem fertig werden wollen, werden Sie vielleicht fragen: "Was muß ich tun?" Dieses Buch soll diese Fragen eingehend beantworten. Wir werden Ihnen erzählen, was wir getan haben. Bevor wir darauf im einzelnen zu sprechen kommen, wird es gut sein, einige Punkte zusammenzufassen, so wie wir sie sehen. Wie oft hat man uns gesagt: "Ich kann Alkohol trinken oder stehen lassen. Warum kann er es nicht?" "Warum trinkst du nicht wie ein normaler Mensch oder läßt es ganz?" "Dieser Bursche kann mit Schnaps nicht umgehen." "Warum versuchst du es nicht mit Bier oder Wein?" "Laß die Finger von harten Sachen!" "Er muß willensschwach sein." "Er könnte aufhören, wenn er nur wollte." "Sie ist so ein nettes Mädchen, ich könnte mir vorstellen, daß er ihretwegen aufhört." "Der Arzt hat ihm gesagt, wenn er je wieder trinken würde, wäre das sein Tod, trotzdem ist er schon wieder voll." Das sind die üblichen Bemerkungen über Trinker, wie wir sie ständig hören. Hinter solchen Worten steht eine ganze Welt von Unwissenheit und Unverständnis. Solche Äußerungen können nur von Leuten stammen, die auf das Problem ganz anders reagieren als wir. Normal trinkende Menschen haben kaum Schwierigkeiten, den Alkohol völlig aufzugeben, wenn sie einen guten Grund dafür haben. Sie können trinken oder es jederzeit lassen. Dann gibt es noch den bestimmten Typ des harten Trinkers. Seine Trinkgewohn- heit kann unter Umständen seine körperliche und geistige Gesundheit beeinträchtigen. Dadurch kann er ein paar Jahre früher sterben. Schlechte Gesundheit, große Liebe, eine neue Umgebung oder ein strenger Arzt können ihn veranlassen, ganz aufzuhören oder nur noch mäßig zu trinken. Das kann mühsam und schwierig für ihn sein, vielleicht braucht er dafür sogar ärztliche Hilfe. Wie aber ist es mit dem echten Alkoholiker? Er mag am Anfang mäßig trinken. Er kann oder kann auch nicht ein schwerer Gewohnheitstrinker werden. An einem Punkt seiner Trinkerlaufbahn jedoch fängt er an, jede Kontrolle über seinen Alkoholkonsum zu verlieren, sobald er zu trinken beginnt. Das ist der Bursche, der Ihnen durch seinen Kontrollverlust Rätsel aufgibt. In seinem Rausch treibt er alberne, unglaubliche und tragische Dinge. Einen leichten Schwips hat er selten, meistens ist er mehr oder weniger sinnlos betrunken. Wenn er trinkt, ist er nicht mehr er selbst. Er mag einer der feinsten Kerle der Welt sein, doch wenn er nur einen Tag trinkt, wird er oft widerlich oder gemeingefährlich. Er hat die seltene Gabe, sich genau im falschen Moment zu betrinken, besonders dann, wenn eine wichtige Entscheidung getroffen oder eine Verabredung eingehalten werden muß. Er ist oft sehr vernünftig und in allen Dingen ausgeglichen, nur nicht, wenn es um Alkohol geht. In dieser Beziehung ist er unglaublich unehrlich und selbstsüchtig. Er besitzt oft besondere Fähigkeiten, Fertigkeiten und Begabungen und hat eine vielversprechende Karriere vor sich. Er benutzt seine Gaben, um sich und seiner Familie eine vielversprechende Zukunft aufzubauen, die er dann wieder kaputtmacht durch eine sinnlose Serie von Besäufnissen. Er geht so betrunken zu Bett, daß er normalerweise rund um die Uhr schlafen müßte. Aber bereits früh am nächsten Morgen sucht er wie wild nach der Flasche, die er die Nacht zuvor irgendwo versteckt hatte. Wenn er es sich leisten kann, hat er im ganzen Haus Alkoholdepots angelegt, um sicher zu sein, daß ihm keiner seinen ganzen Vorrat wegnimmt, um ihn in den Ausguß zu schütten. Wenn sein Zustand schlimmer wird, fängt er an, starke Beruhigungsmittel zusammen mit Alkohol zu schlucken, um seine Nerven soweit zu beruhigen, damit er zur Arbeit gehen kann. Dann kommt der Tag, an dem er es so nicht mehr schafft und an dem er rund um die Uhr trinkt. Vielleicht geht er zu einem Arzt, der ihm Morphium oder irgendwelche Beruhigungsmittel gibt, damit er langsam wieder zu sich finden kann. Von da an taucht er immer wieder in Krankenhäusern und Sanatorien auf. Das ist keineswegs ein vollständiges Bild des Alkoholikers. Die Erscheinungsformen unserer Krankheit sind sehr unterschiedlich. Im allgemeinen kann man nach dieser Beschreibung einen Alkoholiker erkennen. Warum benimmt er sich so? Warum trinkt er dann den ersten Schluck, wenn hundertfache Erfahrung ihm gezeigt hat, daß ein Glas wieder einen erneuten Zusammenbruch mit all den begleitenden Leiden und Erniedrigungen bedeutet? Warum kann er nicht trocken bleiben? Was ist aus dem gesunden Menschenverstand und der Willenskraft geworden, die in anderen Dingen manchmal ja noch funktionieren? Wahrscheinlich wird es auf diese Frage nie eine erschöpfende Antwort geben. Die Meinungen darüber, warum ein Alkoholiker anders reagiert als andere Menschen, gehen weit auseinander. Wir wissen nicht, warum so wenig für ihn getan werden kann, wenn einmal ein gewisser Punkt erreicht ist. Wir können dieses Rätsel nicht lösen. Wir wissen, daß der Alkoholiker oft genau wie andere Menschen reagiert, wenn er nicht trinkt - was er manchmal über Monate oder Jahre schafft. Wir wissen aber auch, daß in dem Augenblick, in dem er Alkohol in irgendeiner Form zu sich nimmt, in körperlicher und geistiger Hinsicht etwas geschieht, das es ihm unmöglich macht aufzuhören. Die Erfahrungen aller Alkoholiker werden das zur Genüge bestätigen. Diese Beobachtungen wären graue Theorie und überflüssig, wenn unser Freund nie wieder den ersten Schluck trinken würde, mit dem er diesen schrecklichen Kreislauf in Bewegung setzt. Deshalb sitzt das Hauptproblem des Alkoholikers in seinem Kopf und weniger in seinem Körper. Wenn Sie ihn fragen, warum er mit dem letzten Besäufnis angefangen hat, wird er Ihnen wahrscheinlich eines seiner hundert Alibis anbieten. Manchmal haben diese Entschuldigungen eine gewisse Glaubwürdigkeit, aber keine von ihnen hält wirklich stand, wenn man die Verwüstung betrachtet, die das Besäufnis eines Alkoholikers anrichtet. Diese Entschuldigungen hören sich an wie die Philosophie eines Mannes, der sich bei Kopfweh mit dem Hammer auf den Kopf schlägt, um seine Schmerzen nicht mehr zu spüren. Wenn Sie einen Alkoholiker auf diese wackeligen Ausreden aufmerksam machen, wird er entweder alles ins Lächerliche ziehen oder den Beleidigten spielen und sich weigern, darüber zu reden. Hin und wieder wird er die Wahrheit erzählen. So seltsam es klingt, wahr ist: Er weiß meist genausowenig wie Sie, warum er den ersten Schluck getrunken hat. Einige Trinker sind mit ihren Entschuldigungen eine Zeitlang zufrieden. Aber in Wirklichkeit wissen sie nicht, warum sie wieder trinken. Von dieser Krankheit gepackt, wissen sie nicht mehr ein noch aus. Besessen glauben sie, irgendwie, irgendwann das Spiel doch noch zu gewinnen. Oft aber ahnen sie schon, daß sie am Boden liegen und darauf warten, ausgezählt zu werden. Wie wahr das ist, begreifen wenige. Irgendwie spüren ihre Familien und ihre Freunde, daß diese Trinker abnorm sind, aber jeder wartet voller Hoffnung auf den Tag, an dem der Leidende sich aus seiner Lethargie befreit und seine Willenskraft einsetzt. Die traurige Wahrheit ist, daß dieser Tag nie kommt, wenn der Betroffene wirklich Alkoholiker ist. Er hat die Kontrolle verloren. Jeder Alkoholiker überschreitet irgendwann die Grenze und kommt in ein Stadium, wo auch der sehnlichste Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören, nichts mehr nützt. Dieser tragische Zustand ist meistens schon früher erreicht, als allgemein vermutet wird. Es ist eine Tatsache, daß die meisten Alkoholiker aus noch unbekannten Gründen keine andere Wahl haben, als zu trinken. Unsere sogenannte Willenskraft existiert praktisch nicht mehr. Wir sind zu bestimmten Zeiten beim besten Willen nicht in der Lage, uns die Erinnerung an Leiden und Demütigungen ins Bewußtsein zurückzurufen, selbst wenn sie nur eine Woche oder einen Monat zurückliegen. Wir sind ohne Abwehrkraft gegen das erste Glas. Die Konsequenzen, die auch nur ein Glas Bier nach sich zieht, lassen uns nicht davor zurückschrecken, es zu trinken. Wenn solche Gedanken auftauchen, sind sie nebelhaft und werden nur zu gern von der fadenscheinigen Vorstellung verdrängt, daß wir uns diesmal so wie andere Leute im Griff haben werden. Der Instinkt, der uns beispielsweise davon abhält, unsere Hand auf einen heißen Ofen zu legen, versagt hier vollkommen. Der Alkoholiker sagt vielleicht ein bißchen leichtsinnig: "Diesmal werde ich mich nicht verbrennen - was soll's!" Vielleicht denkt er sich auch garnichts dabei. Wie oft haben einige von uns auf die lässige Art angefangen zu trinken und nach dem dritten oder vierten Glas auf die Theke geklopft und zu sich selbst gesagt: "Mein Gott, wie konnte ich nur wieder anfangen?" Dieser Gedanke wird sofort wieder verdrängt durch: "Na gut, nach dem sechsten Glas werde ich aufhören." oder "Was hat das überhaupt für einen Sinn?" Wenn sich diese Denkweise in einem Menschen festsetzt, der zum Alkoholiker veranlagt ist, kann menschliche Hilfe bei ihm kaum noch etwas ausrichten. Wenn er dann nicht eingesperrt wird, kann er sterben oder wahnsinnig werden. Legionen von Alkoholikern haben diese unumstößlichen und häßlichen Tatsachen im Laufe der Geschichte bestätigt. Ohne die Gnade Gottes, durch die Alkoholiker eine Lösung ihrer Probleme gefunden haben, wären es noch Tausende solcher Beispiele mehr, denn viele wollen aufhören, schaffen es aber nicht allein. Es gibt eine Lösung. Keinem von uns fiel die Selbsterforschung, der Abbau unseres Hochmuts, das Bekennen unserer Unzulänglichkeiten leicht. Aber all das ist nötig, um das Ziel zu erreichen. Wir sahen, daß diese Methode bei anderen wirkte, und erkannten, daß unser Leben, wie wir es bisher gelebt hatten, hoffnungslos und leer war. Wenn wir Menschen trafen, die ihr Problem gelöst hatten, blieb uns garnichts anderes übrig, als dieses spirituelle Handwerkszeug aufzuheben, das sie uns vor die Füße gelegt hatten. Wir haben ein Stück Himmel gefunden und sind in eine neue Dimension unserer Existzenz gelangt, von der wir noch nicht einmal geträumt hatten. Es ist doch eine Tatsache, daß wir tiefe und wirkungsvolle seelische, innerliche Erfahrungen* gemacht haben, die unsere ganze Einstellung zum Leben, zu unseren Mitmenschen und zu Gottes Weltall völlig geändert haben. Unser heutiges Dasein basiert auf der absoluten Gewißheit, daß unser Schöpfer auf eine wunderbare Art den Weg zu unseren Herzen gefunden hat und in unser Leben eingetreten ist. Er hat für uns Dinge vollendet, die wir allein nie zustande gebracht hätten. Wenn Sie ein so schwerkranker Alkoholiker sind, wie wir es waren, gibt es nach unserer Überzeugung für Sie keine halbe Lösung mehr. Wir waren da angekommen, wo unser Leben sinnlos geworden war. Wir hatten den Zustand erreicht, in dem es durch menschliche Hilfe kein Zurück mehr gab. Uns blieben nur zwei Möglichkeiten: entweder bis zum bitteren Ende zu gehen und das Bewußtsein unserer unerträglichen Lage auszulöschen - oder wir mußten seelische Hilfe annehmen. Das taten wir, weil wir es ehrlich wünschten und bereit waren, dafür etwas zu tun. Ein amerikanischer Geschäftsmann - fähig, vernünftig und mit gutem Charakter - zog jahrelang von einem Sanatorium ins andere. Er hatte die bekanntesten amerikanischen Psychiater konsultiert. Dann war er nach Europa gegangen und hatte sich in die Behandlung eines bekannten Arztes (des Psychiaters Dr. Jung) begeben. Obwohl Erfahrung den Geschäftsmann skeptisch gemacht hatte, brachte er die Behandlung voll Vertrauen zu Ende. Sein körperlicher und geistiger Zustand wurde ungewöhnlich gut. Überdies glaubte er, jetzt ein so gründliches Wissen über die Vorgänge in seinem Geist zu haben und die darin verborgenen Quellen zu kennen, daß er einen Rückfall für undenkbar hielt. Trotzdem war er nach kurzer Zeit wieder betrunken. Er war wie vor den Kopf gestoßen, daß er sich keine einleuchtende Erklärung über seinen Rückfall geben konnte. Er ging wieder zu diesem Arzt zurück, den er bewunderte, und fragte geradeheraus, warum er nicht gesund werden könne. Vor allem wünsche er sich, seine Selbstkontrolle wiederzuerlangen. In bezug auf andere Probleme schien er recht vernünftig und ausgeglichen zu sein. Über Alkohol jedoch hatte er keinerlei Kontrolle. Wie kam das? Er bat den Arzt, ihm die ganze Wahrheit zu sagen. Die Bitte wurde erfüllt. Nach dem Urteil des Arztes war der Geschäftsmann ein absolut hoffnungsloser Fall. Er könne seine gesellschaftliche Stellung nie wieder erlangen. Und wenn er lange leben wolle, müßte er sich hinter Schloß und Riegel begeben oder einen Leibwächter engagieren. Das war die Meinung eines großen Arztes. Doch dieser Mann lebt noch und ist ein freier Mann. Weder braucht er einen Leibwächter, noch ist er eingesperrt. Er kann überall auf dieser Welt hingehen, wo andere freie Menschen hingehen, ohne ins Unglück zu laufen, vorausgesetzt, er ist bereit, ein paar einfache Lebensregeln zu befolgen. Einige unserer alkoholkranken Leser mögen der Ansicht sein, daß sie ohne seelische Hilfe auskommen. Laßt uns den Fortgang der Unterhaltung erzählen, die unser Freund mit seinem Arzt hatte. Der Arzt sagte ihm: "Sie haben die Geisteshaltung eines chronischen Alkoholikers. Ich habe noch keinen genesen sehen, bei dem diese Geisteshaltung schon so weit fortgeschritten war wie bei Ihnen." Unser Freund hatte das Gefühl, als hätten sich die Tore der Hölle mit einem Knall hinter ihm geschlossen. *Vgl. den Anhang "Die seelische Erfahrung." Er sagte zum Arzt: "Gibt es da keine Ausnahme?" "Doch", antwortete der Arzt, "auch in Fällen, wie dem Ihren, hat es seit jeher Ausnahmen gegeben. Hier und dort, ab und zu, hatten Alkoholiker das, was man eine lebenswichtige, seelisch-innerliche Erfahrung nennt. Solche Ereignisse waren für mich eine Art Wunder. Sie treten als gewaltige Gefühlsbewegung und eine Art Neuorientierung auf. Ideen, Gefühle und Haltungen, die einst die bestimmenden Kräfte im Leben dieser Menschen waren, werden plötzlich über Bord geworfen, und völlig neue Vorstellungen und Beweggründe treten bei ihnen in den Vordergrund. Tatsächlich habe ich versucht, in Ihnen etwas von solch einer gefühlsmäßigen Neuorientierung auszulösen. Bei vielen sind die Methoden, die ich angewandt habe, erfolgreich, aber ich hatte nie Erfolg bei einem Alkoholiker Ihres Schlages. Als unser Freund das gehört hatte, war er etwas erleichtert. Er überlegte sich, daß er immerhin ein gutes Mitglied der Kirche war. Die darauf gegründete Hoffnung zerstörte ihm der Arzt jedoch, indem er ihm sagte, daß seine religiösen Überzeugungen zwar gut seien, sie ihm in diesem Falle aber nicht die nötige, lebenswichtige seelische Erfahrung vermittelten. Das war das schreckliche Dilemma, in dem sich unser Freund befand, als er die außergewöhnliche Erfahrung machte, die wir bereits geschildert haben und die aus ihm einen freien Mann machte. Wir selbst suchten mit der Verzweiflung Ertrinkender den gleichen Ausweg. Was zuerst nur wie ein schwacher Strohhalm aussah, das erwies sich als liebende und starke Hand Gottes. Ein neues Leben wurde uns gegeben, oder, wenn Sie so wollen, "eine neue Lebensperspektive", nach der sich tatsächlich leben läßt. Der angesehene amerikanische Psychologe William James beschreibt in seinem Buch "Vielfalt der religiösen Erfahrungen" eine Anzahl von Wegen, auf denen Menschen Gott entdeckt haben. Wir wollen niemanden davon überzeugen, daß nur ein Weg zum Glauben führt. Wenn das, was wir gelernt, gefühlt und gesehen haben, überhaupt eine Bedeutung hat, dann diese: Wir alle, gleich welcher Rasse, welchen Glaubens oder welcher Hautfarbe, sind Kinder eines lebendigen Schöpfers, und wir können zu ihm auf einfache und leicht verständliche Weise in Beziehung treten, wenn wir nur bereit und ehrlich genug sind, es zu versuchen. Jene Menschen, die religiöse Bindungen haben, werden dabei nichts finden, was ihren Glauben oder ihre Glaubensausübung stört. Darüber gibt es bei uns keine Meinungsverschiedenheiten. Wir sind der Meinung, daß es uns nichts angeht, zu welcher Glau bensrichtung sich jeder einzelne zugehörig fühlt. Das sollte eine ganz persönliche Angelegenheit sein, die jeder für sich selbst im Hinblick auf seine früheren Bindungen oder nach seiner heutigen Wahl entscheidet. Nicht jeder von uns schließt sich einer Glaubensgemeinschaft an, aber die meisten neigen dazu. Im folgenden Kapitel wird erklärt, was wir unter Alkoholismus verstehen. Danach wendet sich ein Kapitel an Agnostiker, von denen jetzt viele zu uns gehören. Erstaunlicherweise zeigt es sich, daß eine solche Überzeugung kein großes Hindernis für eine seelische Erfahrung ist. Weiter geht es mit klaren Empfehlungen, wie wir gesund wurden. Später folgen Lebensgeschichten von Alkoholikern. In den persönlichen Berichten beschreibt jeder einzelne in seiner Sprache und aus seiner Sicht, wie er seine Verbindung zu Gott fand. Diese Geschichten ergeben einen Querschnitt unserer Gemeinschaft und lassen ganz klar erkennen, was sich im Leben jedes einzelnen ereignete. Wir hoffen, daß niemand an diesen offenherzigen Selbstbekenntnissen Anstoß nimmt. Wir hoffen, daß viele alkoholkranke Männer und Frauen, die es dringend brauchen, diese Seiten in die Hand bekommen. Wir glauben, daß nur eine rückhaltlose Darstellung unserer selbst und unserer Probleme sie dazu bringt zu sagen: "Ja, ich bin auch einer von ihnen; das brauche ich." Kapitel 3 Mehr über Alkoholismus Die meisten von uns wollten nicht zugeben, Alkoholiker zu sein. Keiner mag den Gedanken, sich körperlich und geistig von anderen zu unterscheiden. Deshalb überrascht es nicht, daß Trinkerkarrieren von zahllosen vergeblichen Versuchen gekennzeichnet sind, so zu trinken wie andere Leute. Der Gedanke, irgendwie, irgendwann sein Trinken kontrollieren und genießen zu können, ist eine fixe Idee jedes anormalen Trinkers. Es ist erstaunlich, mit welcher Hartnäckigkeit an dieser Illusion festgehalten wird. Viele bleiben dabei, bis sie die Schwelle des Irrsinns überschritten oder den Tod vor Augen haben. Wir haben gelernt, daß wir in unserem tiefsten Inneren rückhaltlos zugeben mußten, Alkoholiker zu sein. Das ist der erste Schritt zur Genesung. Der Wahn, daß wir wie andere sind oder je wieder werden könnten, muß zerschlagen werden. Wir Alkoholiker sind Männer und Frauen, die die Fähigkeit verloren haben, kontrolliert zu trinken. Wir wissen, daß kein Alkoholiker jemals wieder kontrolliert trinken kann. Wir alle durchlebten Zeiten, in denen wir meinten, die Kontrolle wieder erlangt zu haben. Auf solche, meistens kurzen Intervalle folgte unweigerlich ein noch größerer Kontrollverlust, der nach einiger Zeit zu einem erbärmlichen, unfaßbaren Verfall führte. Bei uns gibt es keinen Zweifel, daß Alkoholiker wie wir in der Gewalt einer fortschreitenden Krankheit sind, die immer schlimmer wird, aber niemals besser. Wir sind wie Menschen, die ihre Beine verloren haben; ihnen wachsen niemals neue. Genausowenig scheint es irgendeine Art der Behandlung zu geben, die aus Alkoholikern "Normalverbraucher" macht. Wir haben jede Möglichkeit der Heilung erprobt, die man sich nur vorstellen kann. In einigen Fällen gab es eine kurzzeitige Besserung, der immer ein noch schlimmerer Rückfall folgte. Ärzte, die sich mit dem Alkoholismus auskennen, stimmen in der Ansicht überein, daß es keine Möglichkeit gibt, aus einem Alkoho liker einen normalen Trinker zu machen. Vielleicht wird die Wis senschaft das eines Tages fertigbringen, aber soweit ist es noch nicht. Trotz allem, was wir sagen, wollen viele Alkoholiker nicht glauben, daß es auch auf sie zutrifft. Sie versuchen auf jede nur mögliche Art der Selbsttäuschung und des Herumexperimentierens sich selbst zu beweisen, daß sie die Ausnahme von der Regel - und somit keine Alkoholiker sind. Wenn jemand, der früher nicht kontrolliert trinken konnte, plötzlich eine Kehrtwendung zustandebringt, und wie ein Gentleman trinken kann, dann ziehen wir unseren Hut vor ihm. Der Himmel weiß, wie lange und wie angestrengt wir versucht haben, so wie andere Leute zu trinken! Nachfolgend einige der Methoden, die wir ausprobiert haben: Nur Bier trinken, eine begrenzte Menge trinken, nie allein trinken, nie frühmorgens trinken, nur zu Hause trinken, nie Alkohol im Haus haben, nie während der Dienstzeit trinken, nur auf Partys trinken, von Whisky auf Cognac übergehen, nur Naturwein trinken, bei Trunkenheit am Arbeitsplatz mit der Kündigung einverstanden sein, eine Reise unternehmen, keine Reise unternehmen, für immer abschwören (mit und ohne heiligem Eid), mehr Sport treiben, spannende Bücher lesen, in ein Entziehungsheim oder in ein Sanatorium gehen, freiwillig in eine geschlossene Anstalt gehen - die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Wir möchten keinen zum Alkoholiker abstempeln, aber Sie können sich sehr schnell selbst die Diagnose stellen. Gehen Sie in die nächste Kneipe und versuchen Sie, kontrolliert zu trinken. Versuchen Sie zu trinken und ganz plötzlich aufzuhören. Versuchen Sie es mehr als einmal. Wenn Sie ehrlich zu sich selbst sind, brauchen Sie nicht lange, um zu wissen, was mit Ihnen los ist. Genaue Kenntnis Ihres Zustands mag durchaus ein großes Zittern wert sein. Obwohl es nicht zu beweisen ist, glauben wir, daß die meisten von uns am Anfang ihrer Trinkerlaufbahn mit dem Trinken hätten aufhören können. Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, daß bei wenigen Alkoholikern der Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören, stark genug ist, wenn es noch Zeit wäre. Wir haben von einigen wenigen Fällen gehört, in denen Leute, die deutliche Anzeichen von Alkoholismus zeigten, aufgrund eines übermächtigen Wunsches für eine lange Zeit mit dem Trinken aufhören konnten. Hier ist so ein Fall: Ein Mann von dreißig Jahren ging häufig auf Zechtour. Nach solchen Gelagen war er morgens sehr nervös und beruhigte sich wieder mit Alkohol. Er war ehrgeizig im Beruf, aber er sah, daß er nichts erreichen würde, solange er überhaupt noch trank. Wenn er einmal anfing, verlor er jede Kontrolle. Er beschloß, keinen Tropfen mehr anzurühren, bis er nach erfolgreichem Geschäftsleben sich zur Ruhe setzen würde. Ein außergewöhnlicher Mann. Er blieb fünfundzwanzig Jahre lang knochentrocken und setzte sich im Alter von fünfundfünfzig nach einer erfolgreichen und befriedigenden Karriere zur Ruhe. Dann wurde er das Opfer eines Irrglaubens, dem fast jeder Alkoholiker unterliegt: Eine lange Zeit der Nüchternheit und Selbstdisziplin würde ihn qualifizieren, wie andere zu trinken. Er zog die Pantoffeln an und die Flaschen hervor. Nach zwei Monaten fand er sich im Krankenhaus wieder - verwirrt und gedemütigt. Danach versuchte er für eine Weile, mit dem Trinken maßzuhalten, kam aber um einige Krankenhausaufenthalte nicht herum. Mit aller Kraft versuchte er schließlich, ganz aufzuhören, und stellte fest, daß er es nicht konnte. Er hatte zur Lösung seines Problems jede Möglichkeit, die mit Geld zu kaufen war. Jeder Versuch schlug fehl. Obwohl er zu Beginn seines Ruhestandes ein robuster Mann war, verfiel er dann schnell und starb nach vier Jahren. Dieser Fall enthält eine eindringliche Lehre. Die meisten von uns haben geglaubt, sie könnten wieder normal trinken, wenn sie eine lange Zeit nüchtern blieben. Aber hier ist ein Mann, der mit fünfundfünfzig Jahren erfahren mußte, daß er genau dort war, wo er mit dreißig aufgehört hatte. Immer und immer wieder sehen wir: Einmal Alkoholiker - immer Alkoholiker! Wenn wir nach einer Zeit der Nüchternheit wieder mit dem Trinken anfangen, sind wir in kurzer Zeit wieder so übel dran wie vorher. Wenn wir uns vornehmen, mit dem Trinken aufzuhören, darf es keinen Vorbehalt geben, und in keinem Winkel unseres Hinterkopfes darf die Hoffnung lauern, eines Tages normal trinken zu können. Die Lebensgeschichte dieses Mannes bringt junge Menschen vielleicht auf die Idee, daß sie wie er aus eigener Willenskraft aufhören könnten. Wir zweifeln daran, daß das viele fertigbringen, denn keiner will wirklich aufhören. Kaum einer wird den Zeitpunkt erleben, an dem er herausfindet, ob er es geschafft hat, weil er schon das dem Alkoholiker eigentümliche, verdrehte Denken erworben hat. In unserer Gruppe gibt es einige, die dreißig Jahre oder noch jünger sind. Sie hatten nur ein paar Jahre getrunken und waren trotzdem genauso hilflos wie jene, die zwanzig Jahre lang getrunken hatten. Um Alkoholiker zu sein, muß man nicht unbedingt lange und solche Mengen getrunken haben wie viele von uns. Das trifft vor allem auf Frauen zu. Oft steigen Frauen mit einer Veranlagung zum Alkoholismus gleich voll ein und sind in wenigen Jahren in einem Zustand, aus dem es kein Zurück mehr gibt. Manche Trinker wären beleidigt, würde man sie als Alkoholiker bezeichnen, und sind trotzdem erstaunt, wenn sie merken, daß sie mit dem Trinken nicht aufhören können. Wir erkennen unter den Jugendlichen eine große Zahl potentieller Alkoholiker, weil wir mit den Symptomen vertraut sind. Aber versuchen Sie einmal, sie zur Einsicht zu bringen. * *Diese Aussage fußt auf den beim Erstdruck des Buches vorliegenden Erkenntnissen. Nach einer 1977 in den Vereinigten Staaten und in Kanada durchgeführten Umfrage waren elf Prozent der AA-Mitglieder unter dreißig Jahre alt. Wenn wir zurückblicken wird uns klar, daß wir viele Jahre weiter getrunken hatten, als wir schon über den Punkt hinaus waren, an dem wir aus eigener Willenskraft hätten aufhören können. Wenn irgendeiner daran zweifelt, ob er über diesen gefährlichen Punkt schon hinaus ist, dann lassen Sie ihn versuchen, ein Jahr ohne Alkohol auszukommen. Sollte er Alkoholiker und seine Krankheit schon sehr fortgeschritten sein, gibt es kaum eine Erfolgschance. In den Anfängen unseres Trinkens blieben wir gelegentlich ein Jahr oder länger nüchtern und wurden danach wieder harte Trinker. Selbst wenn Sie in der Lage sind, für eine längere Zeit mit dem Trinken aufzuhören, können Sie ein potentieller Alkoholiker sein. Wir meinen, daß wenige, an die dieses Buch gerichtet ist, überhaupt ein Jahr lang trocken bleiben können. Einige werden noch am selben Tag betrunken sein, an dem sie sich vorgenommen hatten, nichts zu trinken; die meisten schaffen es vielleicht ein paar Wochen. Diejenigen, die nicht kontrolliert trinken können, stehen vor der Frage, wie man überhaupt aufhört. Wir nehmen selbstverständlich an, daß der betroffene Leser mit dem Trinken aufhören will. Ob jemand ohne tiefgreifenden, innerlichen Wandel aufhören kann, hängt davon ab, wie weit er seine Entscheidungsfähigkeit schon verloren hat. Vielleicht kann er noch wählen, ob er noch trinken will oder nicht. Viele von uns glauben, einen starken Charakter zu haben. Da war ein ungeheuer großes Verlangen, für immer mit dem Trinken aufzuhören. Es war uns jedoch nicht möglich. Wir kennen dieses rätselhafte Kennzeichen des Alkoholismus - diese absolute Unfähigkeit, allein davon loszukommen, wie groß die Notwendigkeit und der Wunsch aufzuhören auch sein mögen. Wie können wir unseren Lesern helfen, aus eigener Überzeugung die Entscheidung zu treffen, ob sie zu uns gehören oder nicht? Der Versuch, eine gewisse Zeit mit dem Trinken aufzuhören, kann dabei helfen. Aber wir glauben, daß wir den leidenden Alkoholikern und vielleicht auch der ganzen medizinischen Zunft eine noch größere Hilfe anbieten können. Deshalb werden wir einige der geistigen Zustände beschreiben, die dem Abgleiten ins Trinken vorausgehen, denn dort scheint offensichtlich die Wurzel des Problems zu liegen. Was geht in einem Alkoholiker vor, der immer wieder das hoffnungslose Experiment mit dem ersten Glas wiederholt? Freunde, die ihn zur Vernunft bringen wollen, sind verblüfft, wenn er geradewegs in eine Kneipe marschiert, obwohl ihn das letzte Besäufnis an den Rand der Scheidung oder des Bankrotts gebracht hatte. Warum macht er das? Was denkt er sich dabei? Unser erstes Beispiel ist ein Freund, den wir Jim nennen wollen. Dieser Mann hat eine liebenswerte Frau und eine Familie. Er hatte eine gutgehende Automobilvertretung geerbt. Er wurde im Ersten Weltkrieg ausgezeichnet. Er ist ein guter Verkäufer. Jeder mag ihn. Er ist intelligent und - soweit wir es beurteilen können - normal, abgesehen von einer nervösen Veranlagung. Bis zu seinem 35. Lebensjahr trank er keinen Alkohol. Dann begann er zu trinken. Innerhalb weniger Jahre wurde er, wenn er betrunken war, so gewalttätig, daß er eingewiesen werden mußte. Als er die Anstalt verließ, kam er mit uns in Kontakt. Wir sagten ihm, was wir vom Alkoholismus wußten und welche Lösung wir gefunden hatten. Er machte einen Anfang. Seine Familie wurde wieder zusammengeführt, und er fing an, als Verkäufer in dem Geschäft zu arbeiten, das er durch seine Trinkerei verloren hatte. Eine Zeitlang ging alles gut. Aber er vernachlässigte sein seelisches Leben. Zu seiner eigenen Bestürzung war er einige Male hintereinander wieder betrunken. Jedes Mal arbeiteten wir mit ihm und untersuchten genau, was sich ereignet hatte. Er gab zu, daß er wirklich Alkoholiker war und sich in besorgniserregendem Zustand befand. Er war sich darüber im klaren, daß ihm ein neuer Gang in die Anstalt bevorstand, wenn er so weiter machte. Dazu kam, daß er seine Familie verlieren würde, die er aufrichtig liebte. Trotzdem betrank er sich wieder. Wir baten ihn, uns genau zu erzählen, was passiert war. Hier ist die Geschichte: "Am Dienstagmorgen kam ich zur Arbeit. Ich erinnere mich, daß es mich störte, für ein Unternehmen Verkäufer sein zu müssen, das mir einmal gehört hatte. Ich hatte eine kleine Auseinandersetzung mit dem Chef, es war aber nichts Ernstes. Daraufhin entschloß ich mich, einen Interessenten für ein Auto zu besuchen. Unterwegs wurde ich hungrig, also hielt ich an einer Gaststätte. Ich hatte nicht die Absicht zu trinken. Ich wollte nur ein Sandwich essen. Ich hoffte auch, hier vielleicht einen Kunden für ein Auto zu finden. Dieses Lokal war mir seit Jahren bekannt. Während der Monate, in denen ich nüchtern war, hatte ich dort oft gegessen. Ich setzte mich an einen Tisch, bestellte einen Sandwich und ein Glas Milch. Immer noch kein Gedanke an Trinken. Ich bestellte noch einen Sandwich und entschied mich für ein weiteres Glas Milch. Plötzlich kam mir der Gedanke, ein Whisky in meiner Milch könnte mir bei meinem vollen Magen nicht schaden. Ich bestellte einen Whisky und schüttete ihn in die Milch. Ich hatte das dumpfe Gefühl, nicht sehr klug zu handeln, beruhigte mich aber damit, daß ich ja den Whisky auf vollen Magen trank. Der Versuch lief so gut, daß ich noch einen Whisky bestellte und ihn wieder in die Milch schüttete. Das schien mir nichts auszumachen, und so versuchte ich noch einen." So fing für Jim wieder eine Reise in die Anstalt an. Hier drohte die Verwahrung und damit der Verlust der Familie und der Stellung. Ganz zu schweigen davon, wie schlecht es ihm geistig und körperlich immer nach dem Trinken ging. Er wußte viel über sich selbst als Alkoholiker. Dennoch wurden alle Gründe für das Nichttrinken einfach beiseite geschoben zugunsten der verrückten Idee, Whisky trinken zu können, wenn er ihn nur mit Milch mischte! Wie man das auch immer definieren will, wir nennen es reinen Wahnsinn. Wie kann ein solcher Mangel an Selbsteinschätzung, an Fähigkeit, logisch zu denken, anders genannt werden? Vielleicht meinen Sie, dies sei ein extremer Fall. Für uns ist das nicht weit hergeholt, denn diese Art zu denken ist für jeden einzelnen von uns charakteristisch gewesen. Wir haben manchmal mehr als Jim über die Konsequenzen nachgedacht. Immer war da dieses eigenartige, geistige Phänomen: Unser vernünftiges Denken war automatisch begleitet von einer irrsinnig lächerlichen Ent schuldigung für den ersten Schluck. Vernunft konnte uns nicht im Zaume halten. Der Irrsinn siegte. Am nächsten Tag fragten wir uns ehrlich und allen Ernstes, wie das hatte passieren können. Bei manchen Gelegenheiten haben wir uns absichtlich betrunken, was wir mit Nervosität, Ärger, Kummer, Depression, Eifersucht oder ähnlichen Gründen rechtfertigten. Aber selbst, wenn es so angefangen hatte, mußten wir nachher zugeben, daß unsere Rechtfertigung für den Rausch sinnlos und unzureichend war im Licht dessen, was nachher immer eintrat. Auch wenn wir vorsätzlich und nicht zufällig zu trinken anfingen - so sehen wir es heute -, fehlt bei uns jede ernsthafte und nützliche Einsicht in die schrecklichen Konsequenzen unseres Handelns. Wir verhalten uns beim ersten Schluck so absurd und unverständlich, wie jemand, der den Tick hat, achtlos über die Straße zu gehen. Für ihn ist es ein Nervenkitzel, kurz vor einem schnellfahrenden Fahrzeug beiseite zu springen. Trotz gutgemeinter Warnungen macht ihm das einige Jahre Freude. Bis zu diesem Zeitpunkt würde man ihn als Narren bezeichnen, der eine merkwürdige Auffassung von Spaß hat. Dann verläßt ihn das Glück, und er wird mehrmals hintereinander leicht verletzt. Wenn er normal wäre, würde man erwarten, daß er es bleiben läßt. Kurz darauf wird er wieder angefahren und erleidet diesmal einen Schädelbruch. Kaum aus dem Krankenhaus, wird er von einer Straßenbahn angefahren und bricht sich den Arm. Er verspricht, mit seinem irrsinnigen Verhalten auf der Straße für immer aufzuhören, bricht sich nach ein paar Wochen beide Beine. So geht dieser Unsinn jahrelang weiter, begleitet von seinem Versprechen, vorsichtig zu sein oder die Straße ganz zu meiden. Schließlich kann er nicht mehr arbeiten, seine Frau läßt sich von ihm scheiden, und er ist der Lächerlichkeit preisgegeben. Er versucht alles, um sein irrsinniges Zwangsverhalten auf der Straße aus dem Kopf zu bekommen. Er läßt sich in eine Anstalt einweisen in der Hoffnung, dort Besserung zu finden. Am Tag der Entlassung rennt er vor ein Feuerwehrauto und bricht sich das Kreuz. So ein Mann wäre verrückt, nicht wahr? Dieses Beispiel klingt vielleicht zu lächerlich. Aber ist es das wirklich? Wir, die wir durch die Mangel gedreht worden sind, müssen zugeben, daß dieses Bild genau auf uns zuträfe, würden wir das oben beschriebene, irrsinnige Verhalten im Straßenverkehr durch Alkoholismus ersetzen. So intelligent wir vielleicht in anderer Beziehung waren - wenn es um Alkohol ging, waren wir auf eine seltsame Weise verrückt. Das ist eine harte Sprache. Aber ist es nicht die Wahrheit? Manche werden denken: "Ja, was Ihr sagt ist wahr, aber es stimmt nicht ganz. Zugegeben, einige Symptome sind bei uns vorhanden, aber so extrem weit gegangen wie Ihr sind wir nicht. Wir werden auch kaum so weit gehen. Nachdem, was Ihr uns gesagt habt, kennen wir uns so gut, daß solche Dinge nicht wieder vorkommen können. Wir haben durch unser Trinken nicht alles in unserem Leben verloren. Wir haben es auch bestimmt nicht vor. Vielen Dank für die Information!" Auf einige Nichtalkoholiker mag das alles zutreffen. Die können ihr Trinken einschränken oder ganz aufhören, auch wenn sie im Augenblick leichtsinnig und stark trinken. Sie haben geistig und körperlich noch keinen solchen Schaden erlitten wie wir. Aber der Alkoholiker oder derjenige, der die Veranlagung dazu hat, wird nie in der Lage sein, aufgrund von Selbsterkenntnis mit dem Trinken aufzuhören. Von dieser Regel gibt es kaum eine Ausnahme. Das ist der Kernpunkt, den wir immer und immer wieder herausstreichen möchten, um den Alkoholikern unter unseren Lesern einzutrichtern, was wir durch bittere Erfahrung lernen mußten. Nehmen wir ein anderes Beispiel. Fred ist Teilhaber eines Wirtschaftsprüfers. Er hat ein gutes Einkommen, ein schönes Heim, ist glücklich verheiratet und Vater von vielversprechenden Kindern im Oberschulalter. Er hat eine solch gewinnende Persönlichkeit, daß er sich überall Freunde macht. Wenn es je einen erfolgreichen Geschäftsmann gab, so ist es Fred. Offensichtlich ist er eine beständige, ausgeglichene Persönlichkeit. Doch er ist Alkoholiker. Zum ersten Mal sahen wir Fred vor etwa einem Jahr im Krankenhaus, wo er sich vom "großen Zittern" erholte. Es war seine erste Erfahrung dieser Art, und er schämte sich sehr. Er war weit davon entfernt zuzugeben, daß er Alkoholiker war. Er redete sich ein, ins Krankenhaus gekommen zu sein, um seine Nerven zu beruhigen. Der Arzt gab ihm ernsthaft zu verstehen, daß es möglicherweise schlimmer um ihn stand, als er sich vorstellte. Einige Tage lang war er wegen seines Zustandes bedrückt. Er entschloß sich, ganz mit dem Trinken aufzuhören. Der Gedanke, das vielleicht nicht zu schaffen, kam ihm angesichts seines Charakters und seiner Stellung gar nicht in den Sinn. Fred wollte es nicht wahrhaben, Alkoholiker zu sein, noch weniger wollte er zugeben, daß zur Lösung seines Problems ein seelisches Heilmittel nötig war. Wir erzählten, was wir über Alkoholismus wußten. Er war interessiert und gab zu, einige dieser Symptome zu haben. Aber er war weit davon entfernt, sich einzugestehen, daß er sich nicht selbst helfen konnte. Er war davon überzeugt, daß diese erniedrigende Erfahrung und sein neuerworbenes Wissen ihn für den Rest seines Lebens nüchtern halten würden. Selbsterkenntnis würde alles in Ordnung bringen. Eine Zeitlang hörten wir nichts mehr von Fred. Eines Tages erzählte man uns, daß er wieder im Krankenhaus sei. Diesmal war er ganz schön wacklig. Er ließ uns wissen, daß er uns dringend sehen wollte. Die Geschichte, die er uns erzählte, war sehr aufschlußreich. Hier war jemand, der absolut davon überzeugt war, daß er mit dem Trinken aufhören müsse, jemand, der keine Entschuldigung für sein Trinken hatte, der glänzendes Urteilsvermögen und Entschlußkraft in allen sonstigen Dingen an den Tag legte und der trotzdem wieder flach lag. Lassen wir ihn selbst erzählen: "Ich war sehr beeindruckt von dem, was Ihr mir über Alkoholismus gesagt habt, und habe wirklich nicht daran geglaubt, daß ich jemals wieder trinken würde. Ich konnte schon Euren Gedanken über diesen spitzfindigen Irrsinn folgen, die dem ersten Schluck vorausgehen. Ich vertraute aber darauf, daß mir so etwas nicht passieren könnte nach allem, was ich gelernt hatte. Ich nahm für mich in Anspruch, noch nicht so weit zu sein, wie die meisten von Euch. Normalerweise konnte ich meine anderen Probleme bewältigen. Und deshalb wollte ich auch da erfolgreich sein, wo Ihr versagt habt. Ich meinte, einen berechtigten Anspruch auf Selbstvertrauen zu haben, und daß es lediglich eine Frage des Trainings meiner Willenskraft und meiner Wachsamkeit sei, nicht zu trinken. Mit dieser Einstellung ging ich meinen Geschäften nach, und eine Zeitlang ging alles gut. Ich hatte keine Schwierigkeiten, alkoho lische Getränke abzulehnen, und machte mir Gedanken darüber, ob ich nicht einer einfachen Sache zuviel Gewicht beigemessen hatte. Eines Tages reiste ich nach Washington, um einem Regierungsbüro einen Rechnungsbericht vorzulegen. Während dieser Zeit der Trockenheit war ich vorher schon einmal unterwegs gewesen, so daß dies nichts Neues für mich war. Körperlich fühlte ich mich prima. Ich hatte auch keine schwerwiegenden Probleme oder Sorgen. Mein Geschäft ging gut, ich war zufrieden, und meine Partner waren es auch. Der Tag ging zu Ende ohne Wolke am Horizont. Ich ging in mein Hotel und zog mich gemächlich zum Essen um. Als ich die Schwelle des Speisesaals betrat, kam mir der Gedanke, daß es doch ganz nett wäre, ein paar Cocktails zum Essen zu trinken. Das war alles. Nichts weiter. Ich bestellte einen Cocktail und mein Essen. Dann bestellte ich noch einen Cocktail. Nach dem Essen entschloß ich mich zu einem Spaziergang. Als ich zum Hotel zurückkehrte, kam mir der Gedanke, daß ein Whisky-Soda vor dem Zubettgehen nicht schlecht wäre. Also ging ich in die Bar und trank einen. Ich erinnere mich, in dieser Nacht noch einige mehr getrunken zu haben und viele mehr am nächsten Morgen. Ich erinnere mich dunkel, in einem FLugzeug nach New York gesessen und bei der Landung anstelle meiner Frau einen freundlichen Taxifahrer gefunden zu haben. Mit dem fuhr ich ein paar Tage herum. Ich weiß kaum, wohin wir fuhren, was ich sagte und was ich tat. Das nächste, woran ich mich erinnere, war das Krankenhaus, mit unerträglichen geistigen und körperlichen Qualen. Als ich wieder klar denken konnte, rekonstruierte ich den Abend in Washington sorgfältig. Ich war weder auf der Hut gewesen, noch hatte ich versucht, gegen das erste Glas anzukämpfen. Diesmal hatte ich überhaupt nicht an die Konsequenzen gedacht. Ich hatte so sorglos mit dem Trinken angefangen, als wären die Cocktails Limonade gewesen. Auf einmal erinnerte ich mich, was meine Alkoholiker-Freunde mir gesagt und wie sie mir prophezeit hatten, daß für mich - befangen im alkoholischen Denken - Stunde und Ort kämen, da ich wieder trinken würde. Man hatte mir gesagt, daß die Barriere, die ich mir aufgebaut hatte, eines Tages einem unbedeu tendem Anlaß zum Trinken nicht standhalten würde. Gut, genau das war passiert; mehr noch, alles, was ich über Alkoholismus gelernt hatte, war mir überhaupt nicht in den Sinn gekommen. Von diesem Augenblick an wurde mir mein alkoholisches Denken bewußt. Ich sah ein, daß Willenskraft und Selbsterkenntnis gegen ein solch merk würdiges geistiges Vakuum nicht helfen konnten. Ich hatte nie Verständnis für Leute, die sagten, ein Problem hätte sie hoff nungslos überwältigt. Jetzt kannte ich das. Es war wie ein Schlag mit dem Hammer. Zwei Anonyme Alkoholiker besuchten mich. Sie grinsten, was mir nicht besonders gefiel, und fragten mich, ob ich mich als Alkoho liker betrachte und ob es mir dieses Mal wirklich reiche. Ich mußte beidem zustimmen. Sie überhäuften mich mit Beweisen, daß das alkoholische Denken, das ich in Washington gezeigt hatte, ein hoffnungsloser Zustand war. Sie zählten Dutzende von Fällen aus eigener Erfahrung auf. Der letzte Funke Hoffnung, aus eigener Kraft nüchtern zu bleiben, wurde dadurch erstickt. In groben Zügen erläuterten sie mir die spirituelle Lösung und das praktische Programm, mit dem Hunderte ihr Problem mit Erfolg angegangen waren. Obgleich ich nur auf dem Papier zu einer Kirche gehörte, waren ihre Vorschläge vom Verstand her nicht schwer zu fassen. Das Programm war vernünftig, in der Durchführung aber ziemlich drastisch. Das hieß, daß ich einige lebenslang gehegte Auffassungen über Bord werfen mußte. Das war nicht leicht. Als ich mich entschlossen hatte, das durchzustehen, hatte ich im gleichen Augenblick das seltsame Gefühl, daß ich nicht mehr so schwer an meinem Alkoholismus zu tragen hatte. Das hat sich tatsächlich bewahrheitet. Genauso wichtig war die Entdeckung, daß die tiefgreifenden spiri tuellen Grundsätze alle meine Probleme lösen würden. Seitdem bin ich zu einer zufriedeneren und - wie ich hoffe - auch nützlicheren Lebensweise gelangt. Meine frühere Lebensart war auf keinen Fall schlecht, aber die schönsten Augenblicke von damals würde ich nicht gegen die schlechtesten von heute eintauschen. Ich möchte nicht dahin zurück, selbst wenn ich könnte. Die Geschichte von Fred spricht für sich selbst. Wir hoffen, daß sie bei Tausenden ankommt, denen es so ging wie ihm. Er hatte nur den Anfang der Talfahrt erlebt. Die meisten Alkoholiker müssen viel tiefer, bevor sie wirklich anfangen, ihre Probleme zu lösen. Viele Ärzte und Psychiater stimmen mit unserer Ansicht überein. Einer von ihnen, Mitarbeiter eines weltbekannten Krankenhauses, gab einigen von uns folgende Stellungnahme: "Was Ihr über die hoffnungslose Lage des Durchschnittsalkoholikers sagt, ist meiner Meinung nach richtig. Was die zwei von Euch betrifft, deren Geschichte ich gehört habe, so besteht bei mir kein Zweifel, daß es sich hundertprozentig um hoffnungslose Fälle handelte. Da konnte nur noch Gott helfen. Wäret Ihr freiwillig zu mir als Patienten in dieses Krankenhaus gekommen, hätte ich Euch nicht aufgenommen, wenn ich es hätte verhindern können. Die Lage von Leuten wie Ihr ist erschütternd. Obwohl ich nicht religiös bin, habe ich größten Respekt vor der Art, in der Ihr Zugang zu seelischen Dingen gefunden habt. In den meisten Fällen gibt es tatsächlich keine andere Lösung." Um es noch mal zu sagen: Zu gewissen Zeiten hat der Alkoholiker keinen wirksamen geistigen Schutz gegen das erste Glas. Von wenigen Fällen abgesehen, kann weder er selbst noch irgendein anderes menschliches Wesen ihm dazu verhelfen. Dieser Schutz muß von einer höheren Macht kommen. Kapitel 4 Wir Agnostiker In den vorhergehenden Kapiteln haben Sie einiges über Alkoholismus erfahren. Wir hoffen, daß wir den Unterschied zwischen einem Alkoholiker und einem Nichtalkoholiker klargemacht haben. Wenn Sie feststellen, daß Sie nicht mit dem Trinken aufhören können, obwohl Sie es aufrichtig wünschen, oder wenn Sie beim Trinken kaum Kontrolle über die Menge haben, so sind Sie wahrscheinlich Alkoholiker. Wenn das der Fall ist, leiden Sie möglicherweise unter einer Krankheit, die nur durch seelische Erfahrung überwunden werden kann. Für einen, der sich als Atheist oder Agnostiker fühlt, scheint eine solche Erfahrung unmöglich zu sein. Wenn er bei dieser Meinung bleibt, bedeutet das seinen Untergang, besonders wenn er ein hoffnungsloser Alkoholiker ist. Die Entscheidung zwischen dem sicheren Tod durch Alkohol und einem Leben auf seelischer Grundlage ist nicht immer leicht zu treffen. Aber so schwierig ist das gar nicht. Zu Anfang gehörte etwa die Hälfte unserer Freunde zu eben dieser Gruppierung. Einige von uns versuchten zunächst, die Entscheidung zu umgehen. Wider besseres Wissen hofften wir, keine echten Alkoholiker zu sein. Nach einiger Zeit mußten wir eine seelische Grundlage finden - oder es war aus. Wahrscheinlich wird es Ihnen auch so gehen. Kopf hoch. Ungefähr die Hälfte von uns glaubt, Atheist oder Agnostiker zu sein. Unsere Erfahrung zeigt, daß Sie nicht zu verzagen brauchen. Wenn lediglich moralische Richtlinien oder eine bessere Lebensphilosophie genügen würden, mit dem Alkoholismus fertig zu werden, wären viele von uns schon lange wieder in Ordnung. Aber wir mußten erkennen, daß solche Richtlinien und Philosophien uns nicht retten konnten, gleich wie auch immer wir es versuchten. Wir konnten uns noch so sehr wünschen, moralisch zu sein und in der Philosophie Trost zu finden, Tatsache war, wir konnten das mit ganzer Macht wollen, aber die benötigte Kraft war nicht da. Unsere menschlichen Kraftquellen, vom Willen beherrscht, reichten nicht aus, sie versagten vollkommen. Mangel an Kraft, das war unser Dilemma. Wir mußten eine Kraft finden, durch die wir leben konnten, und es mußte eine Kraft, größer als wir selbst, sein. Genau das war es. Aber wo und wie sollten wir diese höhere Macht finden? Darum geht es in diesem Buch. Sein wichtigstes Anliegen ist, Sie eine Kraft finden zu lassen, die größer ist als Sie selbst und die Ihnen hilft, Ihre Probleme zu lösen. Das heißt, wir haben ein Buch geschrieben, von dem wir annehmen, daß es sowohl einen geistig- seelischen wie auch einen moralischen Anspruch hat. Und das bedeutet selbstverständlich auch, daß wir über Gott sprechen werden. Dabei ergeben sich für die Agnostiker Schwierigkeiten. Oft sprechen wir mit einem neuen Freund und erleben, wie seine Hoffnung wächst, während wir über sein Alkoholproblem sprechen und ihm von unserer Gemeinschaft erzählen. Aber sein Gesicht wird lang, wenn wir von seelischen Angelegenheiten reden, besonders wenn wir Gott erwähnen. Wir haben etwas auf den Tisch gebracht, von dem unser Freund glaubt, er hätte es geschickt umgangen oder völlig ignoriert. Wir können es ihm nachfühlen. Auch wir hatten diese ehrlichen Zweifel und Vorurteile. Einige von uns waren ausgesprochen antireligiös. In anderen rief das Wort "Gott" eine Vorstellung wach, mit der jemand versucht hatte, sie während ihrer Kindheit zu beeindrucken. Vielleicht lehnten wir diese bestimmte Vorstellung deshalb ab, weil sie uns unzulänglich schien. Wir bildeten uns ein, daß wir mit dieser Zurückweisung den Gottesgedanken völlig aufgegeben hätten. Uns beunruhigte die Idee, daß der Glaube und die Abhängigkeit von einer Macht, größer als wir selbst, etwas Schwaches, oder gar Feiges wäre. Wir schauten mit tiefem Mißtrauen auf diese Welt voller streitender Menschen, sich bekämpfender Glaubensrichtungen und unerklärlichen Elends. Argwöhnisch betrachteten wir jene, die von sich behaupteten, gläubig zu sein. Wie konnte ein höheres Wesen überhaupt mit all dem etwas zu tun haben? Und wer konnte überhaupt die Existenz eines höheren Wesens begreifen? Aber in bestimmten Augenblicken, etwa wenn wir von einer sternklaren Nacht beeindruckt waren, kam uns der Gedanke: "Wer hat das alles geschaffen?" Ein Gefühl von Ehrfurcht und Staunen überkam uns, aber das war flüchtig und bald vergessen. Ja, das waren die Gedanken und Erfahrungen von uns Agnostikern. Doch wir können Sie schnell beruhigen. Sobald wir die Vorurteile überwinden und unseren Glauben an eine Macht, größer als wir selbst, bekennen konnten, kamen wir vorwärts, obwohl es uns allen unmöglich war, diese Macht, die Gott ist, umfassend zu erklären oder zu verstehen. Sehr zu unserer Beruhigung entdeckten wir, daß wir die Vorstellung, die andere von Gott hatten, nicht zu teilen brauchten. Unsere eigene Vorstellung, so unzureichend sie auch war, genügte, Ihm näher zu kommen und eine Verbindung zu Ihm herzustellen. Sobald wir die mögliche Existenz einer schöpferischen Intelligenz, den Geist des Universums - als Grundlage aller Dinge - anerkannten, bemächtigte sich unser ein neues Gefühl der Kraft und Führung, vorausgesetzt, daß wir auch sonst noch andere einfache Schritte machten. Wir spürten, daß Gott es denen, die Ihn suchen, nicht zu schwer macht. Für uns ist die geistige Sphäre weit, unermeßlich, allumfassend; nicht verboten und nie verschlossen denen, die aufrichtig danach suchen. Sie ist offen für alle, wie wir glauben. Wenn wir also mit Ihnen über Gott sprechen, meinen wir Ihre eigene Vorstellung von Gott. Das trifft auch auf andere religiöse Ausdrücke in diesem Buch zu. Auch wenn Sie Vorurteile gegen religiöse Formulierungen haben, lassen Sie sich dadurch nicht davon abhalten, sich ehrlich zu fragen, was die Begriffe für Sie bedeuten könnten. Zunächst genügte uns das, um mit dem seelischen Wachstum zu beginnen. Damit konnten wir unsere erste bewußte Verbindung zu Gott, wie wir Ihn verstanden, herstellen. Später konnten wir viele Dinge akzeptieren, die vorher außerhalb unserer Reichweite zu sein schienen. Das war Wachstum; denn wenn wir wachsen wollten, mußten wir irgendwo anfangen. So gebrauchten wir unser eigenes Konzept, wie unvollkommen es auch war. Wir mußten uns nur eine kurze Frage stellen: "Glaube ich oder bin ich wenigstens bereit zu glauben, daß es eine Macht gibt, die größer ist als ich selbst?" Sobald einer von sich sagen kann, daß er glaubt oder willens ist zu glauben, versichern wir ihm nach drücklich, daß er auf dem richtigen Weg ist. Es hat sich bei uns wiederholt erwiesen, daß auf diesem einfachen Grundstein ein wunderbarer seelischer Aufbau errichtet werden kann. Das waren großartige Neuigkeiten für uns, denn wir hatten gemeint, wir könnten uns keine seelischen Grundsätze zu eigen machen, ehe wir nicht viele Glaubensdinge akzeptierten, die uns unannehmbar erschienen. Wenn andere uns ihre seelische Entwicklung vorlebten, wie oft sagten wir dann: "Hätte ich nur das, was dieser Mensch hat!" Ich bin sicher, es würde klappen, wenn ich so glauben könnte wie er. Aber ich kann die vielen Glaubensdinge, die für ihn so klar sind, nicht als volle Wahrheit annehmen. Es war tröstlich zu erfahren, daß wir auf einer viel einfacheren Ebene anfangen konnten. Abgesehen davon, daß wir scheinbar unfähig waren, Glaubensdinge einfach anzunehmen, standen uns oft Eigensinn, Empfindlichkeit und unbedachtes Vorurteil im Weg. Viele von uns waren so empfindlich, daß sogar eine beiläufige Erwähnung religiöser Dinge sie in Harnisch brachte. Diese Denkweise mußten wir aufgeben. Obwohl sich einige von uns sträubten, gab es keine großen Schwierigkeiten, solche Gefühle über Bord zu werfen. Angesichts dessen, was der Alkohol angerichtet hatte, waren wir bald geistig- seelischen Dingen gegenüber so aufgeschlossen, wie wir es anderen Dingen gegenüber schon sein konnten. In dieser Hinsicht war Alkohol von großer Überzeugungskraft. Er zwang uns schließlich zu vernünftigem Denken. Manchmal war das ein langwieriger Vorgang; wir hofften nur, daß kein anderer so lange voller Vorurteile ist, wie es einige von uns waren. Der Leser mag immer noch fragen, warum er an eine Macht, größer als er selbst, glauben soll. Wir meinen, daß es gute Gründe dafür gibt. Einige davon wollen wir uns mal ansehen. Der praktische Mensch von heute schwört auf Tatsachen und Ergeb nisse. Gleichwohl akzeptiert das zwanzigste Jahrhundert bereitwillig alle möglichen Theorien, wenn sie nur auf Tatsachen begründet sind. Beispielsweise gibt es zahlreiche Theorien über die Elektrizität, an denen niemand zweifelt. Warum diese Bereitwilligkeit? Weil wir nicht erklären können, was geschieht, wenn wir am Schalter drehen, obwohl wir wahrnehmen, was damit veranlaßt wird. Heutzutage vertraut jeder in vieler Hinsicht dem Augenschein, ohne daß es für alles eines sichtbaren Beweises bedarf. Und zeigt die Wissenschaft nicht, daß der sichtbare Beweis der schwächste ist? Ständig zeigt sich bei Erforschung der materiellen Welt, daß der äußere Anschein nicht der inneren Wirklichkeit entspricht. Dafür ein Beispiel: Der einfache Stahlträger besteht aus einer großen Anzahl von Elektronen, die mit unheimlicher Geschwindigkeit umeinanderwirbeln. Diese winzigen Körper gehorchen genauen Gesetzen, die für die ganze materielle Welt gültig sind. Die Wissenschaft lehrt es uns. Wir haben keinen Grund zu zweifeln. Wenn uns jedoch die vollkommen logische Annahme präsentiert wird, daß es hinter der materiellen Welt und dem materiellen Leben, so wie wir es sehen, eine allmächtige, führende, schöpferische Kraft gibt, meldet sich in uns sofort Widerspruch. Wir gehen emsig daran, uns zu beweisen, daß es nicht so ist. Wir lesen dicke Bücher und ergehen uns in windigen Streitereien in der Annahme, das Universum brauche keinen Gott zu seiner Erklärung. Wären unsere Behauptungen wahr, würde sich daraus ergeben, daß das Leben aus dem Nichts entstanden ist, keine Bedeutung hat und nirgendwohin führt. Anstatt uns selbst als intelligente Helfer und Mitstreiter von Gottes nicht endender Schöpfung zu betrachten, wollten wir Agno stiker und Atheisten glauben, daß unsere menschliche Intelligenz die Krönung, das A und O, Anfang und Ende von allem war. Ziemlich großspurig, nicht wahr? Wir, die wir diesen unsicheren Pfad gegangen sind, bitten Sie, alle Vorurteile beiseite zu lassen, sogar die gegen die bestehenden Religionen. Wie auch immer die menschlichen Unzulänglichkeiten der verschiedenen Religionen sein mögen, aus Erfahrung wissen wir, daß der Glaube Millionen von Menschen Lebensinhalt gegeben hat. Gläubige Menschen haben eine schlüssige Vorstellung, worum es im Leben geht. Wir hatten überhaupt keine. Wir machten uns einen Spaß daraus, innere Überzeugungen anderer und darauf fußendes Handeln in spöttischer und höhnischer Weise zu zerpflücken. Dabei haben wir nicht zur Kenntnis genommen, daß viele seelisch-orientierte Menschen aller Rassen, Farbe und Bekenntnisse einen Grad von Stabilität, Zufriedenheit und Nützlichkeit zeigten, den wir selbst hätten anstreben sollen. Statt dessen sahen wir die menschlichen Schwächen dieser Leute, und manchmal benutzten wir ihre Unzulänglichkeiten als Grund zur Pauschalverurteilung. Wir sprachen von Intoleranz, waren aber selbst intolerant. Uns entging die Wirklichkeit und Schönheit des Waldes, weil wir uns von der Häßlichkeit einiger seiner Bäume ablenken ließen. Nie schenkten wir der seelischen Seite des Lebens ein offenes Ohr. Wenn wir unsere Lebensgeschichte erzählen, ergibt es sich, daß wir uns auf unterschiedlichen Wegen dem Glauben an die Macht genähert haben, die größer ist als wir selbst. Ob uns ein gewisser Weg oder eine Vorstellung zusagt, macht kaum einen Unterschied. Die Erfahrung hat uns gelehrt, daß wir nur das Ziel im Auge behalten. Das sind Fragen, die jeder einzelne für sich selbst beantworten muß. In einem jedoch sind sich diese Männer und Frauen auffallend einig. Jeder einzelne hat Zugang gefunden zu einer Macht, größer als er selbst, und glaubt an sie. Diese Macht hat in jedem Fall das Wunderbare, das menschlich Unmögliche vollbracht. Wie es ein berühmter amerikanischer Staatsmann ausdrückte: "Das Ergebnis zählt." Hier ist die Rede von tausenden von Männern und Frauen, die mitten im Leben stehen. Sie bekennen freimütig, daß sich, seit sie begonnen haben, an eine höhere Macht zu glauben, seit sie eine bestimmte Einstellung zu dieser Macht haben und einige ganz einfache Dinge tun, in ihrer Art zu leben und zu denken ein grundlegender Wandel vollzogen hat. Zusammenbruch und Verzweiflung vor Augen und angesichts totalen Verfalls ihres Menschseins fanden sie eine neue Macht, fanden Frieden, Glück und einen neuen Lebenssinn. Das geschah bald, nachdem sie ganzen Herzens einige einfache Bedingungen erfüllt haben. Einst durcheinander und verwirrt durch die scheinbare Sinnlosigkeit ihrer Existenz, sind sie heute ein Beweis für die tieferliegenden Gründe, warum sie sich im Leben so schwer taten. Sie erzählen, warum ihr Leben so unbefriedigend war, ganz abgesehen vom Trinkproblem. Sie zeigen auf, wie die Verwandlung über sie gekommen ist. Wenn viele Hunderte sagen können, daß das Bewußtsein der Gegenwart Gottes heute die wichtigste Tatsache in ihrem Leben ist, sind sie ein überzeugender Grund, daß man Glauben haben sollte. Unsere Welt hat in den letzten hundert Jahren mehr materiellen Fortschritt gemacht als in den Tausenden von Jahren davor. Die Gründe dafür sind allgemein bekannt. Historiker, die sich mit der Geschichte des Altertums beschäftigen, sagen uns, daß die Menschen jener Tage so intelligent waren wie die Besten von heute. Trotzdem war der materielle Fortschritt in früherer Zeit äußerst langsam. Der Geist moderner, wissenschaftlicher Untersuchungen, Forschung und Erfindung war nahezu unbekannt. Im materiellen Bereich war der menschliche Geist gefesselt durch Aberglauben, Tradition und vielerlei fixe Ideen. Zeitgenossen von Columbus war die Vorstellung einer runden Erde geradezu absurd. Andere wieder hätten Galilei fast hingerichtet wegen seiner astronomischen Ketzerei. Wir fragten uns folgendes: Sind nicht einige von uns genauso voreingenommen und unvernünftig in geistig-seelischen Dingen, wie es unsere Vorfahren in materiellen Dingen waren? Selbst in diesem Jahrhundert hatten amerikanische Zeitungen Angst, den Bericht über den ersten erfolgreichen Flug der Gebrüder Wright bei Kittyhawk zu drucken. Waren denn nicht alle Flugversuche zuvor fehlgeschlagen? Landete nicht Professor Langleys Flugmaschine auf dem Grunde des Potomac-Flusses? War es nicht so, daß die besten mathematischen Gehirne bewiesen hatten, daß der Mensch niemals würde fliegen können? Hatten die Menschen nicht gesagt, daß Gott dieses Vorrecht den Vögeln vorbehalten hätte? Nur dreißig Jahre später war die Eroberung der Luft fast eine alte Geschichte und waren Flugreisen eine Selbstverständlichkeit. Auf den meisten Gebieten hat unsere Generation eine totale Befreiung des Denkens miterlebt. Zeige einem Hafenarbeiter in der Sonntagsbeilage einer Zeitung den Artikel über Pläne, den Mond mit einer Rakete zu erforschen, und er wird sagen: "Ich wette, sie schaffen es - und vielleicht dauert es auch gar nicht mehr so lange." Ist es nicht bezeichnend für unser Zeitalter, mit welcher Leichtigkeit wir alte Ideen gegen neue austauschen, wie schnell wir bereit sind, unbrauchbar gewordene Theorien und Erfindungen auszuwechseln gegen neue, die funktionieren? Wir mußten uns fragen, warum wir bei unseren menschlichen Problemen nicht die gleiche Bereitschaft aufbringen konnten, unsere Ansicht zu ändern. Wir hatten Probleme mit zwischenmenschlichen Beziehungen, wir konnten unsere Gefühlswelt nicht kontrollieren. Wir waren eine Beute für Trübsal und Depressionen, wir waren nicht lebenstüchtig, wir hatten ein Gefühl der Nutzlosigkeit, wir waren voller Furcht, wir waren unglücklich. Es schien, daß wir keine echte Hilfe für andere Leute sein konnten. War nicht eine grundsätzliche Lösung dieser heillosen Verwirrungen wichtiger als ein Filmbericht über den Mondflug? Selbstverständlich. Als wir sahen, wie andere ihre Probleme durch einfaches Vertrauen auf den Geist des Universums lösten, mußten wir aufhören, die Allmacht Gottes zu bezweifeln. Unsere Gedanken versagten, der Gottesgedanke jedoch nicht. Der fast kindliche Glaube der Wright-Brüder, eine Maschine bauen zu können, die fliegt, war die Antriebskraft für das Gelingen. Ohne diesen Glauben wäre nichts erfolgt. Wir Agnostiker und Atheisten hielten an dem Gedanken fest, daß wir aus eigener Kraft unsere Probleme lösen könnten. Als uns andere zeigten, daß die Kraft Gottes in ihnen wirkte, kamen wir uns wie die Leute vor, die darauf bestanden hatten, daß die Wrights nie fliegen würden. Logik ist eine große Sache, uns gefiel sie und gefällt sie noch. Nicht zufällig wurde uns die Kraft gegegben, logisch zu denken, die Kraft, die Wahrnehmung unserer Sinne zu überprüfen und Schlüsse zu ziehen. Das ist eine der großartigsten menschlichen Eigenschaften. Wir agnostisch Orientierten waren nicht zufrieden mit einer Lehre, die sich nicht vernünftig begreifen und deuten läßt. Wir haben deshalb Schwierigkeiten zu erklären, warum wir unseren jetzigen Glauben für vernünftig halten, warum wir es für vernunftgemäßer und logischer ansehen, zu glauben als nicht zu glauben, warum wir sagen, daß unser früheres Denken unklar und verwaschen war, als wir unsere Hände im Zweifel erhoben und riefen: "Wir wissen es nicht." Als wir zu Alkoholikern wurden, am Boden zerstört durch eine selbst herbeigeführte Krise, die wir nicht hinauszögern und der wir nicht ausweichen konnten, mußten wir uns furchtlos der Frage stellen, ob Gott alles ist oder ob Er nichts ist. Es gibt einen Gott, oder es gibt keinen. Welche Entscheidung sollten wir treffen? An diesem Punkt angekommen, wurden wir unausweichlich vor die Glaubensfrage gestellt. Wir konnten uns an der Frage nicht mehr vorbeimogeln. Einige von uns waren bereits auf der Brücke der Vernunft weit zu dem ersehnten Ufer des Glaubens gegangen. Die Umrisse und die Verheißung des Neulands brachten Glanz in müde Augen und frischen Mut in erlahmte Seelen. Freundliche Hände streckten sich zum Willkommen entgegen. Wir waren dankbar, daß uns die Vernunft so weit geführt hatte. Aber irgendwie zögerten wir noch, das Ufer zu betreten. Wahrscheinlich hatten wir uns auf dieser letzten Meile zu sehr auf die Vernunft verlassen und wollten nur ungern diese Stütze aufgeben. Das war nur natürlich. Wir wollten etwas genauer darüber nachden ken. Waren wir nicht unbewußt durch eine bestimmte Art von Glauben dorthin gebracht worden, wo wir jetzt standen? Glaubten wir denn nicht an unsere eigene Urteilskraft? Hatten wir kein Vertrauen in unsere Fähigkeit zu denken? War das nicht eine Art Glauben? Ja, wir waren gläubig, kniefällig vor dem Götzen der Vernunft. Wie auch immer, wir entdeckten, daß der Glaube zu allen Zeiten Bestandteil unseres Lebens gewesen war. Wir entdeckten auch, daß wir Götzendiener gewesen waren. Und was für eine geistige Gänsehaut uns das beschert hatte! Hatten wir nicht so oder so Menschen, Gefühle, Dinge, Geld und uns selbst angebetet? Und dann aus edlerem Beweggrund heraus den Sonnenuntergang, die See oder eine Blume andächtig betrachtet? Wer von uns hatte nicht irgend etwas oder irgend jemanden geliebt? Was hatten diese Gefühle, diese Liebe, diese Anbetung mit reiner Vernunft zu tun? Wenig oder nichts, wie wir endlich einsahen. War das alles nicht der Stoff, aus dem unser Leben geschneidert war? Bestimmten diese Gefühle schließlich nicht die Richtung unseres Daseins? Man konnte unmöglich sagen, wir hätten keine Fähigkeit zum Glauben, zur Liebe und zur Verehrung. In dieser oder jener Form war unser Leben stets auf Vertrauen begründet. Stellen Sie sich ein Leben ohne Glauben vor! Gäbe es nur die reine Vernunft, wäre das kein Leben. Aber natürlich glaubten wir an das Leben. Es war da, obgleich wir es nicht in dem Sinn beweisen konnten, wie man beweisen kann, daß die kürzeste Entfernung zwischen zwei Punkten die Gerade ist. Konnten wir immer noch sagen, daß alles nichts war als eine Anhäufung von Elektronen, aus dem Nichts entstanden, ohne Bdeutung, auf dem Weg ins Nichts? Natürlich konnten wir das nicht sagen. Sebst die Elektronen scheinen es besser zu wissen, jedenfalls nach Meinung der Chemiker. Also sahen wir, daß die Vernunft nicht alles ist. Außerdem ist der Verstand, wie er von den meisten von uns benutzt wird, nicht unbedingt zuverlässig, auch wenn er in den besten Köpfen steckt. Wie war das noch mit den Menschen, die bewiesen hatten, daß der Mensch nie fliegen kann? Wir jedoch sahen eine andere Art Flug, eine seelische Befreiung von dieser Welt. Wir sahen Menschen, die über ihre Probleme hin auswuchsen. Sie sagten, Gott habe diese Dinge möglich gemacht, und wir lächelten nur. Wir hatten seelische Befreiung gesehen, wollten uns aber einreden, es wäre nicht wahr. In Wirklichkeit hielten wir uns selbst zum Narren, denn tief im Inneren eines jeden Mannes, einer jeden Frau und eines jeden Kindes steckt ein Gottesbewußtsein. Es mag durch Elend, Prunk oder Anbetung anderer Dinge verdeckt sein, aber in irgendeiner Form ist es vorhanden. Denn der Glaube an eine Macht, größer als wir selbst, und das wunderbare Wirken dieser Macht im menschlichen Leben sind Tatsachen, die so alt sind wie die Menschheit selbst. Schließlich sahen wir ein, daß der Glaube an irgendeine Art von Gott ein Teil von uns selbst war, genauso wie das Gefühl, das wir einem Freund entgegenbringen. Manchmal mußten wir furchtlos nach Gott suchen, aber Er war da. Er war eine Realität wie wir. Wir fanden die große Wahrheit tief in uns selbst. Letzten Endes kann Er nur dort gefunden werden. So war das mit uns. Wir können den Boden nur ein wenig ebnen. Wenn unsere Aussage hilft, Vorurteile zu beseitigen, Sie in die Lage versetzt, ehrlich zu denken, und Sie darin bestärkt, in Ihrem Inneren eifrig zu suchen, dann können Sie, wenn Sie wollen, uns auf der breiten Straße begleiten. Mit dieser Einstellung können Sie nicht fehlgehen. Sie werden sich sicher Ihres Glaubens bewußt. In diesem Buch werden Sie über Erfahrungen eines Mannes lesen, der glaubte, er wäre ein Atheist. Seine Geschichte ist so interessant, daß einiges davon jetzt erzählt werden sollte. Sein Sinneswandel war dramatisch, überzeugend und bewegend. Unser Freund war der Sohn eines Geistlichen. Er besuchte eine konfessionelle Schule, wo er gegen das, was er als Übermaß an religiöser Erziehung empfand, rebellierte. Jahre danach wurde er von Kummer und Enttäuschung verfolgt. Bankrott, Irrsinn, tödliche Krankheit, Selbstmord - diese Katastrophen in seiner engsten Familie verbitterten und bedrückten ihn. Nachkriegsernüchterung, immer schwererer Alkoholismus, drohender geistiger und körperlicher Zusammenbruch brachten ihn an den Rand der Selbstzerstörung. Eines Nachts während eines Krankenhausaufenthaltes kam ein Alkoholiker auf ihn zu, der ein seelisches Erlebnis gehabt hatte. Aus unserem Freund brach es erbittert hervor: "Wenn es einen Gott gibt, so hat er bestimmt nichts für mich getan!" Aber später, als der Patient wieder allein in seinem Zimmer war, stellte er sich die Frage: "Ist es möglich, daß all die gläubigen Menschen, die ich kannte, Unrecht haben?" Während er über die Antwort nachgrü belte, fühlte er sich, als sei er in der Hölle. Dann, wie ein Donnerschlag, kam ihm ein großartiger Gedanke. Er verdrängte alles andere. "Wer bist du, daß du zu behaupten wagst, es gibt keinen Gott?" Dieser Mann erzählt, daß er aus dem Bett taumelte und auf die Knie fiel. Unmittelbar darauf war er von der Überzeugung überwältigt, daß Gott gegenwärtig ist. Mit der Gewalt einer großen Flutwelle strömte es über ihn und durch ihn hindurch. Die Barrieren, die er im Laufe der Jahre aufgebaut hatte, wurden hinweggeschwemmt. Er fühlte die Gegenwart unendlicher Kraft und Liebe, er hatte das Ufer betreten. Zum ersten Mal lebte er in der bewußten Gemeinschaft mit seinem Schöpfer. Damit war der Grundstein für unseren Freund gelegt. Auch spätere Erschütterungen konnten ihm nichts anhaben. Sein Alkoholproblem war von ihm genommen. Es verschwand eben in dieser Nacht vor vielen Jahren. Von wenigen Augenblicken der Versuchung abgesehen, ist bei ihm der Gedanke an Alkohol nie wieder aufgetaucht, und dann überkam ihn jedesmal ein großer Widerwille. Offensichtlich konnte er nicht trinken, auch wenn er gewollt hätte. Gott hatte ihm seine geistige Gesundheit wiederge geben. Wenn das nicht eine Wunderheilung ist! Eigentlich war es ganz einfach. Die Umstände hatten ihn zum Glauben gebracht. Demütig vertraute er sich seinem Schöpfer an - er hatte seinen Weg gefun den. Genauso hat Gott auch uns allen geistige Gesundheit wiedergegeben. Diesem Mann kam die Erleuchtung plötzlich. Bei einigen von uns geht es langsamer. Aber Er ist zu allen gekommen, die Ihn ehrlich suchten. Als wir uns Ihm näherten, offenbarte Er sich uns. Kapitel 5 Wie es funktioniert Selten haben wir jemanden gesehen, der gescheitert ist, obwohl er unseren Weg gewissenhaft gegangen war. Nicht zur Genesung gelangen diejenigen, die sich nicht ganz in dieses einfache Programm einbringen können oder wollen. Meistens sind es Männer und Frauen, die aus ihrer Veranlagung heraus sich selbst gegenüber nicht ehrlich sein können. Solche Unglücklichen gibt es. Es ist nicht ihre Schuld. Es scheint, als seien sie so geboren. Sie sind von Natur aus nicht in der Lage, eine Lebensweise anzunehmen und für sich zu entwickeln, die eine absolute Ehrlichkeit verlangt. Ihre Genesungschancen liegen unter dem Durchschnitt. Darüber hinaus gibt es auch Menschen, die unter ernsten Störungen in ihrem Denken und Fühlen leiden. Dennoch genesen viele von ihnen, wenn sie die Fähigkeit haben, ehrlich zu sein. Unsere Lebensgeschichten offenbaren, wie wir waren, was geschah und wie wir heute sind. Wenn Sie sich darüber klar geworden sind, daß Sie das haben wollen, was wir heute besitzen, und wenn Sie willens sind, den ganzen Weg zu gehen, um es zu bekommen, dann sind Sie auch bereit, dafür gewisse Schritte zu tun. Vor manchen Schritten scheuten wir zurück. Wir dachten, wir könnten einen bequemeren Weg finden. Aber das ging nicht. Ernsthaft und eindringlich bitten wir Sie, von Anfang an furchtlos und gründlich zu sein. Einige von uns hatten versucht, an alten Vorstellungen festzuhalten: Das Resultat war gleich Null, bis wir kapitulierten. Denken Sie daran, daß wir es mit Alkohol zu tun haben. Er ist verschlagen, trügerisch, mächtig! Ohne Hilfe ist es viel zu schwer für uns. Aber es gibt einen, der alle Kraft hat - und das ist Gott. Mögen Sie ihn jetzt finden! Halbe Sachen nützen nichts. Wir standen am Wendepunkt. Hingebungsvoll baten wir Ihn um seinen Schutz und seine Hilfe. Hier sind die Schritte, die wir gegangen sind und die als Programm zur Genesung empfohlen werden. 1. Wir gaben zu, daß wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind - und unser Leben nicht mehr meistern konnten. 2. Wir kamen zu dem Glauben, daß eine Macht, größer als wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann. 3. Wir faßten den Entschluß, unseren Willen und unser Leben der Sorge Gottes - wie wir Ihn verstanden - anzuvertrauen. 4. Wir machten eine gründliche und furchtlose Inventur in unserem Inneren. 5. Wir gaben Gott, uns selbst und einem anderen Menschen gegenüber unverhüllt unsere Fehler zu. 6. Wir waren völlig bereit, all diese Charakterfehler von Gott beseitigen zu lassen. 7. Demütig baten wir Ihn, unsere Mängel von uns zu nehmen. 8. Wir machten eine Liste aller Personen, denen wir Schaden zuge fügt hatten, und wurden willig, ihn bei allen wieder gutzumachen. 9. Wir machten bei diesen Menschen alles wieder gut - wo immer es möglich war -, es sei denn, wir hätten dadurch sie oder andere verletzt. 10. Wir setzten die Inventur bei uns fort, und wenn wir Unrecht hatten, gaben wir es sofort zu. 11. Wir suchten durch Gebet und Besinnung die bewußte Verbindung zu Gott - wie wir Ihn verstanden - zu vertiefen. Wir baten Ihn nur, uns Seinen Willen erkennbar werden zu lassen und uns die Kraft zu geben, ihn auszuführen. 12. Nachdem wir durch diese Schritte ein seelisches Erwachen erlebt hatten, versuchten wir, diese Botschaft an Alkoholiker weiterzugeben und unser tägliches Leben nach diesen Grundsätzen auszurichten. Viele von uns riefen aus: "Was sind das für Vorschriften! Das schaffe ich nie." Seien Sie nicht mutlos. Keiner von uns war in der Lage, diese Prinzipien auch nur annähernd zu befolgen. Wir sind keine Heiligen. Es kommt darauf an, daß wir willens sind, anhand geistig-seelischer Grundsätze zu wachsen. Die Prinzipien, die wir aufstellten, sind Empfehlungen, die zum Fortschritt führen. Uns ist innerlicher Fortschritt wichtiger als innerliche Vollkommenheit. Unsere Auffassung vom Alkoholismus, das Kapitel "Wir Agnostiker" und unsere Lebensgeschichten offenbaren drei wesentliche Erkennt nisse: a) ... daß wir Alkoholiker sind und unser Leben nicht mehr meistern konnten; b) ... daß wahrscheinlich keine menschliche Macht uns vom Alkoho lismus befrei- en konnte; c) ... daß aber Gott es konnte und es wollte, wenn wir Ihn suchten. Als wir das begriffen hatten, waren wir beim Dritten Schritt angelangt. Darin steht, daß wir entschlossen waren, unseren Willen und unser Leben der Sorge Gottes, wie wir Ihn verstanden, anzuvertrauen. Was meinen wir damit und wie gehen wir vor? Zunächst müssen wir davon überzeugt sein, daß ein Leben, das von Eigenwillen gesteuert wird, kaum Erfolg haben kann. Mit dieser Einstellung kommen wir fast immer mit irgend etwas oder irgend jemandem in Konflikt, selbst wenn unsere Beweggründe gut sind. Die meisten Menschen versuchen, durch ihre eigene Antriebskraft zu leben. Jeder ist wie ein Schauspieler, der die ganze Vorstellung allein bestreiten will. Er versucht ständig, die Beleuchtung, das Ballett und die Szenerie sowie den Rest der Schauspieler nach seinem Kopf zu arrangieren. Wenn man seine Arrangements nur so lassen würde, wenn die Leute nur das täten, was er wollte, wäre die Vorstellung ein Erfolg. Jeder, er selbst eingeschlossen, wäre zufrieden. Das Leben wäre wunderbar. Beim Versuch, dieses alles zu arrangieren, mag der Schauspieler manchmal gute Eigenschaften zeigen. Vielleicht ist er freundlich, rücksichtsvoll, geduldig und großzügig, vielleicht sogar bescheiden und uneigennützig. Er kann aber auch gemein, egoistisch, eigennützig und unehrlich sein. Er wird aber, wie die meisten Menschen, wahrscheinlich unterschiedliche Charakterzüge haben. Was aber geschieht gewöhnlich? Die Aufführung läuft nicht sehr gut. Er fängt an zu glauben, daß er vom Schicksal nicht richtig behandelt wird. Er beschließt, sich noch mehr anzustrengen. Bei nächster Gelegenheit wird er noch anspruchsvoller oder nachgiebiger - je nachdem. Die Darstellung gefällt ihm immer noch nicht. Selbst wenn er zugibt, daß es auch ein wenig an ihm liegen könnte, ist er dennoch davon überzeugt, daß die anderen mehr Schuld daran haben. Er wird ärgerlich, entrüstet und bedauert sich selbst. Was ist sein Grundproblem? Ist er nicht in Wirklichkeit gerade dann selbstsüchtig, wenn er versucht, freundlich zu sein? Ist er nicht das Opfer von Selbsttäuschung, wenn er meint, der Welt Befriedigung und Glück für sich abzuringen, wenn er es nur richtig anstellt? Ist es für alle anderen Mitspieler klar, welches seine wahren Ziele sind? Führt sein Vorgehen nicht dazu, daß es ihm die anderen heimzahlen wollen, indem sie ihm die Show stehlen? Stiftet er nicht auch in seinen besten Augenblicken eher Unruhe als Frieden? Unser Schauspieler ist extrem ichbezogen. Er benimmt sich wie ein wohlhabender Ruheständler, der im Winter im Sonnenschein FLoridas über die schlechte Lage der Nation klagt; wie der Geistliche, der die Sünden des 20. Jahrhunderts bejammert; wie Politiker und Weltverbesserer, die sicher sind, daß sich eine ideale Gesellschaft verwirklichen ließe, wenn nur der Rest der Welt mitmachen würde; wie der gesetzlose Geldschrankknacker, der meint, die Gesellschaft habe ihm Unrecht getan. Und nicht anders benimmt sich der Alkoholiker, der alles verloren hat und eingesperrt worden ist. Wenn wir auch noch so widersprechen, sind nicht die meisten von uns mit sich selbst, mit ihrem Groll und ihrem Selbstmitleid befaßt? Egoismus - Ichbezogenheit! Das, glauben wir, ist die Wurzel allen Übels. Getrieben von allen möglichen Formen von Furcht, Selbsttäuschung, Egoismus und Selbstmitleid treten wir unseren Mitmenschen auf die Füße, und sie schlagen zurück. Hin und wieder verletzen sie uns, ohne das wir es anscheinend provoziert haben. Aber unweigerlich stellt sich heraus, daß wir irgendwann in der Vergangenheit egoistische Entscheidungen getroffen haben, die uns später verwundbar machten. Wir glauben, daß wir uns unsere Schwierigkeiten im wesentlichen selbst geschaffen haben. Sie erwachsen aus uns selbst, und der Alkoholiker ist ein Musterbeispiel für einen Menschen, der sich eigensinnig über alle Schranken hinwegsetzt, obwohl er das meistens nicht zugibt. Vor allem müssen wir Alkoholiker uns von dieser Selbstsucht befreien. Wir müssen es - oder sie bringt uns um! Mit Gott wird es gelingen. Ohne seine Hilfe scheint es meist unmöglich, von dieser Ichbezogenheit wegzukommen. Viele von uns hatten moralische oder philosophische Überzeugungen in Hülle und Fülle, aber wir konnten nicht danach leben, obwohl wir es gern wollten. Ebensowenig konnten wir unsere Selbstsucht wesentlich reduzieren, wie sehr wir es auch wünschten oder aus eigener Kraft versuchten. Wir waren auf Gottes Hilfe angewiesen. Das ist das Wie und Warum. Zu allererst mußten wir aufhören, den lieben Gott zu spielen. Es funktionierte nicht. Als nächstes beschlossen wir, daß von jetzt an Gott in diesem Drama des Lebens unser Regisseur sein sollte. Er ist der Chef, und wir handeln in Seinem Auftrag. Er ist der Vater, und wir sind Seine Kinder. Die meisten guten Ideen sind einfach. Und diese Auffassung war der Schlußstein des neuen Triumpfbogens, durch den hindurch wir zur Freiheit gelangten. Als wir uns ernsthaft zu dieser Lebenseinstellung bekannt hatten, folgten alle möglichen bemerkenswerten Dinge. Wir hatten einen neuen "Chef"; Er war allmächtig. Er gab uns das, was wir brauchten, wenn wir zu Ihm standen und Seine Arbeit gut ausführten. Auf dieser Grundlage ließ das Interesse an uns selbst, unseren kleinen Plänen und Vorhaben immer mehr nach. Zunehmend interessierten wir uns dafür, was wir dem Leben beisteuern konnten. Sobald wir neue Kraft in uns spürten, sobald wir uns an unserem Seelenfrieden erfreuten, sobald wir entdeckten, daß wir dem Leben erfolgreich entgegentreten konnten, sobald wir uns Seiner Gegenwart bewußt wurden, verloren wir unsere Furcht vor dem Heute, dem Morgen und der Zukunft. Wir waren wiedergeboren. Jetzt waren wir mitten im Dritten Schritt. Viele von uns sagten zu unserem Schöpfer, wie wir Ihn verstanden: "Gott, ich bin Dein, verfüge über mich, Dein Wille geschehe. Erlöse mich von den Fesseln meines Ichs, damit ich Deinen Willen besser ausführen kann. Nimm meine Schwierigkeiten hinweg, damit der Sieg über sie Zeugnis ablegen möge von Deiner Macht, Deiner Liebe, Deiner Führung gegenüber den Menschen, denen ich helfen möchte. Möge ich immer Deinen Willen ausführen!" Bevor wir diesen Schritt taten, haben wir gut nachgedacht und uns geprüft, ob wir dazu bereit waren, so daß wir uns schließlich ohne Einschränkung in Gottes Hand geben konnten. Wir fanden es wünschenswert, diesen seelischen Schritt mit einem verständnisvollen Menschen zu tun, vielleicht unserer Frau, dem besten Freund oder einem geistlichen Berater. Allerdings ist es besser, Gott allein gegenüberzutreten als mit jemandem, der nicht das richtige Verständnis dafür aufbringt. Natürlich war die Wahl der Worte jedem selbst überlassen, solange zum Ausdruck kam, daß wir uns Ihm rückhaltlos anvertrauten. Das war erst ein Anfang: Wenn er aber ehrlich und demütig gemacht wurde, war eine starke Wirkung manchmal sofort spürbar. Zunächst stürzten wir uns voller Eifer in die Arbeit. Wir begannen mit einem inneren Hausputz, etwas, das viele von uns bis dahin noch nie versucht hatten. Unser Entschluß, uns Gott anzuvertrauen, war ein lebenswichtiger und entscheidender Schritt. Er konnte jedoch nur dann wirksam werden, wenn darauf eine echte Anstrengung folgte, den Dingen, die uns den Weg versperrten, ins Auge zu sehen und uns von ihnen zu lösen. Wir mußten also bis zu den Ursachen und inneren Voraussetzungen vordringen. Aus diesem Grund begannen wir mit einer persönlichen Inventur. Das war der Vierte Schritt. Ein Geschäft, das nicht regelmäßig Inventur macht, geht ge- wöhnlich pleite. Die Inventur im Geschäftsleben ist ein Prozeß, bei dem Tatbestände festgestellt werden, mit denen man sich auseinandersetzen muß. Es geht um eine Bestandsaufnahme. Ein Ziel dabei ist, beschädigte und unverkäufliche Ware festzustellen und sich ohne Bedauern schnell davon zu trennen. Wenn ein Geschäftsinhaber erfolgreich sein will, darf er sich über den wirklichen Wert seiner Ware nichts vormachen. Genau das gleiche taten wir mit unserem Leben. Wir machten ehrlich Inventur, Zuerst suchten wir die Fehler in unserem Verhalten, die unserem Versagen zugrunde lagen. Überzeugt davon, daß unser Ich in seinen verschiedenen Erscheinungsformen uns immer wieder Niederlagen beigebracht hatte, untersuchten wir nun, wo und wie sich das Ich gewöhnlich äußert. Groll ist der Missetäter Nummer eins. Er zerstört mehr Alkoholiker, als es andere Dinge tun. Er ist der Ursprung aller seelischen Erkrankungen. Wir waren ja nicht nur geistig und körperlich, sondern auch seelisch krank. Wenn wir die seelische Krankheit überwunden haben, werden wir auch geistig und körperlich wieder gesund. Bei der Auseinandersetzung mit unserem Groll machten wir eine Liste von Leuten, Institutionen und Prinzipien, über die wir uns geärgert hatten. Wir fragten uns, warum wir uns geärgert hatten. Meistens fanden wir heraus, daß unsere Selbstachtung, unsere Brieftaschen, unser Ehrgeiz, unsere Erwartungen, unsere persönlichen Beziehungen (einschließlich Sex) verletzt oder bedroht waren. Wir waren verletzt. Wir waren "fuchsteufelswild". Auf unsere "Groll-Liste" schreiben wir neben jeden Namen die uns zugefügten Kränkungen. Waren es unsere Selbstachtung, unsere Sicherheit, unsere Ambitionen, unsere persönlichen oder sexuellen Beziehungen, die beeinträchtigt waren? Wir machten es, wenn möglich, so klar wie in folgendem Beispiel: Ich bin verärgert Grund: Verletzt bei mir: über: Herrn Meier Sein Interesse an meiner Sexualbezie- hung Frau. Selbstachtung (Angst) Erzählte meiner Frau von Sexualbezie- hung meiner Geliebten. Selbstachtung (Angst) Meier könnte meine Stel- Sicherheit lung im Büro bekommen. Selbstachtung (Angst) Frau Müller Ist eine dumme Gans. Sie Persönliche hat mich von oben herab Beziehungen behandelt. Ließ ihren Selbstachtung (Angst) Mann wegen des Trinkens einsperren. Er ist mein Freund. Sie ist eine Klatschbase. Meinen Arbeitgeber Ist unberechenbar unge- Selbstachtung (Angst) recht. Ein Sklaventrei- Sicherheit ber, droht mich hinauszu- werfen, weil ich trinke und zu hohe Spesen ab- rechne. Meine Frau Versteht mich nicht und Stolz - per- sönliche nörgelt. Mag Meier gern. sexuelle Beziehungen Will das Haus auf ihren Sicherheit (Angst) Namen überschrieben ha- ben. Wir blickten auf unser Leben zurück. Nichts zählte außer Gründ lichkeit und Ehrlichkeit. Wir betrachteten uns das Ergebnis sorg fältig. Das erste, was uns auffiel, war, daß diese Welt und ihre Menschen oft Unrecht hatten. Bis zu diesem Ergebnis kamen die meisten, weiter nicht. Wir schlossen daraus, daß die Menschen uns weiterhin Unrecht taten, und wir blieben gekränkt. Manchmal hatten wir Gewissensbisse, und dann waren wir mit uns selbst böse. Je mehr wir kämpften und versuchten, unseren eigenen Willen durchzusetzen, um so schlimmer wurde es. Es war wie im Krieg, der Sieger gewann nur scheinbar. Unser Triumph war nur kurzlebig. Ein Leben, daß so von tiefem Groll geprägt ist, muß leer und unglücklich sein. So vergeuden wir die Stunden, die wir besser hätten nützen können. Beim Alkoholiker aber, dessen Hoffnung in der Erhaltung und im Wachsen einer seelischen Erfahrung liegt, ist die Sache mit dem Groll besonders schwerwiegend. Wir erkannten, daß das lebensgefährlich ist. Wenn wir solchen Gefühlen nachgeben, verschließen wir uns dem Licht der Erkenntnis. Der Alkohol mit all seinem Wahnsinn kehrt zurück, und wir trinken wieder. Und Trinken bedeutet für uns sterben. Wenn wir leben wollen, müssen wir uns von Zorn befreien. Groll und Wutanfälle sind nichts für uns. Andere Menschen können sich diesen zweifelhaften Luxus leisten, für Alkoholiker aber ist das Gift. Wir wandten uns wieder der Liste zu, denn dort war der Schlüssel für die Zukunft. Jetzt waren wir bereit, diese Liste aus einem ganz anderen Blickwinkel zu sehen. Wir begannen zu begreifen, daß die Welt und ihre Menschen uns wirklich beherrschten. In diesem Stadium hatte das Fehlverhalten anderer - ob eingebildet oder wirklich vorhanden - die Kraft, tatsächlich zu töten. Wie konnten wir dem entkommen? Wir sahen ein, daß wir die Grollgefühle in den Griff bekommen mußten, aber wie? Wir konnten sie uns genausowenig wegwünschen wie den Alkohol. Das war unser Weg: Wir hielten uns vor Augen, daß die Menschen, die uns Unrecht taten, vielleicht seelisch krank waren. Wenngleich wir ihr Wesen und die Art, wie sie uns beeinträchtigten, nicht mochten, mußten wir einsehen, daß sie auch krank waren. Wir baten Gott, Er möge uns dabei helfen, ihnen gegenüber die gleiche Toleranz, das gleiche Mitleid und die Geduld aufzubringen, wie wir sie gern einem kranken Freund gewähren würden. Wenn uns jemand beleidigt hatte, sagten wir uns: "Das ist ein kranker Mensch. Wie kann ich ihm helfen? Gott bewahre mich davor, ärgerlich zu werden. Dein Wille geschehe." Wir vermeiden Vergeltung oder Streit, denn auch kranke Menschen würden wir nicht so behandeln. Wenn wir es tun, nehmen wir uns die Chance, ihnen zu helfen. Wir können nicht jedem helfen, aber wenigstens wird Gott uns dahin führen, gegenüber jedem einzelnen eine freundliche und tolerante Haltung einzunehmen. Wir kommen wieder auf unsere Liste zurück. Wir beschäftigten uns nicht mehr mit dem, was andere falsch gemacht hatten, sondern suchten beherzt nach unseren eigenen Fehlern. Wo waren wir selbstsüchtig, unehrlich, egoistisch und feige gewesen? Obwohl wir nicht immer allein an allem Schuld gewesen waren, versuchten wir, die Fehler der anderen Beteiligten außer acht zu lassen. Wo lag unsere Schuld? Es ging um unsere Inventur, nicht um die des anderen. Wenn wir bei uns Fehler erkannten, schrieben wir sie auf. Schwarz auf weiß hielten wir sie uns vor Augen. Wir gaben ehrlich unsere Fehler zu und waren willig, diese Angelegenheiten in Ordnung zu bringen. Beachten Sie, daß in unserer Tabelle das Wort "Angst" in Zusammenhang mit den Schwierigkeiten mit Herrn Meier, Frau Müller, dem Arbeitgeber und der Ehefrau in Klammern gesetzt ist. Dieses kleine Wort berührt fast jeden Lebensbereich. Angst ist ein schlechter und brüchiger Faden; das Gewebe unserer Existenz war damit durchgezogen. Angst löste eine Kettenreaktion aus, die uns ins Unglück stürzte, das wir unserer Meinung nach nicht verdient hatten. Aber hatten wir die Kugel nicht selbst ins Rollen gebracht? Manchmal meinen wir, Angst sollte auf dieselbe Stufe gestellt werden wie Diebstahl. Es scheint sogar, daß sie noch mehr Unheil anrichtet. Wir durchleuchteten unsere Ängste gründlich. Wir brachten sie zu Papier, auch wenn wir in Verbindung mit ihnen keinen Groll hegten. Wir fragten uns, warum wir überhaupt Ängste hatten. Hatte uns unser Selbstvertrauen im Stich gelassen? Selbstvertrauen ist eine gute Sache, soweit es tragfähig ist, aber damit war es nicht weit her. Einige von uns hatten einst große Selbstsicherheit, aber sie löste weder das Angstproblem noch ein anderes. Wenn sie uns überheblich machte, wurde alles noch schlimmer. Wir können uns vorstellen, daß es einen besseren Weg gibt. Denn wir haben jetzt eine andere Grundlage; die Grundlage ist, daß wir auf Gott vertrauen und uns auf Ihn verlassen. Wir trauen dem unendlichen Gott mehr als unserem endlichen Ich. Wir sind auf der Welt, um die Rolle zu spielen, die Er uns zuweist. In dem Maße wir uns so verhalten, wie wir glauben, daß Er uns haben möchte, und uns demütig auf Ihn verlassen, in dem Maße befähigt Er uns, Unglück mit Gelassenheit zu begegnen. Wir entschuldigen uns nicht für unser Gottvertrauen. Wir belächeln jene, die meinen, daß Gottvertrauen der Weg der Schwäche ist. Im Gegenteil: Es ist der Weg der Stärke. Glaube bedeutet nach jahrhundertealten Erkenntnissen Mut. Alle Menschen, die glauben, haben Mut. Sie vertrauen auf ihren Gott. Wir entschuldigen uns niemals für Gott. Statt dessen lassen wir Ihn durch uns zeigen, was Er tun kann. Wir bitten Ihn, unsere Angst von uns zu nehmen, und richten unsere Aufmerksamkeit darauf, so zu sein, wie Er uns haben will. Plötzlich beginnen wir, aus der Angst herauszuwachsen. Hier ein Wort zum Thema Sexualität: Viele von uns mußten hier einiges in Ordnung bringen. Vor allem versuchten wir, diese Frage vernünftig anzugehen und nicht in Extreme zu verfallen. Bekanntlich gehen die Meinungen weit auseinander. Die einen beharren darauf, daß Sex eine Begierde niederer Natur sei, eine notwendige Voraussetzung zur Fortpflanzung. Dann gibt es Stimmen, die nach Sex und noch mehr Sex rufen, die die Institution der Ehe beklagen, die glauben, daß die meisten menschlichen Schwierigkeiten auf das Sexuelle zurückzuführen sind. Sie glauben, wir hätten nicht genug oder nicht die richtige Art von Sex. Sie messen ihm in allem Bedeutung zu. Die eine Richtung will dem Menschen keine Würze bei seiner Kost erlauben, die andere möchte uns mit reinem Pfeffer ernähren. Aus diesem Streit möchten wir uns heraushalten. Wir möchten nicht Schiedsrichter für Sexualverhalten sein. Jeder von uns hat Sexprobleme. Das ist menschlich. Was können wir in dieser Sache tun? Wir betrachten unser eigenes Verhalten der vergangenen Jahre. Wo waren wir selbstsüchtig, unehrlich oder rücksichtslos gewesen? Wem hattten wir weh getan? Hatten wir auf unverantwortliche Weise Eifersucht, Argwohn oder Verbitterung erweckt? Wo hatten wir etwas falsch gemacht, was hätten wir statt dessen tun sollen? Wir schrieben alles auf, um darüber nachzudenken. Auf diese Weise trachteten wir, ein gesundes und normales Ideal für unser zukünftiges Sexualleben zu formen. Wir fragten uns bei jeder Beziehung, ob sie eigennützig ist oder nicht. Wir baten Gott, unseren Vorstellungen Form zu geben und uns zu helfen, nach ihnen zu leben. Wir erinnerten uns immer daran, daß unser Sexualtrieb gottgegeben und daher gut ist. Er sollte weder leichtfertig oder selbstsüchtig genutzt werden, noch sollte er verachtet und verabscheut werden. Wie auch immer unser Ideal aussehen mag, wir müssen bereit sein, ihm entgegenzuwachsen. Dort, wo wir Schaden angerichtet haben, müssen wir willens sein, ihn wiedergutzumachen, vorausgesetzt, daß wir dabei nicht noch mehr Schaden verursachen. Mit anderen Worten, wir behandeln Sex wie jedes andere Problem. In der Meditation fragen wir Ihn, wie wir uns in jedem einzelnen Fall verhalten sollen. Er gibt uns die richtige Antwort, wenn wir sie wollen. Gott allein kann unsere Sexualangelegenheiten beurteilen. Rat von anderen ist oft wünschenswert, aber Gott sollte die letzte Instanz sein. Halten wir fest, daß einige puritanisch über Sex denken, andere eher freizügig. Vermeiden wir deshalb überzogene Urteile oder Ratschläge. Angenommen, wir erreichen das erstrebte Ideal nicht und stolpern? Bedeutet das, daß wir uns wieder betrinken werden? Einige meinen, dem wäre so. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Es hängt von uns und unseren Beweggründen ab. Wenn wir bereuen, was wir getan haben, und den ehrlichen Wunsch haben, daß Gott uns hilft, es besser zu machen, glauben wir, daß uns vergeben wird und wir daraus gelernt haben. Wenn wir nicht bereuen und wir mit unserem Verhalten weiterhin anderen weh tun, können wir ganz sicher sein, wieder zu trinken. Das sind keine Theorien, sondern Tatsachen aus unserer Erfahrung. Zusammenfassend zum Thema Sexualität: Wir beten ernsthaft um ein richtiges Ideal, um Führung in jeder fragwürdigen Situation, um geistige Gesundheit und um die Kraft, das Richtige zu tun. Wenn Sex eine zu große Belastung wird, bemühen wir uns um so mehr, anderen zu helfen. Wir kümmern uns um ihre Nöte und tun etwas für sie. Dabei wachsen wir über uns selbst hinaus. Es beruhigt den übersteigerten Drang. Diesem nachzugeben, würde ein gebrochenes Herz bedeuten. Wenn wir bei unserer Inventur sorgfältig waren, haben wir eine Menge niedergeschrieben. Wir haben unseren Groll aufgeschrieben und gründlich untersucht. Nach und nach sahen wir ein, wie nutzlos verhängsnisvoll er ist. Wir begannen seine furchtbare Zerstörungskraft zu begreifen. Wir lernten Schritt für Schritt, Toleranz, Geduld und guten Willen gegenüber allen Menschen zu üben, sogar gegenüber unseren Feinden, denn wir betrachteten sie als Kranke. Wir machten eine Liste der Menschen, die wir durch unser Verhalten verletzt haben, und wurden willens, die Vergangenheit in Ordnung zu bringen, soweit wir es konnten. In diesem Buch lesen Sie immer wieder, daß der Glaube das für uns getan hat, was wir selbst nicht für uns tun konnten. Wir hoffen, Sie sind jetzt davon überzeugt, daß Gott alles das beseitigen kann, was Sie durch Ihren Eigenwillen vom Ihm getrennt hat. Wenn Sie schon eine Entscheidung getroffen und über Ihre größeren Schwierigkeiten nachgedacht haben, ist ein guter Anfang gemacht. Wenn das so ist, haben Sie einige große Brocken der Wahrheit über sich selbst geschluckt und verdaut. Kapitel 6 In die Tat umgesetzt Nachdem wir unsere Inventur gemacht haben, fragen wir uns, wie es nun weitergeht? Wir haben versucht, eine neue Lebenseinstellung zu finden und ein neues Verhältnis zu unserem Schöpfer. Wir versuchen auch, die Hindernisse auf unserem Weg zu entdecken. Wir haben gewisse Fehler zugegeben; in groben Zügen haben wir festgestellt, wo unsere Schwierigkeiten liegen, und haben unseren Finger auf die schwachen Stellen in unserer persönlichen Inventur gelegt. Nun müssen diese ausgemerzt werden. Das erfordert Aktivitäten von unserer Seite. An diesem Punkt können wir Gott, uns selbst und einem anderen Menschen unverhüllt unsere Fehler zugeben. Damit sind wir beim Fünften Schritt in unserem Genesungsprogramm. Das alles ist schon schwierig genug, es wird noch schwieriger, wenn wir unsere Fehler mit einem anderen Menschen besprechen. Wir meinen, es sei genug, diese Dinge uns selbst einzugestehen. Das ist zu bezweifeln. In der Praxis ist es üblicherweise so, daß unsere einsame Selbstbewertung nicht ausreicht. Viele von uns hielten es für notwendig, noch viel weiter zu gehen. Wir können uns eher mit dem Gedanken befreunden, unsere innersten Angelegenheiten mit jemand anderem zu besprechen, wenn wir gute Gründe dafür haben. Der wichtigste Grund zuerst: Wenn wir diesen lebenswichtigen Schritt überspringen, besteht die Gefahr, daß wir stolpern und wieder trinken. Immer wieder haben Neue versucht, gewisse Dinge aus ihrem Leben für sich zu behalten. Um sich diese demütigende Erfahrung zu ersparen, wandten sie sich einfacheren Methoden zu. Mit ziemlicher Sicherheit betranken sie sich wieder. Da sie im übrigen Programm weitergearbeitet hatten, wunderten sie sich, warum sie rückfällig geworden waren. Nach unserer Meinung liegt es daran, daß sie ihr Großreinemachen niemals zu Ende geführt haben. Sie machten zwar eine gute Inventur, aber konnten sich von einigen der übelsten Artikel am Lager nicht trennen. Sie meinten, sie hätten ihren Egoismus und ihre Ängste verloren; sie meinten, sie wären demütig geworden. In diesem Sinne jedoch, wie wir es für nötig halten, haben sie erst dann genug über Demut, Furchtlosigkeit und Ehrlichkeit gelernt, wenn sie einem anderen ihre ganze Lebensgeschichte erzählt haben. Mehr als andere Menschen führt der Alkoholiker ein Doppelleben. Er hat sehr viel von einem Schauspieler. Der Umwelt zeigt er sich in seiner Bühnenrolle. So sollen ihn seine Mitmenschen sehen. Er möchte ein gewisses Ansehen genießen, aber weiß in seinem Inneren, daß er es nicht verdient. Dieser Zwiespalt wird noch verstärkt durch das, was er bei seinen Sauftouren anstellt. Gewisse Episoden, an die er sich schwach erinnert, ekeln ihn an, wenn er wieder zu Besinnung kommt. Diese Erinnerungen sind ein Alpdruck. Er zittert bei dem Gedanken, jemand könnte ihn beobachtet haben. So gut er kann, vergräbt er diese Erinnerungen in sein Unterbewußtsein. Er hofft, daß sie nie wieder ans Tageslicht kommen. Er steht unter ständiger Angst und Spannung. Das treibt ihn zum Nochmehrtrinken. Die Psychologen sind geneigt, uns zuzustimmen. Wir haben viel Geld für Untersuchungen ausgegeben. Nur in wenigen Fällen haben wir uns den Ärzten gegenüber fair verhalten. Weder haben wir ihnen die ganze Wahrheit erzählt, noch sind wir ihrem Rat gefolgt. Wir waren nicht bereit, diesen uns wohlgesinnten Menschen gegenüber ehrlich zu sein, und schon gar nicht gegenüber anderen. Kein Wunder, daß die Mediziner eine so geringe Meinung von Alkoholikern und ihren Genesungsaussichten haben! Wenn wir auf dieser Welt lange glücklich leben wollen, müssen wir gegenüber irgendeinem Menschen vollkommen ehrlich sein. Es ist nur von Vorteil, wenn wir gut überlegen, bevor wir den oder die Menschen auswählen, mit denen wir diesen sehr persönlichen und vertraulichen Schritt tun. Wer von uns zu einer Religion gehört, bei der die Beichte vorgeschrieben ist, muß und will natürlich zu dem Geistlichen gehen, dessen Pflicht es ist, die Beichte abzunehmen. Auch wenn wir keine religiöse Bindung haben, tun wir gut daran, mit jemanden zu reden, der von einer der bestehenden Religionen eingesetzt ist. Solche Menschen erfassen und verstehen unser Problem oft sehr schnell. Natürlich treffen wir auch dort manchmal jemanden, der den Alkoholiker nicht versteht. Wenn wir das nicht können oder nicht möchten, suchen wir in unserem Bekanntenkreis einen verschwiegenen, verständnisvollen Freund. Vielleicht ist unser Arzt oder Psychologe der richtige Mann. Es kann jemand aus unserer eigenen Familie sein, aber wir können unseren Ehepartnern oder unseren Eltern nicht Dinge enthüllen, die sie verletzen oder unglücklich machen würden. Wir haben kein Recht, unsere eigene Haut auf Kosten anderer zu retten. Diesen Teil unserer Geschichte erzählen wir jemandem, der ihn verstehen wird, der aber nicht davon betroffen ist. Grundsätzlich müssen wir immer hart gegen uns selbst sein und immer rücksichtsvoll gegenüber anderen. Ungeachtet der Notwendigkeit, sich jemandem mitzuteilen, ist es möglich, daß man sich in einer Lage befindet, in der man keinen passenden Gesprächspartner hat. Wenn das der Fall ist, kann dieser Schritt aufgeschoben werden, jedoch nur dann, wenn wir absolut bereit sind, ihn bei der ersten Gelegenheit nachzuholen. Wir sagen das, weil wir sehr darauf bedacht sind, mit dem richtigen Menschen zu sprechen. Es ist wichtig, daß er etwas vertraulich behandeln kann; daß er das, was wir vorhaben, versteht und billigt und nicht versucht, unseren Plan zu ändern. Aber wir sollten das nicht als Entschuldigung dafür benutzen, das Gespräch auf die lange Bank zu schieben. Wenn wir uns entschieden haben, wer unsere Geschichte anhören soll, vergeuden wir keine Zeit. Wir haben unsere geschriebene Inventur und sind auf ein langes Gespräch vorbereitet. Wir erklären unserem Gesprächspartner, was wir vorhaben und warum wir es tun müssen. Er sollte wissen, daß es für uns um Leben und Tod geht. Die meisten Menschen, auf die man mit diesem Anliegen zugeht, werden gern helfen; unser Vertrauen ehrt sie. Wir legen unseren Stolz ab und gehen daran, jeden Winkel unseres Charakters und jede dunkle Ecke unserer Vergangenheit auszuleuch ten. Wenn wir einmal diesen Schritt getan und dabei nichts unterschlagen haben, sind wir froh. Wir können unseren Mitmenschen wieder in die Augen schauen. Wir können mit uns selber Ruhe und Frieden finden. Unsere Ängste fallen von uns ab. Wir beginnen, die Nähe unseres Schöpfers zu spüren. Es mag sein, daß wir eine bestimmte Glaubensvorstellung hatten, aber jetzt fangen wir an, eine seelische Erfahrung zu machen. Das Verschwinden des Trinkproblems löst oft ein überwältigendes Gefühl aus. Wir fühlen uns auf einer breiten Straße, geführt von einer Höheren Macht. Nach Hause zurückgekehrt, ziehen wir uns für eine Stunde an einen ruhigen Ort zurück und denken über alles noch einmal sorgfältig nach. Wir danken Gott von ganzem Herzen, daß wir ihn jetzt besser kennen. Wir nehmen dieses Buch zur Hand und schlagen die Seite mit den Zwölf Schritten auf. Sorgfältig lesen wir die ersten fünf der Empfehlungen und fragen uns, ob wir irgendwas ausgelassen haben. Denn wir bauen ein Tor, durch das wir schließlich als freie Menschen gehen werden. Haben wir bis jetzt solide Arbeit geleistet? Sind die Steine richtig gesetzt? Haben wir beim Fundament an Zement gespart? Haben wir versucht, Mörtel ohne Sand zu mischen? Wenn wir mit den Antworten zufrieden sind, können wir zum Sechsten Schritt übergehen. Wir haben immer betont, wie wichtig Bereitschaft ist. Sind wir jetzt bereit, von Gott alle Dinge beseitigen zu lassen, von denen wir zugegeben haben, daß sie schlecht sind? Kann Er sie jetzt alle von uns nehmen, jedes einzelne? Wenn wir uns aber immer noch an etwas klammern und es nicht loslassen wollen, bitten wir Gott, daß er uns zur Bereitschaft verhilft. Wenn wir schließlich bereit sind, sagen wir etwa folgendes: "Mein Schöpfer, ich bin nun willig, mich Dir ganz auszuliefern mit allen meinen guten und schlechten Seiten. Ich bitte, die Charaktermängel jetzt von mir zu nehmen, die mich daran hindern, Dir und meinen Mitmenschen gegenüber nützlich zu sein. Gib mir Kraft, von jetzt an Deinen Willen auszuführen. Amen." Damit haben wir Schritt Sieben vollzogen. Jetzt muß noch mehr getan werden, denn "Glaube ohne Taten ist tot". Betrachten wir Schritt Acht und Neun. Wir haben jetzt eine Liste aller Personen, die wir gekränkt hatten, und sind willig, es wiedergutzumachen. Wir hatten diese Liste schon bei der Inventur gemacht. Wir unterzogen uns einer gründlichen Selbsteinschätzung. Nun gehen wir zu unseren Mitmenschen und machen den Schaden wieder gut, den wir in der Vergangenheit angerichtet haben. Wir versuchen, die Trümmer wegzuschaffen, die sich angehäuft haben, als wir noch nach unserem eigenen Willen lebten und alles allein dirigieren wollten. Wenn uns die Bereitwilligkeit dazu noch fehlt, bitten wir solange, bis sie sich einstellt. Erinnern wir uns daran, daß wir am Anfang übereinstimmten, alles auf uns zu nehmen, um den Alkohol zu besiegen. Wahrscheinlich kommen uns noch einige Bedenken. Wenn wir auf die Liste unserer Kollegen und Freunde schauen, die wir verletzt haben, zögern wir vielleicht, uns mit einigen auf der Grundlage unserer seelischen Erneuerung zu unterhalten. Nur mit der Ruhe: Manchen Leuten gegenüber brauchen und sollten wir uns nicht gleich mit den neuen seelischen Erkenntnissen aufspielen. Wir würden sie nur voreingenommen machen. Im Augenblick geht es nur darum, unser Leben in Ordnung zu bringen. Aber das allein ist noch kein Ziel. Unser wirkliches Ziel ist, Gott und unseren Mitmenschen in höchstem Maße dienlich zu sein. Es ist selten klug, jemand anzusprechen, der noch unter dem Unrecht leidet, das wir ihm angetan haben, und ihm mitzuteilen, daß wir gläubig geworden sind. Das hieße mit der Tür ins Haus fallen. Warum sollen wir uns der Gefahr aussetzen, als Fanatiker oder frömmelnde Langweiler abgestempelt zu werden? Damit zerschlagen wir uns vielleicht die Möglichkeit, zu späterer Zeit eine nützliche Botschaft weiterzugeben. Aber unser Gegenüber ist sicher beeindruckt von unserem aufrichtigen Wunsch, Unrecht in Ordnung zu bringen. Er wird mehr an einem Beweis des guten Willens interessiert sein, als an unserem Gespräch über seelische Entdeckungen. Das soll uns aber nicht als Entschuldigung dienen, um uns vor dem Thema Gott zu drücken. Wenn es einem guten Zweck dient, sind wir bereit, unsere Überzeugung taktvoll und vernünftig zu vertreten. Hier stellt sich die Frage, wie wir dem Menschen gegenüber auftreten, den wir gehaßt haben. Es kann sein, daß er uns mehr verletzt hat, als wir ihn. Obwohl wir eine bessere Einstellung ihm gegenüber gefunden haben, sind wir immer noch nicht gerade erpicht darauf, ihm unsere Fehler einzugestehen. Bei einem Menschen, den wir nicht mögen, beißen wir eben die Zähne zusammen. Es ist schwerer, zu einem Feind hinzugehen als zu einem Freund, aber es bringt mehr. Wir gehen zu ihm, im Geiste der Hilfsbereitschaft und der Vergebung. Wir gestehen ihm unsere frühere Abneigung ein und drücken unser Bedauern darüber aus. In solchen Fällen kritisieren oder streiten wir unter keinen Umständen. Wir sagen einfach, daß wir nie vom Alkohol loskommen, bevor wir nicht unser Möglichstes getan haben, unsere Vergangenheit in Ordnung zu bringen. Wir sind dort, um vor unser eigenen Tür zu fegen, und sind uns darüber klar, daß wir sonst nicht weiterkommen. Nie sollten wir versuchen, dem anderen zu sagen, was er zu tun hat. Seine Fehler stehen nicht zur Diskussion. Wir bleiben bei unseren eigenen. Wenn wir ruhig, offen und ehrlich sind, werden wir mit dem Ergebnis zufrieden sein. In neun von zehn Fällen geschieht das Unerwartete. Manchmal gibt derjenige, mit dem wir uns unterhalten, seine eigene Schuld zu. So werden jahrelange Fehden in einer Stunde beigelegt. Nur selten sind all unsere Bemühungen erfolglos. Oft erkennen unsere früheren Feinde das, was wir tun, hoch an und wünschen uns Glück. Gelegentlich werden sie uns sogar ihre Hilfe anbieten. Jedoch sollte es uns auch nichts ausmachen, wenn uns jemand hinauswirft. Wir haben unseren guten Willen gezeigt und unseren Teil getan. Da ist dann eben nichts zu machen. Die meisten Alkoholiker haben Schulden. Wir gehen unseren Gläubi gern nicht aus dem Wege. Wir sagen ihnen, was wir im Augenblick zu erreichen versuchen. Wir verheimlichen nicht, daß wir getrunken haben. Meistens wissen sie es ja ohnehin, ob wir es nun wahrhaben wollen oder nicht. Wir scheuen uns auch nicht, aus Furcht vor finanziellen Nachteilen unser Alkoholproblem zuzugeben. Wenn wir so vorgehen, kann uns selbst ein unbarmherziger Gläubiger überraschen. Indem wir einen Rückzahlungsmodus vereinbaren, zeigen wir diesen Leuten, daß es uns leid tut. Unser Trinken hat uns zu langsamen Zahlern gemacht. Wir müssen unsere Angst vor Gläubigern verlieren, egal wie, denn wenn wir uns fürchten, ihnen gegenüberzutreten, sind wir in Gefahr, wieder zu trinken. Vielleicht haben wir eine Straftat begangen, die uns ins Gefängnis bringen würde, sollte sie bekannt werden. Vielleicht haben wir Geld unterschlagen und sind nicht in der Lage, es zu ersetzen. Im Vertrauen haben wir das bereits einem anderen Menschen mitgeteilt. Wir sind aber sicher, ins Gefängnis zu müssen oder unsere Stelle zu verlieren, wenn es bekannt würde. Vielleicht handelt es sich auch nur um ein kleineres Vergehen wie eine gefälschte Spesenabrechnung. Die meisten von uns haben so etwas schon getan. Vielleicht sind wir geschieden und haben wieder geheiratet, sind aber den Unterhaltsverpflichtungen an die erste Frau nicht nachgekommen. Sie ist empört und droht uns mit Rechtsmitteln. Auch solchen Ärger kann es geben. Obwohl Wiedergutmachung in vielerlei Formen möglich ist, gibt es einige allgemeine Grundsätze, nach denen wir uns richten sollten. Erinnern wir uns an die Entscheidung, alles zu tun, um eine seelische Erfahrung zu machen. Jetzt bitten wir um Kraft und Führung, das Richtige zu tun, ohne Rücksicht auf die persönlichen Folgen. Vielleicht verlieren wir unsere Stellung oder unseren Ruf, vielleicht droht uns Gefängnis. Dennoch sind wir guten Willens. Wir müssen es sein. Wir dürfen vor nichts zurückschrecken. Häufig sind jedoch auch andere Menschen in unsere Geschichte verwickelt. Deshalb dürfen wir nicht übereilt den törichten Märtyrer spielen, der unnötig andere ofpert, um sich selbst vom Alkohol zu retten. Ein Mann, den wir kennen, hatte wieder geheiratet. Als er noch getrunken hatte, war er aus Verdruß seiner ersten Frau den Unterhalt schuldig geblieben. Darüber war sie wütend. Vor Gericht erwirkte sie einen Haftbefehl. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits mit unserer Lebensführung begonnen, war in einer sicheren Position und hatte wieder Boden unter den Füßen. Es wäre beeindruckend mutig gewesen, wenn er zum Richter gegangen wäre und gesagt hätte: "Hier bin ich." Wir meinten zwar, er müsse notfalls auch dazu bereit sein. Wenn er aber im Gefängnis säße, könnte er für keine der beiden Familien sorgen. Wir schlugen ihm vor, seiner ersten Frau zu schreiben, seine Fehler zuzugeben und sie um Verzeihung zu bitten. Das tat er und schickte auch einen kleinen Geldbetrag. Er erklärte ihr, was er versuchen würde, in Zukunft für sie zu tun. Er sei auch bereit, ins Gefängnis zu gehen, wenn sie darauf bestehe. Natürlich bestand sie nicht darauf, und die ganze Angelegenheit ist seit langem geregelt. Bevor wir etwas Schwerwiegendes unternehmen, von dem andere mit betroffen würden, müssen wir deren Zustimmung einholen. Wenn wir das Einverständnis haben, wenn wir uns auch mit anderen beraten und Gott um Hilfe gebeten haben und der drastische Schritt angezeigt ist, dürfen wir nicht davor zurückschrecken. Das bringt uns die Geschichte eines anderen Freundes in Erinnerung. In seiner Trinkerzeit nahm er von einem verhaßten Geschäftsrivalen eine größere Summe an, ohne dafür eine Quittung auszustellen. Später leugnete er, das Geld erhalten zu haben, und nutzte den Vorfall, um den anderen in Mißkredit zu bringen. So zerstörte er durch seine Gemeinheit auch noch den Ruf des anderen. Tatsächlich war sein Rivale ruiniert. Unser Freund merkte, daß er ein Unrecht getan hatte, das er nicht wiedergutmachen konnte. Wenn er die alte Geschichte wieder auf wärmte, mußte er befürchten, damit den Ruf seines jetzigen Ge schäftspartners mit zu ruinieren. Er mußte darüber hinaus befürchten, seine eigene Familie in Verruf zu bringen und ihr die Mittel für den Lebensunterhalt zu entziehen. Welches Recht hatte er, Menschen mit hineinzuziehen, die von ihm abhängig waren? Wie konnte er möglicherweise durch eine öffentliche Erklärung seinen einstigen Rivalen entlasten? Nachdem er sich mit seiner Frau und seinem Geschäftspartner beraten hatte, kam er zu dem Schluß, daß es besser sei, dieses Risiko zu wagen, als vor seinem Schöpfer zu stehen mit der Schuld, einen anderen durch eine Verleumdung ruiniert zu haben. Er erkannte, daß er alle Folgen, die daraus entstehen würden, in Gottes Hand legen müsse; sonst würde er bald wieder mit dem Trinken anfangen und dann wäre alles sowieso verloren. Seit langen Jahren besuchte er erstmals wieder einen Gottesdienst. Nach der Predigt stand er ruhig auf und gab eine Erklärung ab. Sein Tun fand allgemeine Zustimmung und heute ist er einer der geachteten Bürger seiner Stadt. Das alles liegt nun Jahre zurück. Es ist durchaus möglich, daß wir auch zu Hause Ärger haben. Viel leicht geben wir uns mit Frauen ab und haben Verhältnisse, die wir nicht gerne an die große Glocke gehängt wissen möchten. Wir bezweifeln, daß Alkoholiker in dieser Hinsicht wesentlich schlimmer sind als andere Leute. Aber das Trinken kompliziert die sexuellen Beziehungen zu Hause. Nach ein paar Jahren an der Seite eines Alkoholikers ist eine Ehefrau verbraucht, verbittert und verschlossen. Wie könnte sie auch anders sein? Der Ehemann fängt an, sich einsam zu fühlen und sich zu bemitleiden. Er beginnt, in Nachtlokalen und anderen zweifelhaften Etablissements zu verkehren, und das nicht nur wegen des Alkohols. Vielleicht hat er ein heimliches und aufregendes Verhältnis mit "der Frau, die ihn ver steht". Vielleicht versteht sie ihn wirklich, aber was ändert das an der verfahrenen Sache? Ein Mann in einer derartigen Situation ist oft voller Reue, besonders dann, wenn er mit einer treuen und tapferen Frau verheiratet ist, die für ihn buchstäblich durch die Hölle gegangen ist. Wie auch immer - irgend etwas muß jetzt geschehen. Wenn wir sicher sind, daß unsere Frau nichts weiß, sollten wir es ihr sagen? Nicht unbedingt, so glauben wir. Wenn sie eine Ahnung hat, daß wir fremdgegegangen sind, sollten wir es ihr dann in allen Einzelheiten erzählen? Auf jeden Fall sollten wir unsere Schuld zugeben. Es ist möglich, daß sie darauf besteht, alle Einzelheiten zu erfahren. Sie will wissen, wer jene andere Frau ist und wo diese wohnt. Hier sollten wir antworten, daß wir nicht das Recht haben, jemand anderen mit hineinzuziehen. Was wir getan haben, tut uns leid; und mit Gottes Hilfe soll es nicht wieder geschehen. Mehr können wir nicht tun. Wir haben kein Recht, weiter zu gehen. Obwohl es berechtigte Ausnahmen gibt und wir keine allgemeinen Regeln aufstellen wollen, haben wir erfahren, daß das oft der beste Weg ist. Unsere Empfehlungen zielen nicht nur in eine Richtung: sie gelten gleichermaßen für Mann und Frau. Wenn er vergessen soll, kann sie es auch. Es ist jedoch immer besser, nicht unnötigerweise jemanden beim Namen zu nennen, auf den sich dann Eifersucht konzentrieren könnte. Vielleicht gibt es Fälle, in denen uneingeschränkte Offenheit erforderlich ist. Kein Außenstehender kann eine solch vertrauliche Angelegenheit beurteilen. Es kann wohl sein, daß beide beschließen, mit Vernunft und Liebe Vergangenes vergangen sein zu lassen. Jeder sollte daher beten und dabei das Glück des anderen an die erste Stelle setzen. Dabei müssen wir uns immer vor Augen halten, daß wir es hier mit der schrecklichsten aller menschlichen Gefühlsregungen zu tun haben, mit der Eifersucht. Taktisch klüger ist es vielleicht, das Problem von der Seite anzugehen, als frontal darauf loszumarschieren. Auch wenn wir keine solchen Schwierigkeiten haben, gibt es zu Hause noch genug zu tun. Manchmal hören wir einen Alkoholiker sagen, daß das einzig Wichtige für ihn ist, nüchtern zu bleiben. Selbstverständlich muß er nüchtern bleiben, denn wenn er das nicht tut, wird er überhaupt kein Zuhause mehr haben. Aber er ist noch weit davon entfernt, an seiner Frau und seinen Eltern, die er jahrelang schlecht behandelt hat, alles wiedergutgemacht zu haben. Die Geduld, die Mütter und Ehefrauen für Alkoholiker aufgebracht haben, ist jenseits aller Vorstellungskraft. Wenn das nicht so gewesen wäre, hätten viele von uns heute kein Heim mehr und wären wahrscheinlich tot. Der Alkoholiker ist wie ein Wirbelsturm, er fegt auf seinem Weg rücksichtslos durch das Leben anderer. Herzen werden gebrochen. Innige Beziehungen gehen in die Brüche. Zuneigungen werden zer stört. Egoistische und rücksichtslose Gewohnheiten halten das Familienleben in Aufruhr. Wir meinen, ein Mensch ist gedankenlos, wenn er sagt, daß Nüchternheit genug sei. Er ist wie der Farmer, der nach einem Wirbelsturm aus dem Keller steigt und sein Haus zerstört vorfindet. Zu seiner Frau sagte er: "Mama, das ist alles nicht so wichtig; ist es nicht großartig, daß der Sturm aufgehört hat?" Ja, vor uns liegt eine Menge Wiederaufbauarbeit, die viel Zeit beanspruchen wird. Wir müssen die Sache selbst in die Hand nehmen. Mit einem reuevollen Murmeln, daß es uns leid tut, ist es nicht getan. Wir sollten uns mit unserer Familie zusammensetzen und die Vergangenheit, wie wir sie heute sehen, ganz offen durchleuchten. Dabei achten wir sorgfältig darauf, die Familienangehörigen nicht zu kritisieren. Ihre Fehler mögen offenkundig sein. Wahrscheinlich aber ist unser eigenes Handeln dafür mitverantwortlich. Es ist ein Großreinemachen mit der Familie. Und wir bitten jeden Morgen in einer besinnlichen Minute unseren Schöpfer darum, uns den Weg der Geduld, der Toleranz, der Freundlichkeit und der Liebe zu zeigen. Leben nach spirituellen, das heißt seelischen Grundsätzen ist keine Theorie. Wir müssen es leben. Wenn die eigene Familie nicht den Wunsch hat, nach diesen seelischen Grundsätzen zu leben, sollten wir sie nicht dazu drängen. Wir sollten auch nicht ständig mit ihnen über seelische Dinge reden. Unser Verhalten wird sie mehr überzeugen als unsere Worte. Wir dürfen nicht vergessen, daß zehn oder zwanzig Jahre an der Seite eines Alkoholikers aus jedem einen Skeptiker machen. Es mag Unrecht geben, das wir nie wiedergutmachen können. Wir sorgen uns darum nicht, solange wir uns ehrlich sagen können, daß wir wiedergutmachten, wenn wir es könnten. Manchen Leuten, denen wir nicht persönlich gegenübertreten können, schicken wir einen aufrichtigen Brief. In einigen Fällen mag es triftige Gründe geben, die Wiedergutmachung aufzuschieben. Wir schieben aber nichts grundlos auf die lange Bank. Wir sollten bei der Wiedergutmachung einfühlsam, taktvoll, rücksichtsvoll und demütig vorgehen, ohne unterwürfig und kriecherisch zu sein. Als Gottes Kinder stehen wir aufrecht und kriechen vor niemandem. Wenn wir in diesem Abschnitt unserer Entwicklung sehr gewissenhaft sind, werden wir verblüfft sein, noch bevor wir den Weg zur Hälfte zurückgelegt haben. Wir werden eine neue Freiheit und ein neues Glück kennenlernen. Wir wollen die Vergangenheit weder beklagen, noch die Tür hinter ihr zuschlagen. Wir werden verstehen, was das Wort Gelassenheit bedeutet, und erfahren, was Frieden ist. Wie tief wir auch gesunken waren, wir werden merken, daß andere aus unseren Erfahrungen Nutzen ziehen können. Das Gefühl der Nutzlosigkeit und des Selbstmitleids wird verschwinden. Unsere Ichbezogenheit wird in den Hintergrund treten, das Interesse an unseren Mitmenschen wachsen. Unser Egoismus wird dahin schmelzen. Unsere Einstellung zum Leben und unsere Erwartungen werden sich ändern. Angst vor den Menschen und vor wirtschaftlicher Ungewißheit werden schwinden. Ohne lange nachzudenken, werden wir jetzt mit Situationen fertig, die uns früher umgeworfen haben. Plötzlich wird uns bewußt, daß Gott für uns das erledigt, wozu wir allein nicht in der Lage sind. Sind das alles leere Versprechungen? Wir meinen nicht. Sie werden uns erfüllt - manchmal schneller, manchmal langsamer. Sie werden immer Wirklichkeit, wenn wir daran arbeiten! Diese Gedanken bringen uns zum Zehnten Schritt, der empfiehlt, daß wir weiterhin Inventur machen und neue Fehler immer wieder korrigieren. Wir haben diesen Lebensweg mutig beschritten, als wir mit der Vergangenheit aufgeräumt haben. Wir sind in eine Welt des Geistes eingetreten. Jetzt ist es an uns, vieles besser zu verstehen und danach zu leben. Das geht nicht über Nacht, es ist eine Lebensaufgabe. Hüten Sie sich vor Egoismus, Unehrlichkeit, Groll und Furcht. Wenn diese Gefühle wieder aufkommen, bitten wir Gott, sie sofort zu beseitigen. Wir sprechen sofort darüber und machen es gleich wieder gut, wenn wir jemanden Schaden zugefügt haben. Wir wenden uns einem Menschen zu, der Hilfe braucht. Unsere Parole heißt jetzt Liebe und Toleranz. Wir haben aufgehört, gegen alles und jeden zu kämpfen - selbst gegen den Alkohol. Denn inzwischen haben wir unsere geistige Gesundheit wiedererlangt. Nur noch selten denken wir an Alkohol. Wenn das Glas in Reichweite ist, schrecken wir davor zurück, wie vor einer heißen Flamme. Das ist eine gesunde und normale Reaktion. Dabei stellen wir fest, daß das ganz automatisch geschieht. Unsere neue Einstellung zum Alkohol ergibt sich ohne großes Nachdenken und ohne große Anstrengung. Es ist uns in Fleisch und Blut übergegangen. Es ist ein Wunder. Wer aufhört zu kämpfen, hat Chancen zu gewinnen. Es ist, als stünden wir auf neutralem Boden - sicher und geschützt. Und dabei haben wir nicht einmal dem Alkohol abgeschworen. Das Problem wurde einfach von uns genommen. Es existiert nicht mehr für uns. Das macht uns nicht überheblich, aber auch nicht ängstlich. Das ist unsere Erfahrung. So reagieren wir, solange wir uns innerlich gesund halten. Die Gefahr ist groß, das seelische Programmm zu vernachlässigen und uns auf den Lorbeeren auszuruhen. Wenn wir das tun, rennen wir direkt in unser Unglück, denn Alkohol ist ein heimtückischer Feind. Wir sind nicht vom Alkoholismus geheilt. Was wir in der Hand haben, ist eine auf den Tag bemessene Bewährungsfrist. Jeden Tag aufs neue müssen wir den Gedanken an Gottes Willen in unser Tun einbeziehen: "Wie kann ich Dir am besten dienen - Dein Wille geschehe (nicht meiner)!" Das sind Gedanken, die uns immer be gleiten müssen. In dieser Richtung können wir unsere Willenskraft trainieren, soviel wir wollen. Das ist der richtige Gebrauch des Willens. Viel ist schon darüber gesagt worden, wie wir Stärke, Eingebung und Führung von Ihm erhalten, der alles Wissen und alle Macht besitzt. Wenn wir den Anweisungen sorgfältig gefolgt sind, fühlen wir allmählich, wie Sein Geist in uns hineinströmt. Bis zu einem gewissen Grad sind wir gottesbewußt geworden. Wir haben angefangen, diesen lebenswichtigen, sechsten Sinn zu entwickeln. Aber wir müssen noch weitergehen. Und das bedeutet mehr Arbeit. Der Elfte Schritt empfiehlt Gebet und Besinnung. Vor dem Beten sollten wir nicht zurückschrecken. Bessere Menschen als wir machen ständig Gebrauch davon. Es macht sich bezahlt, wenn wir die richtige Einstellung dazu haben und daran arbeiten. Es wäre einfach, sich um dieses Thema herumzumogeln. Wir glauben jedoch, einige konkrete und wertvolle Vorschläge machen zu können. Vor dem Einschlafen gehen wir die Ereignisse des Tages in Gedanken durch. Waren wir wütend, egoistisch, unehrlich oder ängstlich? Müssen wir uns bei jemandem entschuldigen? Haben wir etwas für uns behalten, was wir sofort mit jemandem besprechen sollten? Waren wir allen gegenüber freundlich und liebenswürdig? Was hätten wir besser machen können? Dachten wir meistens nur an uns selbst? Oder dachten wir daran, für andere etwas zu tun und sonstwie nützlich zu sein? Aber wir müssen aufpassen, daß wir nicht in Verzweiflung, Selbstvorwürfe oder krankhaftes Grübeln verfallen, denn das würde unser Nützlichsein für andere verringern. Nachdem wir unseren Rückblick beendet haben, bitten wir Gott um Vergebung und um Rat, was wir besser machen können. Beim Erwachen wollen wir über die 24 Stunden nachdenken, die vor uns liegen. Sorgfältig planen wir den Tag. Vorher bitten wir Gott, unsere Gedanken zu leiten. Besonders bitten wir darum, daß unser Denken frei bleibt von Selbstmitleid, Unehrlichkeit und Selbstsucht. Unter diesen Voraussetzungen können wir unsere geistigen Fähigkeiten zuversichtlich einsetzen; denn schließlich gab uns Gott den Verstand, damit wir ihn nutzen. Unser Denken bewegt sich auf einer höheren Ebene, wenn es frei von falschen Absichten ist. Beim Nachdenken über unseren Tag kann es möglich sein, daß wir unentschlossen sind. Es kann sein, daß wir die Richtung nicht bestimmen können, die wir einschlagen sollen. Hier bitten wir Gott um Eingebung, um Erkenntnis oder um eine Entscheidung. Wir entspannen uns und machen es uns nicht schwer. Wir quälen uns nicht. Oft sind wir erstaunt, wie die richtigen Antworten kommen, wenn wir es eine Weile so versucht haben. Was vorher nur eine Ahnung oder eine gelegentliche Eingebung war, wird allmählich ein wirksamer Bestandteil unseres Bewußtseins. Da wir noch unerfahren sind und gerade erst bewußt Verbindung zu Gott gefunden haben, ist es unwahrscheinlich, daß wir jederzeit inspiriert werden. Wenn wir solche Erwartungen hegen, müssen wir wohl mit allerlei törichten Ideen und Handlungen bezahlen. Dennoch werden wir es erleben, wie unser Denken im Laufe der Zeit mehr und mehr in Einklang mit dem Wollen der Höheren Macht kommt. Allmählich können wir uns darauf verlassen. Im allgemeinen beschließen wir die Zeit der Besinnung mit einem Gebet. Wir bitten, daß uns den ganzen Tag über gezeigt wird, was unser nächster Schritt sein soll. Wir bitten darum, daß uns gegeben wird, was wir zur Lösung der Probleme brauchen. Besonders bitten wir darum, von Dickköpfigkeit frei zu bleiben. Wir hüten uns auch davor, nur für uns etwas zu erbitten. Das können wir allenfalls, wenn dadurch anderen geholfen wird. Aber wir sind sehr vorsichtig, selbstsüchtig für unsere eigenen Ziele zu beten. Viele von uns haben damit eine Menge Zeit vergeudet. Aber so etwas funktioniert nie, Sie können leicht sehen warum. Wenn es geht, bitten wir unsere Frauen oder unsere Freunde, an der morgendlichen Besinnung teilzunehmen. Wenn wir zu einer Religionsgemeinschaft gehören, die eine festgelegte Morgenandacht kennt, nehmen wir auch daran teil. Wenn wir keiner Konfession angehören, können wir passende Gebete auswählen und lernen. Dafür gibt es viele hilfreiche Bücher. Vorschläge kann man von seinem Priester, Geistlichen oder Rabbiner erhalten. Seien Sie tolerant genug, auch von gläubigen Menschen zu lernen. Machen Sie Gebrauch von dem, was sie Ihnen zu bieten haben. Wenn wir tagsüber unruhig sind oder in Zweifel geraten, machen wir eine Pause und bitten um richtiges Denken und Handeln. Ständig halten wir uns vor Augen, daß wir nicht mehr diejenigen sind, die alles bestimmen. Demütig sagen wir uns jeden Tag viele Male: "Dein Wille geschehe!" Dann sind wir weniger den Gefahren von Erregung, Furcht, Wut, Sorge, Selbstmitleid oder törichten Entscheidungen ausgesetzt. So werden wir wesentlich leistungsfähiger. Wir ermüden nicht so schnell. Wir verbrauchen unsere Energien nicht mehr so leichtsinnig wie früher, als wir unser Leben so einrichten wollten, wie es uns gerade paßte. Es funktioniert - es funktioniert wirklich. Wir Alkoholiker sind ungezügelt. Deshalb lassen wir uns auf die einfache Weise, die wir gerade beschrieben haben, von Gott lenken. Aber das ist nicht alles. Jetzt müssen wir aktiv werden und aktiv bleiben. "Glaube ohne Werke ist tot." Das nächste Kapitel ist ganz dem Zwölften Schritt gewidmet. Kapitel 7 Die Arbeit mit anderen Praktische Erfahrung zeigt, daß nichts so sehr die Nüchternheit stabilisiert wie intensive Arbeit mit anderen Alkoholikern. Das funktioniert auch, wenn alle anderen Aktivitäten versagen. Dies ist unsere Zwölfte Empfehlung: Geben Sie diese Botschaft an andere Alkoholiker weiter! Sie können helfen, wenn niemand sonst es kann. Sie können das Vertrauen von Alkoholikern erwerben, wenn andere hilflos sind. Denken Sie daran, daß diejenigen, die noch trinken, sehr krank sind. Ihr Leben bekommt einen neuen Sinn. Zu sehen, wie Menschen sich erholen, wie sie wiederum anderen helfen, wie die Einsamkeit verschwindet, wie die Gemeinschaft um Sie herum wächst und wie Sie Freunde gewinnen, das sind Erfahrungen, die Sie nicht missen sollten. Wir sind sicher, daß keiner von Ihnen das missen möchte. Begegnung mit Neuen und häufiger Kontakt untereinander, das sind Lichtblicke in unserem Leben. Vielleicht kennen Sie keine Trinker, die genesen möchten. Sie können leicht welche finden, indem Sie bei Ärzten, Geistlichen oder in Krankenhäusern nachfragen. Sie werden Ihnen nur zu gern helfen. Spielen Sie sich nicht als Evangelist oder Weltverbesserer auf. Leider gibt es viele Vorurteile. Sie werden sich nur selbst Hindermisse in den Weg legen, wenn Sie Vorurteile wachrufen. Geistliche und Ärzte sind kompetent, und wenn Sie wollen, können Sie viel von ihnen lernen. Arbeiten Sie mit ihnen zusammen, kritisieren Sie aber nie. Unser einziges Ziel ist, anderen zu helfen. Und gerade mit Ihrer eigenen Trinkerfahrung können Sie für andere Alkoholiker außerordentlich nützlich sein. Wenn Sie einen Anwärter für die Anonymen Alkoholiker entdecken, bringen Sie alles über ihn in Erfahrung. Wenn er nicht mit dem Trinken aufhören will, vergeuden Sie keine Zeit damit, ihn überreden zu wollen. Sie machen vielleicht eine spätere Gelegenheit zunichte. Diesen Vorschlag sollte man auch seiner Familie machen. Sie sollte geduldig sein und sich klar machen, daß sie es mit einem kranken Menschen zu tun hat. Wenn es irgendein Anzeichen gibt, daß er aufhören will, dann führen Sie ein offenes Gespräch mit dem Menschen, der ihm am nächsten steht. Meistens ist das seine Frau. Machen Sie sich ein Bild vom Verhalten des Alkoholikers, seinen Problemen, seiner Vergangenheit, vom Ernst seines Zustandes und seinen religiösen Neigungen. Sie brauchen dieses Wissen, um sich an seine Stelle versetzen zu können, um zu spüren, wie Sie am liebsten von ihm angesprochen würden, wenn es umgekehrt wäre. Manchmal ist es klug zu warten, bis der Alkoholiker wieder voll drinhängt. Die Familie mag dagegen sein. Wenn der Alkoholiker nicht in einer sehr schlechten körperlichen Verfassung ist, ist es besser, dieses Risiko einzugehen. Geben Sie sich nicht mit ihm ab, wenn er sehr betrunken ist, es sei denn, er benimmt sich scheußlich und die Familie braucht Ihre Hilfe. Warten Sie das Ende des Rausches ab oder wenigstens einen lichten Augenblick! Dann sollen seine Familie oder ein Freund ihn fragen, ob er tatsächlich aufhören und alles unternehmen will, um das zu erreichen. Wenn er ja sagt, dann sollte man ihn darauf aufmerksam machen, daß Sie einer sind, der genesen ist. Sie sollen ihm beschrieben werden als Mitglied einer Gemeinschaft von Männern und Frauen, die zum Zweck ihrer eigenen Genesung versuchen, anderen zu helfen. Man sollte ihm sagen, daß Sie gern mit ihm sprechen würden, wenn er Wert darauf legt. Wenn er Sie nicht sehen möchte, drängen Sie sich nicht auf. Auch sollte die Familie ihn nicht hysterisch anflehen, irgend etwas zu unternehmen, noch sollten Sie ihm viel von sich erzählen. Sie sollten das Ende seines nächsten Besäufnisses abwarten. Sie können dafür sorgen, daß er in der Zwischenzeit einmal auf dieses Buch aufmerksam wird. Für all das gibt es keine besonderen Regeln. Die Familie sollte darüber entscheiden. Aber bitten Sie die Familie dringend, nicht überängstlich zu sein, weil das alles verderben könnte. Im allgemeinen sollte die Familie nicht versuchen, ihm Ihre Ge schichte zu erzählen. Es sollte vermieden werden, daß der Kontakt durch seine Familie hergestellt wird. Es ist besser, wenn er Sie durch einen Arzt oder eine Institution kennenlernt. Wenn Ihr Patient Behandlung in einem Krankenhaus braucht, soll er sie haben, aber nicht mit dem Zwang, außer wenn er gewalttätig ist. Der Arzt soll dem Patienten sagen, daß es einen Ausweg aus den Schwierigkeiten gibt. Wenn es Ihrem Schützling besser geht, mag der Arzt Ihren Besuch vorschlagen. Obgleich Sie mit der Familie gesprochen haben, sollten die Angehörigen aus dem ersten Gespräch herausgehalten werden. Unter diesen Voraussetzungen wird der Betroffene merken, daß er nicht unter Zwang steht. Er wird merken, daß er sich mit Ihnen verständigen kann, ohne daß seine Familie an ihm herumnörgelt. Besuchen Sie ihn, solange er noch zittert. Wahrscheinlich ist er zugänglicher, wenn er noch in schlechter Verfassung ist. Wenn möglich, sollten Sie mit ihm allein sprechen. Fallen Sie nicht mit der Tür ins Haus, beginnen Sie mit ganz allgemeinen Dingen und kommen Sie nach einer Weile auf das Trinken zu sprechen. Erzählen Sie ihm einiges über Ihre Trinkgewohnheiten, Symptome und Erfahrungen, um ihn zu ermutigen, über sich selbst zu reden. Wenn er sprechen möchte, lassen Sie ihn. Auf diese Weise wird Ihnen klarer, wie Sie weitermachen können. Wenn er nicht mitteilsam ist, geben Sie ihm einen kurzen Überblick über Ihr Trinkerleben bis zu dem Zeitpunbkt, an dem Sie aufgehört haben. Aber sagen Sie jetzt noch nicht, wie das gelungen ist. Wenn er niedergeschlagen ist, erzählen Sie ausführlich von den Schwierigkeiten, die Ihnen der Alkohol bereitet hat. Dabei sollten Sie es vermeiden, zu predigen oder zu belehren. Wenn er guter Laune ist, erzählen Sie ihm lustige Episoden aus Ihrer Vergangenheit. Bringen Sie ihn soweit, daß er von seinen eigenen Erlebnissen spricht. Wenn er merkt, daß Sie alle Trinkertricks kennen, dann geben Sie sich ihm als Alkoholiker zu erkennen. Erzählen Sie ihm, wie durcheinander Sie waren und wie Sie schließlich erfahren haben, daß Sie krank sind. Erzählen Sie ihm genau, welche verzweifelten Versuche Sie gemacht haben, um aufzuhören. Beschreiben Sie ihm das verwirrte Denken, das wieder zum ersten Glas und damit zum nächsten Rausch führt. Wir schlagen vor, daß Sie es so machen, wie wir es im Kapitel über Alkoholismus beschrieben haben. Wenn er Alkoholiker ist, wird er Sie sofort verstehen. Er wird Ihre geistigen Ungereimtheiten mit seinen eigenen vergleichen. Wenn Sie überzeugt sind, daß er wirklich Alkoholiker ist, be schreiben Sie ihm die Hoffnungslosigkeit der Krankheit. Zeigen Sie ihm anhand Ihrer eigenen Erfahrungen, wie verwirrt der Geisteszustand ist, der zum ersten Glas führt und der das Funktionieren der Willenskraft verhindert. Beziehen Sie sich jetzt noch nicht auf dieses Buch, es sei denn, er hätte es schon gesehen und möchte darüber sprechen. Hüten Sie sich davor, ihn als Alkoholiker abzustempeln. Lassen Sie ihn seine eigenen Schlüsse ziehen. Wenn er weiterhin meint, kontrolliert trinken zu können, sagen Sie ihm, daß er das möglicherweise kann - wenn sein Alkoholismus noch nicht zu weit fortgeschritten ist. Beharren Sie darauf, daß seine Chancen auf Genesung aus eigener Kraft gering sind, wenn er ernsthaft krank ist. Sprechen Sie weiterhin von Alkoholismus als einer Krankheit mit tödlichem Ausgang. Sprechen Sie mit ihm über die körperlichen und geistigen Begleiterscheinungen des Alkoholismus. Lenken Sie seine Aufmerksamkeit auf Ihre eigenen Erfahrungen. Erklären Sie ihm, daß viele zum Untergang bestimmt sind, die ihre mißliche Lage nicht wahrhaben wollen. Die Ärzte sind zu Recht abgeneigt, ihren Alkoholiker-Patienten die ganze Wahrheit zu sagen, es sei denn, es dient einem guten Ziel. Sie aber können mit ihm über die Hoffnungslosigeit des Alkoholismus reden, denn Sie bieten eine Lösung an. Ihr Freund wird bald zugeben, daß er viele, wenn nicht alle Züge eines Alkoholikers trägt. Wenn sein eigener Arzt bereit ist, ihm zu sagen, daß er ein Alkoholiker ist, um so besser. Selbst wenn Ihr Schützling sich seinen Zustand noch nicht ganz eingestanden hat, wird er neugierig sein, wie Sie es geschafft haben. Lassen Sie ihn fragen, wenn er will. Erzählen Sie ihm genau, was mit Ihnen geschehen ist. Betonen Sie nachdrücklich den seelischen Aspekt. Wenn der Betroffene Agnostiker oder Atheist ist, dann heben Sie sehr deutlich hervor, daß er mit Ihrer Vorstellung von Gott nicht übereinstimmen muß. Er kann sich die Vorstellung wählen, die ihm zusagt, wenn sie ihm selber sinnvoll erscheint. Hauptsache, er ist bereit, an eine Macht, höher als er selbst, zu glauben und nach seelischen Grundsätzen zu leben. Wenn Sie es mit so jemandem zu tun haben, dann benutzen Sie besser die Alltagssprache, um seelische Grundsätze zu schildern. Es hat keinen Zweck, Vorurteile gegen theologische Leitsätze und Begriffe wachzurufen, über die er ohnehin nur verworrene Vorstellungen hat. Bringen Sie solche Dinge nicht zur Sprache, egal wie Ihre eigene Überzeugung ist. Ihr Schützling mag einer Konfession angehören. Er mag eine inten sivere religiöse Erziehung und Ausbildung genossen haben als Sie. In diesem Falle fragt er sich verwundert, was Sie ihm über sein Wissen hinaus noch zu sagen haben. Er ist neugierig zu erfahren, warum sein eigener Glaube versagt hat und warum Ihrer so gute Erfolge zu erzielen scheint. Ihr Schützling ist vielleicht ein Beispiel für die Tatsache, daß Glaube allein nicht genügt. Um lebendig zu sein, muß der Glaube von Selbstaufopferung und selbstlosen, aufbauenden Taten begleitet sein. Machen Sie dem neuen Freund klar, daß Sie nicht gekommen sind, um ihm Religionsunterricht zu geben. Geben Sie zu, daß er wahrscheinlich mehr über Religion weiß als Sie. Aber machen Sie ihn darauf aufmerksam, daß er seinen Glauben und seine Erkenntnisse, wie tief sie auch sein mögen, nicht richtig angewandt hat, sonst würde er nicht trinken. Vielleicht kann er anhand Ihrer Lebensgeschichte herausfinden, wo er es versäumt hat, nach den Geboten zu leben, die er so gut kennt. Wir vertreten keinen bestimmten Glauben, noch irgendeine religiöse Gemeinschaft. Wir befassen uns nur mit allgemeinen Grundsätzen, wie sie den meisten Konfessionen gemeinsam sind. Beschreiben Sie in groben Zügen, wie es bei Ihnen abgelaufen ist, wie Sie sich eingeschätzt haben, wie Sie mit der Vergangenheit klargekommen sind und warum Sie sich bemühen, ihm zu helfen. Es ist wichtig für ihn zu begreifen, daß Ihr Versuch, diese Erfahrung an ihn weiterzugeben, eine wichtige Rolle bei Ihrer eigenen Genesung spielt. Es kann durchaus sein, daß er Ihnen mehr hilft, als Sie ihm. Machen Sie ihm klar, daß er Ihnen nicht verpflichtet ist. Sie hoffen lediglich, daß auch er versuchen wird, anderen Alkoholikern zu helfen, wenn er aus seinen eigenen Schwierigkeiten herauskommt. Weisen Sie drauf hin, wie wichtig es ist, das Wohlergehen anderer Menschen über das eigene zu stellen. Machen Sie ihm deutlich, daß er nicht unter Druck steht und daß er Sie nicht wiederzusehen braucht, wenn er nicht will. Sie sollten nicht beleidigt sein, wenn er den Kontakt abbrechen will, denn er hat Ihnen mehr geholfen als Sie ihm. Wenn das, was Sie gesagt haben, vernünftig, ruhig und voll menschlichem Verständnis war, haben Sie vielleicht einen Freund gewonnen. Vielleicht haben Sie ihn durch das Gespräch über den Alkoholismus nachdenklich gemacht. Das wäre nur zu seinem Besten. Je hoffnungsloser er sich fühlt, um so besser. Er wird dann eher Ihren Vorschlägen folgen. Ihr Schützling mag Gründe anführen, warum er meint, das Programm nicht in allen Punkten nötig zu haben. Er mag sich gegen den Gedanken auflehnen, jetzt ans Großreinemachen gehen zu müssen, wozu das offene Gespräch mit anderen notwendig ist. Widersprechen Sie solchen Ansichten nicht. Erzählen Sie ihm, daß Sie auch einmal so empfunden haben wie er. Sie bezweifeln aber, ob Sie große Fortschritte gemacht hätten, ohne etwas zu unternehmen. Sprechen Sie bei dem ersten Besuch von der Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker. Wenn er Interesse zeigt, borgen Sie ihm dieses Buch. Wenn Ihr Freund nicht weiter von sich selbst erzählen will, dehnen Sie den Besuch nicht zu lange aus. Geben Sie ihm Gelegenheit, über alles nachzudenken. Wenn Sie dennoch bleiben, lassen Sie ihn die Richtung des Gesprächs bestimmen. Manchmal ist ein Neuer erpicht darauf, sofort in das Genesungsprogramm einzusteigen. Sie mögen versucht sein, es ihm zuzugestehen. Das kann ein Fehler sein. Hat er nämlich später Schwierigkeiten, könnte er sagen, Sie hätten ihn gedrängt. Am ehesten werden Sie Erfolg mit Alkoholikern haben, wenn Sie sich nicht als Kreuzritter oder Reformator aufspielen. Vermeiden Sie, im Gespräch den Eindruck spiritueller und moralischer Überheblichkeit zu erwecken. Bieten Sie ihm nur das seelische Rüstzeug an und zeigen Sie ihm, was Sie damit erreicht haben. Bieten Sie ihm Freundschaft und Kameradschaft an. Sagen Sie ihm, daß Sie alles tun werden, um ihm zu helfen, wenn er gesund werden will. Wenn er an der Lösung, die Sie ihm anbieten, nicht interessiert ist, wenn er erwartet, daß Sie nur als Bankier für seine finanziellen Schwierigkeiten fungieren oder als Kindermädchen bei seinen Sauftouren da sind, dann müssen Sie ihn wahrscheinlich fallenlassen, bis er seine Meinung ändert. Voraussichtlich wird er das erst tun, wenn er noch mehr eingesteckt hat. Sollte er ernsthaft interessiert sein und Sie wiedersehen wollen, schlagen Sie ihm vor, in der Zwischenzeit dieses Buch zu lesen. Danach muß er selbst entscheiden, ob er weitermachen will. Er sollte weder von Ihnen noch von seiner Frau, noch von seinen Freunden angetrieben oder gedrängt werden. Um Gott zu finden, muß der Wunsch aus seinem Inneren kommen. Wenn er glaubt, er kann es anders erreichen, oder wenn er einen anderen spirituellen Weg vorziehen möchte, ermutigen Sie ihn, seinem eigenen Gewissen zu folgen. Wir haben kein Monopol auf Gott, wir haben nur unseren Weg zu ihm, der für uns richtig war. Unterstreichen Sie jedoch, daß wir Alkoholiker vieles gemeinsam haben und daß Sie ihm auf jeden Fall freundschaftlich gesinnt sind. Lassen Sie es damit genug sein. Seien Sie nicht entmutigt, wenn er nicht gleich reagiert. Suchen Sie sich einen anderen Alkoholiker, und versuchen Sie es erneut. Sie werden ganz bestimmt einen finden, der verzweifelt genug ist, Ihr Angebot begierig anzunehmen. Sie verschwenden Zeit, wenn Sie jemandem nachlaufen, der nicht mitmachen kann oder will. Wenn Sie so jemanden in Ruhe lassen, wird er bald überzeugt sein, daß er aus eigener Kraft nicht gesunden kann. Zuviel Zeit für einen einzelnen verschwenden bedeutet, einem anderen Alkoholiker die Gelegenheit vorzuenthalten, zu leben und glücklich zu sein. Einer von uns scheiterte völlig mit seinem ersten halben Dutzend Schützlingen. Heute erzählt er oft von den vielen, die inzwischen genesen sind und die um ihre Chance gebracht worden wären, wenn er sich weiter mit den noch Uneinsichtigen beschäftigt hätte. Angenommen, es kommt zu einem zweiten Gespräch. Der andere hat inzwischen dieses Buch gelesen und sagt, er sei bereit, sich mit den Zwölf Schritten des Genesungsprogramms zu befassen. Da Sie selbst Erfahrungen damit gemacht haben, können Sie ihm viele praktische Tips geben. Lassen Sie ihn wissen, daß Sie zur Verfügung stehen, wenn er sich Ihnen anvertrauen möchte. Bestehen Sie aber nicht darauf, wenn er sich lieber an jemand anderen wenden will. Vielleicht ist er pleite und obdachlos. In diesem Fall könnten Sie ihm helfen, eine Arbeit zu finden oder ihm eine kleine finanzielle Unterstützung gewähren. Ihre Familie und die sonstigen Verpflichtungen haben natürlich Vorrang. Vielleicht möchten Sie Ihren Schützling für einige Tage bei sich zu Hause aufnehmen. Aber holen Sie zuerst das Einverständnis Ihrer Familie ein und passen Sie auf, daß der andere Sie nicht wegen Ihres Geldes, Ihrer Beziehungen und Ihrer Gastfreundschaft ausnützt. Wenn Sie das zulassen, schaden Sie ihm nur. Sie ermöglichen ihm, unaufrichtig zu sein. Sie tragen eher dazu bei, daß er vor die Hunde geht, als daß Sie ihm helfen. Scheuen Sie nie diese Verantwortung, aber gehen Sie sicher, daß Sie das Richtige tun, wenn Sie solche Verantwortung übernehmen. Anderen zu helfen, ist der Grundstein Ihrer Genesung. Ab und zu eine freundliche Tat ist nicht genug. Wenn es nötig ist, müssen Sie täglich der gute Samariter sein. Das kann Sie viele schlaflose Nächte kosten, Ihre Freizeit stark beeinträchtigen und Ihre berufliche Arbeit stören. Es könnte bedeuten, Geld und Heim zu teilen, aufgebrachte Ehefrauen und Verwandte zu beraten, zahllose Besuche auf Polizeirevieren, in Sanatorien, Krankenhäusern, Gefängnissen und Obdachlosenheimen zu machen. Es ist möglich, daß Ihr Telefon Tag und Nacht klingelt. Ihre Frau wird Ihnen manchmal sagen, daß sie sich vernachlässigt fühlt. Es ist möglich, daß ein Betrunkener das Mobilar Ihres Hauses zerschlägt oder eine Matratze anbrennt. Es kann sein, daß Sie sich ihm gegenüber zur Wehr setzen müssen, wenn er gewaltätig wird. Manchmal müssen Sie einen Arzt rufen und nach seiner Weisung Beruhigungsmittel verabreichen. Ein anderes Mal kann es sein, daß Sie die Polizei oder eine Ambulanz rufen müssen. Gelegentlich werden Sie mit solchen Dingen konfrontiert. Selten gestatten wir einem Alkoholiker, für längere Zeit in unserer Wohnung zu leben. Es ist nicht gut für ihn und schafft manchmal ernsthafte Probleme in der Familie. Auch wenn ein Alkoholiker auf angebotene Hilfe nicht eingeht, besteht kein Grund, seine Familie hängenzulassen. Ihr gegenüber sollten Sie weiterhin hilfsbereit sein. Sprechen Sie mit der Familie über ihre Lebensweise. Wenn sie seelische Grundsätze annimmt und praktiziert, hat das Familienoberhaupt eine viel größere Chance zu genesen. Selbst wenn er weiter trinkt, wird für die Familie das Leben erträglicher sein. Für den Alkoholiker, der willig und fähig ist, gesund zu werden, ist wenig Fürsorge im eigentlichen Sinne des Wortes nötig oder erwünscht. Diejenigen, die nach Geld und Obdach rufen, anstatt sich um ihr Alkoholproblem zu kümmern, sind auf dem Holzweg. Trotzdem gehen wir sehr weit, um einander mit dem Nötigsten zu versorgen, wenn es angebracht ist. Das mag dem Außenstehenden widersprüchlich erscheinen, wir meinen jedoch, daß es in Ordnung ist. Es geht nicht darum, ob wir geben, sondern wann und wie. Oft hängt davon Erfolg oder Mißerfolg ab. In dem Augenblick, in dem unsere Fürsorge zur Versorgung wird, fängt der Alkoholiker an, sich mehr auf unsere Hilfe zu verlassen als auf Gott. Unser Schützling verlangt nach diesem und jenem und behauptet, er könne mit dem Alkoholproblem nicht fertig werden, bevor seine materielle Not behoben ist. - Unsinn! Einige von uns mußten sehr harte Schläge einstecken, bevor sie diese Wahrheit gelernt hatten: Arbeit oder keine Arbeit - Frau oder keine Frau -, wir hören einfach solange mit dem Trinken nicht auf, solange wir die Abhängigkeit von anderen Menschen über die Abhängigkeit von Gott stellen. Prägen Sie es tief in das Bewußtsein eines jeden Alkoholikers, daß er gesund werden kann, ohne sich materiell von anderen abhängig zu machen. Die einzige Bedingung ist, daß er Gott vertraut und reinen Tisch macht. Nun zum häuslichen Problem: Es mag Scheidung, Trennung oder ge spannte Beziehungen geben. Wenn Ihr Schützling bei seiner Familie wiedergutgemacht hat, soviel er konnte, und ihr sorgfältig erklärt hat, nach welchen neuen Grundsätzen er jetzt lebt, sollte er anfangen, diese Grundsätze nun zu Hause in die Tat umzusetzen. Sofern er noch in der glücklichen Lage ist, ein Zuhause zu haben. Obwohl seine Familie vielleicht auch Fehler gemacht hat, sollte er sich zunächst nicht darum kümmern. Er sollte sich vielmehr darauf konzentrieren, sein eigenes seelisches Programm zu leben. Streit und Fehlersuchen sollten gemieden werden wie die Pest. In vielen Familien ist das schwer durchzuführen, aber es muß gemacht werden, wenn man Erfolg sehen will. Wenn das einige Monate durchgehalten wird, ist die Wirkung auf die Familie sicherlich groß. Die unverträglichsten Leute entdecken, daß sie eine gemeinsame Basis haben, auf der sie sich finden können. Nach und nach werden die Angehörigen ihre eigenen Unzulänglichkeiten einsehen und zugeben. Alles kann dann in einer Atmosphäre von Hilfsbreitschaft und Freundlichkeit besprochen werden. Nachdem die Angehörigen greifbare Erfolge sehen, werden sie wahr scheinlich mitziehen. Das wird alles von selbst und zur rechten Zeit geschehen. Voraussetzung ist, daß der Alkoholiker dabei bleibt, nüchtern, rücksichtsvoll und hilfsbereit zu sein, ganz gleich, was andere sagen oder tun. Natürlich können wir alle diesem hohen Anspruch nicht ständig genügen. Haben wir Fehler gemacht, müssen wir den angerichteten Schaden wiedergutmachen, wenn wir nicht mit einem Rückfall bestraft werden wollen. Wenn es eine Scheidung oder Trennung gegeben hat, so sollte sich das Paar nicht übereilt wieder zusammentun. Der Mann sollte sich seiner Genesung sicher sein. Die Frau sollte volles Verständnis für die neue Lebensführung aufbringen. Wenn beide ihre alte Beziehung wieder aufnehmen wollen, dann nur auf einer besseren Grundlage, denn die vorige war schlecht. Das erfordert von beiden eine neue Einstellung und eine neue Haltung. Manchmal ist es im Interesse aller Beteiligten, das ein Paar getrennt bleibt. Offensichtlich gibt es dafür keine Regeln. Lassen wir den Alkoholiker sein Programm Tag für Tag leben. Wenn die Zeit für ein gemeinsames Leben gekommen ist, werden es beide Teile spüren. Nehmen Sie es keinem Alkoholiker ab, wenn er sagt, er könne nicht eher genesen, bis er seine Familie zurückhat. Das stimmt einfach nicht. Es gibt Fälle, in denen die Frau aus dem einen oder anderen Grund nie zurückkommt. Erinnern Sie den Schützling daran, daß seine Genesung nicht von Menschen abhängt. Sie ist von seiner Beziehung zu Gott abhängig. Wir haben Menschen erlebt, die gesund geworden sind, obwohl ihre Familie überhaupt nicht zurückgekehrt ist. Wir haben andere erlebt, die rückfällig wurden, als die Familie zu früh zurückkam. Sie beide, der Neue und Sie, müssen Tag für Tag auf dem Weg des spirituellen Fortschritts gehen. Wenn Sie beide durchhalten, werden erstaunliche Dinge geschehen. Rückblickend erkennen wir, daß alles, was mit uns geschah, nachdem wir uns Gott anvertraut hatten, besser war als alles, was wir jemals hätten planen können. Folgen Sie den Geboten der Höheren Macht, und Sie werden bald in einer neuen und besseren Welt leben, ganz gleich, wie es jetzt um Sie steht! Wenn Sie sich mit einem Alkoholiker und seiner Familie befassen, sollten Sie darauf achten, sich nicht in ihre Streitigkeiten einzumischen. Damit vergeben Sie sich vielleicht die Chance zu helfen. Machen Sie der Familie mit Nachdruck klar, daß er sehr krank war und entsprechend behandelt werden sollte. Sie sollten vor aufkommendem Groll und Eifersucht warnen. Sie sollten darauf hinweisen, daß seine Charaktermängel nicht über Nacht verschwinden werden. Erklären Sie ihnen, daß er am Beginn einer Entwicklung steht. Wenn die Familie ungeduldig wird, sei sie an die segensreiche Tatsache erinnert, daß er nüchtern ist. Wenn Sie bei der Lösung Ihrer eigenen häuslichen Probleme erfolg reich waren, erzählen Sie der Familie des Neuen, wie Sie das geschafft haben. So können Sie auf den richtigen Weg weisen, ohne zu kritisieren. Die Geschichte, wie Sie und Ihre Frau die Schwie rigkeiten gemeistert haben, ist wertvoller, als Kritik zu üben. Vorausgesetzt, wir sind seelisch in guter Verfassung, so können wir alle möglichen Dinge tun, vor denen Alkoholiker oft gewarnt werden. Die Leute meinen, wir dürften da nicht hineingehen, wo Alkohol ausgeschenkt wird; wir sollten ihn nicht im Hause haben; wir sollten Freunden aus dem Weg gehen, die Alkohol trinken; wir sollten Filme meiden, in denen Trinkszenen vorkommen; wir sollten nicht in Bars gehen; unsere Freunde sollten ihre Flaschen wegräu men, wenn wir sie besuchen; wir sollten weder an Alkohol denken, noch überhaupt daran erinnert werden. Unsere Erfahrung zeigt aber, daß das alles gar nicht so sein muß. Wir werden täglich mit Alkohol konfrontiert. Ein Alkoholiker, der damit nicht fertig wird, steckt immer noch im alkoholischen Denken. Mit seiner seelischen Verfassung stimmt irgend etwas nicht. Seine einzige Chance, nüchtern zu bleiben, wäre ein Ort wie Grönland. Und selbst dort könnte ein Eskimo mit einer Flasche Whisky auftauchen und alles ruinieren! Fragen Sie einmal eine Frau, die ihren Mann an einen entlegenen Ort geschickt hat, in der Annahme, er würde dort seinem Alkoholproblem entkommen! Die Bekämpfung des Alkoholismus nach der Methode, den kranken Menschen von der Versuchung fernzuhalten, ist nach unserer Meinung zum Scheitern verurteilt. Wenn der Alkoholiker versucht, sich selbst abzuschirmen, kann ihm das eine Zeitlang gelingen. Gewöhnlich aber endet das mit einer neuen Katastrophe. Wir haben diese Methoden ausprobiert. Diese Versuche, das Unmögliche zu tun, sind immer fehlgeschlagen. Es gibt keine Regel, die uns verbietet, an Orte zu gehen, wo getrunken wird. Wir können überall hingehen, wenn wir einen ver nünftigen Grund haben, uns dort aufzuhalten. Wir meinen damit Bars, Nachtklubs, Tanzveranstaltungen, Empfänge, Hochzeiten und Partys. Wer Erfahrungen mit einem Alkoholiker hat, dem mag das wie eine Herausforderung des Schicksals vorkommen, aber das ist es nicht. Sie haben sicher gemerkt, daß wir eine wichtige Einschränkung gemacht haben. Fragen Sie sich deshalb bei jedem Anlaß: "Gibt es für mich triftige gesellschaftliche, geschäftliche oder persönliche Gründe, um dorthin zu gehen? Oder erwarte ich etwas Ersatzvergnügen durch die Atmosphäre solcher Orte?" Wenn Sie sich auf diese Frage befriedigende Antworten geben können, brauchen Sie keine Befürchtungen zu haben. Gehen Sie hin oder halten Sie sich fern, was immer Sie für richtig halten. Seien Sie sicher, daß Sie seelisch in guter Verfassung sind, ehe Sie aufbrechen, und daß Sie einen guten Grund haben, dorthin zu gehen. Denken Sie nicht daran, was der Anlaß Ihnen bringt, sondern denken Sie daran, was Sie dort einbringen können. Wenn Sie Zweifel haben, dann unterhalten Sie sich lieber mit einem anderen Alkoholiker! Warum mit langem Gesicht dort sitzen, wo getrunken wird, und den "guten alten Tagen" nachtrauern? Wenn es ein froher Anlaß ist, versuchen Sie, zur guten Laune der anderen beizutragen; wenn es ein geschäftlicher Anlaß ist, kümmern Sie sich aufmerksam um Ihre Geschäfte. Wenn Sie mit jemandem zusammen sind, der in einem Restaurant essen möchte, gehen Sie auf alle Fälle mit. Lassen Sie Ihre Freunde wissen, daß sie wegen Ihnen keine Gewohnheiten zu ändern brauchen. Erklären Sie allen Freunden zur rechten Zeit und am richtigen Ort, warum Ihnen Alkohol nicht bekommt. Wenn Sie das überzeugend tun, wird Sie kaum jemand zum Trinken einladen. Während Ihrer Trinkerzeit hatten Sie sich mehr und mehr isoliert. Jetzt kehren Sie ins gesellschaftliche Leben zurück. Fangen Sie nicht wieder an, sich zurückzuziehen, nur weil Ihre Freunde Alkohol trinken. Heute ist es Ihre Aufgabe, dort zu sein, wo Sie anderen größtmög liche Hilfe sein können. Zögern Sie nie, dorthin zu gehen, wo Sie helfen können, auch dann nicht, wenn es sich um einen noch so üblen Platz handelt. Bleiben Sie immer an vorderster Front mit Ihrem Auftrag, und Gott wird Sie schützen. Viele von uns haben Alkohol zu Hause. Manche brauchen ihn, um Schützlingen über einen schweren Kater hinwegzuhelfen. Einige von uns bieten ihren Gästen nach wie vor Alkohol an, wenn es keine Alkoholiker sind. Andere meinen, wir sollten niemand Alkohol anbieten. Diese Frage wird bei uns nicht diskutiert. Wir sind der Meinung, daß jede Familie das selbst entscheiden kann. Sorgfältig sollten wir darauf achten, keine Intoleranz und keinen Haß gegenüber den Trinkgewohnheiten der Gesellschaft zu zeigen. Die Erfahrung lehrt, daß solche Haltung keinem hilft. Jeder Neue rechnet damit, daß wir eine solche Einstellung haben, und ist unendlich erleichtert festzustellen, daß wir keine Hexenverbrenner sind. Der Geist der Intoleranz könnte Alkoholiker abstoßen, deren Leben ohne diese Engstirnigkeit hätte gerettet werden können. Selbst der Sache der Abstinenzlerbewegung würden wir mit Intoleranz keinen guten Dienst erweisen. Kein Trinker unter Tausenden läßt sich gern etwas über Alkohol erzählen von jemandem, der den Alkohol haßt. Eines Tages, so hoffen wir, werden die Anonymen Alkoholiker der Öffentlichkeit dazu verhelfen, die Schwere des Alkoholproblems besser zu verste hen. Das werden wir jedoch nie erreichen, wenn wir eine verbitterte oder feindselige Einstellung gegenüber dem Alkohol haben. Bei Trinkern würden wir damit sowieso nichts erreichen. Letzten Endes haben wir unsere Probleme selbst geschaffen. Die Flaschen waren nur ein Symbol. Außerdem haben wir aufgehört, jemanden oder etwas zu bekämpfen. Wir müssen das einfach! Kapitel 8 An die Ehefrauen Von einigen Ausnahmen abgesehen, ist in unserem Buch bisher nur von Männern die Rede. Aber das, was wir gesagt haben, trifft genauso auf Frauen zu. Mehr und mehr kümmern wir uns jetzt auch um trinkende Frauen. Alles deutet darauf hin, daß Frauen ihre Gesundheit genauso schnell wiedererlangen wie Männer, wenn sie unseren Vorschlägen folgen. Bei jedem Mann, der trinkt, sind auch andere betroffen: die Ehe frau, die vor Angst zitternd die nächste Sauferei erwartet; Mutter und Vater, die zusehen müssen, wie ihr Son langsam verkommt. Unter uns gibt es Ehefrauen, Angehörige und Freunde, deren Problem gelöst wurde, aber auch solche, die bis jetzt keine befriedigende Lösung gefunden haben. Wir möchten, daß sich die Ehefrauen von Anonymen Alkoholikern an die Frauen wenden, deren Männer trinken. Was die Frauen von Anonymen Alkoholikern zu sagen haben, kann fast jedem helfen, der durch die Bande des Blutes oder der Liebe mit einem Alkoholiker verbunden ist. Als Ehefrauen von Anonymen Alkoholikern möchten wir, daß Sie merken, daß wir Sie verstehen wie kaum ein anderer. Wir wollen hier die Fehler untersuchen, die wir selbst gemacht haben. Wir wollen Ihnen das Gefühl vermitteln, daß keine Lage zu schwierig und kein Unglück zu groß ist, um nicht überwunden zu werden. Wir sind einen schweren Weg gegangen, darüber gibt es keinen Zweifel. Lange mußten wir uns mit verletztem Stolz, Enttäuschung, Selbstmitleid, Mißverständnis und Angst herumschlagen. Keine angenehmen Begleiter. Wir wurden von übertriebener Zuneigung bis zu bitterem Groll getrieben. Einige von uns fielen von einem Extrem ins andere, immer in der Hoffnung, daß eines Tages unsere Lieben wieder sie selbst sein würden. Unsere Treue und der Wunsch, daß unsere Ehemänner den Kopf hoch tragen und wie andere Männer sein sollten, haben uns in viele mißliche Lagen gebracht. Wir waren uneigennützig und aufopfernd. Um unseren Stolz und den Ruf unseres Ehemannes zu schützen, haben wir unzählige Lügen verbreitet. Wir haben gebetet, gebettelt, wir waren geduldig. Wir haben wie wild um uns geschlagen. Wir sind weggelaufen. Wir waren hysterisch. Wir waren krank vor Angst. Wir sehnten uns nach Zuneigung. Um uns zu rächen, hatten wir Liebesaffären mit anderen Männern. Unser Zuhause war an vielen Abenden ein Schlachtfeld. Am nächsten Morgen küßten wir uns und vertrugen uns wieder. Unsere Freunde haben uns geraten, den Mann zu verlassen, was wir mit Entschlos senheit getan haben. Nach kurzer Zeit sind wir dann doch wieder zurückgekehrt und haben weiter gehofft. Unsere Männer haben große heilige Eide geschworen, daß sie nun für immer mit dem Trinken aufgehört hätten. Wir haben ihnen geglaubt, wenn das auch sonst keiner konnte oder wollte. Dann, nach Tagen, Wochen oder Monaten war wieder die Hölle los. Selten hatten wir Freunde zu Hause, denn wir wußten nie, in welchem Zustand oder zu welcher Zeit der Herr des Hauses erscheinen würde. Wir konnten kaum gesellschaftliche Verpflichtungen eingehen. Bald waren wir so weit, daß wir fast allein lebten. Wenn wir irgendwohin eingeladen wurden, tranken unsere Ehemänner heimlich soviel, daß sie den ganzen Abend verdarben. Wenn sie jedoch nichts tranken, machte ihr Selbstmitleid sie zu Spielverderbern. Es gab keine finanzielle Sicherheit. Sein Arbeitsplatz war immer in Gefahr oder verloren. Nicht einmal ein Panzerwagen hätte die Lohntüte nach Hause bringen können. Das Konto schmolz dahin wie Butter in der Sonne. Manchmal gab es auch andere Frauen. Wie niederschmetternd war diese Entdeckung! Wie grausam zu hören, daß andere Frauen unsere Männer verstehen und wir nicht! An der Tür hatten wir Geldeintreiber, Gerichtsvollzieher, wütende Taxifahrer, Polizisten, Penner, Kumpels und sogar die Damen, die er manchmal nach Hause brachte. Und unsere Ehemänner hielten uns für ungastlich. "Spielverderberin, Meckerziege und Hausdrachen" - so nanntemn sie uns. Am nächsten Tag waren sie wieder die alten, und wir vergaben ihnen wieder und versuchten zu vergessen. Wir haben versucht, die Liebe unserer Kinder zu ihrem Vater zu erhalten. Den Kleinen haben wir erzählt, daß Vater krank sei, was der Wahrheit näherkam, als wir wußten. Unsere Männer schlugen die Kinder, traten Türfüllungen ein, zertrümmerten wertvolles Geschirr und rissen die Tasten aus dem Klavier. Inmitten dieser Hölle war es möglich, daß sie mit der Drohung wegliefen, für immer mit der anderen Frau zusammenzuleben. In der Verzweiflung haben wir uns selbst betrunken - das Besäufnis, um alle Besäufnisse zu beenden. Das unerwartete Ergebnis war, daß unsere Ehemänner das sogar mochten. An diesem Punkt angelangt, ließen wir uns vielleicht scheiden und nahmen die Kinder mit nach Hause zu unseren Eltern. Daraufhin wurden wir von den Schwiegereltern scharf kritisiert, weil wir ihn verlassen hatten. Normalerweise sind wir geblieben, immer wieder. Als uns und unseren Familien die Armut drohte, suchten wir uns schließlich selbst Arbeit. Als die Besäufnisse immer dichter aufeinander folgten, holten wir uns ärztlichen Rat. Die alamierenden körperlichen und geistigen Symptome, die Anfälle von tiefer Reue, Depressionen und Minderwertigkeitsgefühlen, die sich unserer Männer bemächtigten - all das erschreckte und quälte uns. Wie Tiere in einer Tretmühle haben wir geduldig und unermüdlich getreten. Jeder Versuch, Boden zu gewinnen, war vergeblich, und wir sind erschöpft zurückgefallen. Die meisten von uns haben das letzte Stadium miterlebt: Einweisung in Kuranstalten, Krankenhäuser und Gefängnisse. Manchmal gab es Delirien und Irrsinn. Der Tod war oft nahe. Unter solchen Umständen machten wir natürlich Fehler. Einige entstanden aus der Unwissenheit über Alkoholismus. Manchmal hatten wir so etwas wie eine Ahnung, daß wir es mit kranken Menschen zu tun hatten. Hätten wir die Besonderheit der Alkoholkrankheit wirklich verstanden, hätten wir uns wahrscheinlich anders verhalten. Wie konnten Männer, die ihre Frauen und Kinder liebten, so gedan kenlos, gefühllos und grausam sein. In solchen Menschen kann keine Liebe sein, dachten wir. Als wir gerade von ihrer Herzlosigkeit überzeugt waren, überraschten sie uns mit erneuten Vorsätzen und neuen Aufmerksamkeiten. Eine Zeitlang waren sie liebenswert wie früher. Kurz darauf machten sie die neu aufgebaute Zuneigung wieder kaputt. Fragte man sie, warum sie wieder trinken, hatten sie als Antwort eine dumme Entschuldigung oder auch keine. Es war so verwirrend und so niederdrückend. Konnten wir uns in den Männern, die wir geheiratet hatten, so getäuscht haben? Wenn sie tranken, waren sie Fremde. Manchmal waren sie so unzugänglich, daß es schien, als wäre eine große Mauer um sie herum gebaut. Und selbst, wenn sie ihre Familien nicht liebten, wie konnten sie sich selbst gegenüber so blind sein? Was war aus ihrem Urteilsvermögen, ihrem gesunden Menschenverstand und ihrer Willenskraft geworden? Warum konnten sie nicht begreifen, daß Trinken ihren Untergang bedeutete? Wie kam es, daß sie alles einsahen, wenn sie auf die Gefahren aufmerksam gemacht wurden, und sich dann doch sofort wieder betranken? Das sind Fragen, die jede Frau bewegen, die einen Alkoholiker zum Mann hat. Wir hoffen, daß dieses Buch einige Fragen beantwortet hat. Vielleicht hat Ihr Mann in dieser seltsamen Welt des Alkoho lismus gelebt, wo alles verzerrt und übertrieben ist. Sie spüren sicherlich, daß er Sie mit seinem besseren Ich wirklich liebt. Natürlich gibt es da Dinge, die nicht zusammenpassen. Beinahe in jedem Fall aber erscheint uns der Alkoholiker nur lieblos und rücksichtlos. Das kommt daher, weil er selbst verwirrt und ange ekelt ist von diesen schrecklichen Dingen, die er sagt und tut. Heute sind die meisten unserer Männer bessere Ehegatten und Väter als sie es je waren. Versuchen Sie, Ihren alkoholkranken Mann nicht zu verdammen, einerlei was er sagt oder tut. Er ist lediglich ein veränderter, sehr kranker, unvernünftiger Mensch. Behandeln Sie ihn, wenn Sie können, als hätte er Lungenentzündung. Wenn er Sie ärgert, denken Sie daran, daß er sehr krank ist. Für das eben Gesagte gibt es aber eine wichtige Ausnahme. Wir sind uns darüber im klaren, daß es einige Männer gibt, die unfähig sind, gute Vorsätze zu entwickeln. Da hilft auch keine Geduld. Ein Alkoholiker mit dieser Veranlagung ist schnell bei der Hand, Ihnen dieses Kapitel um die Ohren zu schlagen. Lassen Sie ihm das nicht durchgehen. Wenn Sie sicher sind, daß er ein solcher Typ ist, könnten Sie zu der Überzeugung gelangen, es wäre besser zu gehen. Soll er denn Ihr Leben und das Ihrer Kinder ruinieren? Vor allem dann, wenn er die Möglichkeit hat, seinen Alkoholmißbrauch zu beenden, sofern er wirklich den Preis dafür bezahlen will. Das Problem, mit dem Sie sich für gewöhnlich herumschlagen, fällt unter eine von vier Kategorien: Erstens: Ihr Ehemann ist vielleicht nur ein starker Trinker. Es kann sein, daß er regelmäßig trinkt oder sehr viel nur bei bestimmten Anlässen. Vielleicht gibt er zuviel Geld für Schnaps aus. Es kann sein, daß es seine geistigen und körperlichen Kräfte mindert, aber er merkt es nicht. Manchmal versetzt er sie und seine Freunde in Verwirrung. Er ist davon überzeugt, daß er mit dem Schnaps umgehen kann, daß Schnaps ihm nicht schadet und daß Trinken in seinem Beruf notwendig ist. Er wäre wahrscheinlich beleidigt, wenn man ihn als Alkoholiker bezeichnen würde. Die Welt ist voll von Leuten wie er. Einige werden weniger trinken oder ganz aufhören und andere wieder nicht. Von denen, die weitertrinken, werden viele nach einiger Zeit zu richtigen Alkoholikern. Zweitens: Ihr Ehemann zeigt Kontrollverluste. Er ist nicht in der Lage, für kürzere oder längere Zeit auf Alkohol zu verzichten, selbst wenn er wollte. Oft hat er sich nicht mehr in der Hand, wenn er trinkt. Er gibt zu, daß das stimmt, aber ist davon überzeugt, daß er sich bessern wird. Mit oder ohne Hilfe macht er Experimente, weniger oder gar nichts zu trinken. Mag sein, daß seine Freunde anfangen, sich von ihm abzuwenden. Vielleicht leidet auch sein Beruf schon darunter. Manchmal ist er beunruhigt und spürt, daß er nicht trinken kann wie andere Leute. Oft trinkt er morgens und den ganzen Tag hindurch, um seine Nervosität unter Kontrolle zu halten. Nach schweren Trinkgelagen hat er Gewissensbisse und erzählt Ihnen, daß er aufhören möchte. Wenn er den Kater überwunden hat, denkt er schon wieder darüber nach, wie er das nächste Mal mäßig trinken kann. Wir glauben, dieser Mann ist in Gefahr. Das sind die Kennzeichen eines echten Alkoholikers. Vielleicht kann er seinen Beruf immer noch ziemlich gut ausüben. Er hat noch keineswegs alles zerstört. Wie wir unter uns sagen, "er will aufhören wollen". Drittens: Dieser Ehemann ist noch viel weiter gegangen als Ehemann Nummer zwei. Obgleich er einst genau wie Nummer zwei war, wurde es bei ihm schlimmer. Seine Freunde haben sich abgewandt, sein Familienleben ist fast kaputt, und er kann in keiner Stellung mehr bleiben. Vielleicht wurde der Arzt gerufen, und der elende Kreislauf durch Sanatorien und Krankenhäuser hat begonnen. Er gibt zu, daß er nicht wie andere Leute trinken kann, aber versteht nicht warum. Er klammert sich an die Vorstellung, daß er doch noch einen Weg finden wird, aufzuhören. Es ist möglich, daß er den Punkt erreicht hat, wo er es verzweifelt wünscht, aber nicht kann. Sein Fall wirft zusätzliche Fragen auf. Wir werden versuchen, sie Ihnen zu beantworten. Selbst in einer solchen Situation können Sie noch zuversichtlich sein. Viertens: Vielleicht haben Sie einen Ehemann, an dem Sie völlig verzweifeln. Er wurde von einer Anstalt in die andere gebracht. Er ist gewalttätig oder macht einen geistesgestörten Eindruck, wenn er betrunken ist. Manchmal trinkt er schon auf dem Rückweg vom Krankenhaus. Vielleicht hat er ein Delirium tremens gehabt. Die Ärzte mögen die Köpfe schütteln und Ihnen den Rat geben, ihn verwahren zu lassen. Und doch ist dieses Bild vielleicht nicht so schwarz, wie es aussieht. Viele unserer Ehemänner waren genausoweit gekommen. Trotzdem wurden sie gesund. Lassen Sie uns nun auf Ehemann Nummer eins zurückkommen. Eigenar tigerweise ist es oft schwer, mit ihm umzugehen. Er hat Spaß am Trinken. Es beflügelt seine Vorstellungskraft. Er fühlt sich seinen Freunden näher bei einem Drink. Vielleicht trinken Sie selbst gern mit ihm, wenn er es nicht übertreibt. Sie haben glückliche Abend mit ihm verbracht, plaudernd bei einem Glas Wein. Vielleicht lieben Sie beide Parties, die ohne Alkohol langweilig wären. Wir haben selbst solche Abende genossen und hatten Spaß daran. Wir wissen, daß Alkohol Geselligkeiten in Schwung zu bringen vermag. Einige von uns - nicht alle - meinen, Alkohol habe Vorzüge, wenn man ihn vernünftig trinkt. Die erste Voraussetzung für den Erfolg ist, daß Sie niemals wütend sind. Selbst dann, wenn Ihr Mann unerträglich wird und Sie ihn vorübergehend verlassen müssen, sollten Sie, wenn Sie können, ohne Groll gehen. Geduld und Ausgeglichenheit sind äußerst wichtig. Was sein Trinken betrifft, sollten Sie ihm unserer Ansicht nach keine Vorschriften machen. Wenn er auf die Idee kommt, Sie seien eine Nörglerin oder Spielverderberin, ist Ihre Chance gleich Null, irgend etwas Nützliches zu erreichen. Er wird dies als Ausrede benutzen, noch mehr zu trinken. Er wird Ihnen sagen, daß Sie ihn nicht verstehen. Das wird zu einsamen Abenden für Sie führen. Er wird vielleicht jemand anderen suchen, der ihn tröstet - nicht immer einen anderen Mann. Setzen Sie alles daran, daß das Trinken Ihres Mannes die Beziehungen zu den Kindern oder den Freunden nicht zerstört. Die Kinder brauchen Ihre Kameradschaft und Hilfe. Es ist möglich, daß Sie ein ausgefülltes und nützliches Leben führen, obwohl Ihr Partner weitertrinkt. Wir kennen Frauen, die keine Angst haben und selbst unter diesen Umständen zufrieden sind. Verbrauchen Sie nicht zuviel Kraft, um Ihren Ehemann umzukrempeln. Vielleicht sind Sie dazu auch gar nicht in der Lage, wie sehr Sie sich auch anstrengen. Wir wissen, daß es manchmal schwierig ist, diesen Vorschlägen zu folgen. Aber Sie können sich viel Kummer ersparen, wenn es Ihnen gelingt, sie zu beachten. Vielleicht wird Ihr Mann Ihre Vernunft und Ihre Geduld schätzen. Das kann der Grundstein sein für ein sachliches Gespräch über sein Alkoholproblem. Versuchen Sie, solange zu warten, bis er das Thema selbst anschneidet. Geben Sie acht, daß Sie ihn während einer solchen Diskussion nicht kritisieren. Versuchen Sie statt dessen, sich in seine Lage zu versetzen. Lassen Sie ihn fühlen, daß Sie ihm helfen möchten und ihn nicht kritisieren wollen. Wenn es zu einer Aussprache kommt, können Sie ihm vorschlagen, dieses Buch oder wenigstens das Kapitel über Alkoholismus zu lesen. Sagen Sie ihm, daß Sie sich Sorgen gemacht haben, wenn auch vielleicht umsonst. Sie glaubten aber, er sollte über die Sache besser Bescheid wissen. Jeder sollte sich über das Risiko im klaren sein, das er eingeht, wenn er zuviel trinkt. Geben Sie ihm zu verstehen, daß Sie an seine Fähigkeiten glauben, aufzuhören oder weniger zu trinken. Sagen Sie ihm, daß Sie keine Miesmacherin sein wollen; Sie möchten nur, daß er auf seine Gesundheit achtet. So werden Sie vielleicht erreichen, ihn für das Thema Alkohol zu interessieren. Wahrscheinlich hat er einige Alkoholiker unter seinen Bekannten. Sie könnten vorschlagen, daß Sie sich beide um sie kümmern. Trinker helfen gern anderen Trinkern. Ihr Mann möchte vielleicht mit einem von ihnen sprechen. Wenn dieses Vorgehen bei Ihrem Mann kein Interesse weckt, ist es besser, die Sache ganz fallenzulassen. Wenn das Gespräch gut war, wird er das Thema später von sich aus aufgreifen. Das mag geduldiges Warten erfordern, aber die Sache ist es wert. In der Zwischenzeit können Sie versuchen, der Frau eines anderen starken Trinkers zu helfen. Wenn Sie nach diesen Prinzipien handeln, ist es möglich, daß Ihr Mann aufhört oder weniger trinkt. Angenommen, die Beschreibung Nummer zwei trifft auf Ihren Mann zu. Die gleichen Regeln wie bei Nummer eins sollten angewandt werden. Aber nach seinen nächsten Saufgelagen fragen Sie ihn, ob er wirklich den Wunsch hat, mit dem Trinken aufzuhören. Bitten Sie ihn nicht, er solle es für Sie oder irgend jemand anderen tun. Will er es denn wirklich? Wahrscheinlich will er. Zeigen Sie ihm dieses Buch und sagen Sie ihm, was Sie über Alkoholismus herausgefunden haben. Weisen Sie ihn darauf hin, daß die Verfasser dieses Buches als Alkoholiker etwas davon verstehen. Erzählen Sie ihm einige der interessanten Geschichten, die Sie gelesen haben. Wenn Sie das Gefühl haben, daß er vor einem seelischen Heilmittel zur Genesung noch zurück- schreckt, fordern Sie ihn auf, daß Kapitel über Alkoholismus zu lesen. Vielleicht wird ihn das dazu anregen weiterzumachen. Wenn er begeistert ist, hängt viel von Ihnen ab. Ist er unent schlossen oder glaubt er, kein Alkoholiker zu sein, schlagen wir vor, ihn in Ruhe zu lassen. Vermeiden Sie es, ihm das Programm aufzunötigen. Die Saat in ihm ist gelegt. Er weiß, daß Tausende von Männern wie er genesen sind. Aber sprechen Sie nicht darüber, wenn er getrunken hat, da mag er zornig sein. Früher oder später werden Sie vielleicht erleben, daß er das Buch noch einmal liest. Warten Sie, bis wiederholtes Stolpern ihn davon überzeugt, daß er etwas tun muß. Je mehr Sie ihn antreiben, desto länger mag seine Genesung verzögert werden. Wenn Sie einen Ehemann der dritten Kategorie haben, können Sie sich glücklich schätzen. Weil Sie sicher sind, daß er aufhören will, können Sie mit diesem Buch so freudig zu ihm gehen, als ob Sie das große Los gezogen hätten. Vielleicht wird er ihre Begeisterung nicht teilen, aber er wird sicherlich das Buch lesen und sofort das Programm angehen. Wenn nicht, werden Sie wahrscheinlich nicht lange warten müssen. Nochmals, Sie sollten ihn nicht drängen. Lassen Sie ihn selbst entscheiden. Sie können guten Mutes zusehen, wie er sich noch ein paar Mal betrinkt. Nur wenn er selbst davon anfängt, sollten Sie über seinen Zustand oder dieses Buch sprechen. Manchmal kann es besser sein, wenn ihm jemand, der nicht zur Familie gehört, das Buch gibt. Das kann ihn zum Handeln bringen, ohne das Feindselig keiten aufkommen. Wenn Ihr Ehemann sonst ein normaler Mensch ist, sind seine Chancen in diesem Stadium gut. Es wäre anzunehmen, daß Männer der vierten Kategorie absolut hoffnungslose Fälle sind. Dem ist aber nicht so. Viele Anonyme Alkoholiker waren so weit unten. Von allen waren sie aufgegeben worden. Der Untergang schien sicher. Und trotzdem sind auch solche Männer auf eine überzeugende und wunderbare Weise genesen. Es gibt Ausnahmen. Einige von ihnen waren durch den Alkohol so geschädigt, daß sie nicht aufhören konnten. Es gibt auch Fälle, in denen der Alkoholismus durch andere Krankheiten verschlimmert wird. Ein guter Arzt oder Psychiater kann Ihnen sagen, ob diese Komplikationen schwerwiegend sind. Auf jeden Fall sollten Sie versuchen, Ihren Mann zum Lesen dieses Buches zu bewegen. Es mag sein, daß er Interesse zeigt. Wenn er bereits in einer Anstalt ist, aber Sie und den Arzt davon überzeugen kann, daß er es ernst meint, geben Sie ihm eine Chance, unsere Methode auszuprobieren, es sei denn, der Arzt glaubt, daß seine geistige Verfassung zu anormal oder gefährlich sei. Wir geben diese Empfehlun g voller Zuversicht. Über Jahre haben wir uns um Alkoholiker in Anstalten gekümmert. Seit dieses Buch zum ersten Mal veröffentlicht worden ist, haben Anonyme Alkoholiker Tausende aus Asylen und Anstalten herausgeholt. Die meisten von ihnen sind nie dorthin zurückgekehrt. Die Kraft Gottes ist unendlich. Ihre Situation mag anders sein. Vielleicht haben Sie einen Ehemann, der noch frei herumläuft, obwohl er in eine Anstalt gehört. Manche wollen oder können nicht vom Alkoholismus wegkommen. Wenn Sie zu gefährlich werden, ist es für sie das Beste, sie unterbringen zu lassen. Hierbei sollte selbstverständlich immer ein guter Arzt die Entscheidung treffen. Die Frauen und Kinder eines solchen Mannes leiden schrecklich, aber nicht mehr als der Betroffene selbst. Manchmal aber sind Sie es, die ein neues Leben anfangen müssen. Wir kennen Frauen, die das getan haben. Wenn solche Frauen ihrem Leben eine seelisch-geistige Grundlage geben, wird der Weg einfacher. Wenn Ihr Ehemann trinkt, machen Sie sich wahrscheinlich Gedanken, was andere Leute darüber denken, und gehen Ihren Freunden aus dem Weg. Sie ziehen sich mehr und mehr in sich selbst zurück und glauben, jeder spreche über die Zustände bei Ihnen zu Hause. Sie meiden das Thema Alkohol sogar bei Ihren Eltern. Sie wissen nicht, was sie Ihren Kindern sagen sollen. Geht es Ihrem Mann gerade schlecht, dann werden Sie zur zitternden Einsiedlerin und wünschen, das Telefon wäre nie erfunden worden. Wir meinen, daß diese Schwierigkeiten unnötig sind. Es ist nicht nötig, daß Sie ausführlich über Ihren Mann sprechen, Sie können aber ruhig Ihre Freunde über die Art seiner Krankheit informieren. Achten Sie jedoch darauf, ihn nicht in Verlegenheit zu bringen oder ihm weh zu tun. Wenn Sie solchen Menschen vorsichtig erklärt haben, daß er krank ist, werden Sie eine bessere Atmosphäre schaffen. Schranken, die zwischen Ihnen und Ihren Freunden entstanden waren, werden ver schwinden, und wohlwollendes Verständnis wird entstehen. Sie werden nicht länger befangen sein oder das Gefühl haben, sich entschuldigen zu müssen, so als hätte Ihr Mann einen schwachen Charakter. Das Gegenteil ist der Fall. Ihr neuer Mut, Ihre Gutmü tigkeit und Unbefangenheit werden Wunder wirken in Ihren Beziehungen zur Umwelt. Die gleiche Verhaltensweise gilt für den Umgang mit Ihren Kindern. Falls sie nicht vor ihrem Vater geschützt werden müssen, ist es besser, keine Partei zu ergreifen in einem Streit, den er während des Trinkens mit ihnen hat. Benutzen Sie Ihre Kraft lieber, um ein besseres häusliches Klima zu schaffen. Dann wird sich die furchtbare Spannung mindern, die im Heim eines jeden Problemtrinkers herrscht. Häufig haben Sie sich verpflichtet gefühlt, dem Arbeitgeber Ihres Mannes und Freunden zu erzählen, daß er krank sei, wenn er in Wahrheit betrunken war. Vermeiden Sie die Beantwortung solcher Anfragen so oft Sie können. Wenn möglich, überlassen Sie diese Erklärungen Ihrem Mann. Ihr Wunsch, ihn zu schützen, sollte nicht so weit gehen, daß Sie Menschen belügen, die ein Recht darauf haben zu wissen, wo er ist und was er tut. Reden Sie mit ihm darüber, wenn er nüchtern und ansprechbar ist. Fragen Sie ihn, was Sie tun können, wenn er sie wieder in eine solche Lage bringt. Aber machen Sie ihm dabei keine Vorwürfe wegen früherer Vorkommnisse. Dann gibt es noch eine andere lähmende Angst. Vielleicht fürchten Sie, daß Ihr Mann seinen Arbeitsplatz verlieren könnte. Sie denken an die Schande und an die schweren Zeiten, die Ihnen und Ihren Kindern bevorstehen. Vielleicht müssen Sie diese Erfahrung machen, vielleicht haben Sie das auch schon einige Male hinter sich gebracht. Sollte es wieder geschehen, betrachten Sie es in einem anderen Licht. Vielleicht stellt es sich als Segen heraus. Es kann Ihren Ehemann zu der Überzeugung bringen, mit dem Trinken für immer aufhören zu wollen. Und Sie wissen nun, daß er aufhören kann, wenn er will. Hin und wieder war dieses vermeintliche Unglück eine Wohltat für uns, denn es öffnete uns die Augen für die Existenz Gottes. An anderer Stelle haben wir schon darauf hingewiesen, wieviel besser das Leben sich auf einer seelischen Ebene leben läßt. Wenn Gott das uralte Rätsel Alkoholismus lösen kann, kann Er auch Ihre Probleme lösen. Wir Frauen haben herausgefunden, daß wir wie jedermann nicht frei sind von Stolz, Selbstmitleid, Eitelkeit und allen diesen Dingen, die eine egozentrische Person ausmachen. Auch wir waren nicht erhaben über Selbstsucht und Unehrlichkeit. Als aber unsere Männer anfingen, ihr Leben nach seelischen Prinzipien auszurichten, regte sich in uns der Wunsch, es auch zu tun. Am Anfang glaubten einige von uns, daß wir diese Hilfe nicht nötig hätten. Wir dachten, im Grunde genommen wären wir recht gute Ehefrauen und würden noch besser, wenn unsere Partner mit dem Trinken aufhörten. Aber es war töricht zu meinen, wir wären so gut, daß wir Gott nicht brauchten. Nun versuchen wir, seelische Prinzipien in unserem täglichen Leben anzuwenden. Wenn wir das tun, merken wir, daß es auch unsere eigenen Probleme löst. Es ist eine wunderbare Sache, wenn Furcht, Kummer und verletzte Gefühle allmählich verschwinden. Wir raten Ihnen dringend, unser Programm auszuprobieren. Nichts hilft Ihrem Ehemann so sehr, wie Ihre total veränderte Einstellung ihm gegenüber, zu der Gott sie bringen wird. Gehen Sie diesen Weg mit Ihrem Mann gemeinsam, so gut Sie können. Wenn Sie und Ihr Mann eine Lösung für das drückende Trinkproblem finden, werden Sie beide sicher sehr froh sein. Aber nicht alle Schwierigkeiten lösen sich auf einmal. Die Saat beginnt in neuer Erde zu keimen. Damit hat das Wachstum gerade erst begonnen. Trotz des neugefundenen Glücks wird es Höhen und Tiefen geben. Viele der alten Schwierigkeiten werden immer noch da sein. Das ist auch ganz normal. Glaube und Aufrichtigkeit werden bei Ihnen beiden auf die Probe gestellt werden. Betrachten Sie diese Prüfungen als Teil Ihrer Erziehung, denn so werden Sie lernen zu leben. Sie werden Fehler machen, aber wenn Sie beide es ernst meinen, werden die Fehler Sie nicht in die Knie zwingen. Statt dessen werden Sie Nutzen daraus ziehen. Wenn Sie die Fehler ausgemerzt haben, wird Sie ein besseres Leben erwarten. Einige Hindernisse, die Ihnen im Weg stehen, sind Ärger, verletzte Gefühle und Groll. Ihr Ehemann wird manchmal unvernünftig sein, und Sie haben den Wunsch, ihn zu kritisieren. Aus einer kleinen Wolke am häuslichen Horizont braut sich schnell ein drohendes Gewitter zusammen. Solcher Familienkrach ist gefährlich, besonders für Ihren Mann. Oft müssen Sie es auf sich nehmen, das zu vermeiden oder unter Kontrolle zu halten. Vergessen Sie niemals, daß Groll eine tödliche Gefahr für Ihren Alkoholiker ist. Das soll nicht heißen, daß Sie Ihrem Mann immer recht geben müssen, wenn es eine echte Meinungsverschiedenheit gibt. Achten Sie nur darauf, nicht empfindlich oder kritisch zu reagieren, wenn Sie anderer Meinung sind. Sie und Ihr Mann werden feststellen, daß Sie beide ernsthafte Probleme besser lösen können als alltägliche. Wenn Sie wieder mal eine heiße Diskussion haben, egal worüber, sollten Sie wetteifern darin, wer als erster lächelt und sagt: "Jetzt wird es ernst. Es tut mir leid, daß ich mich so gehen ließ. Wir wollen später darüber sprechen." Wenn Ihr Mann versucht, sein Leben auf eine seelische Grundlage zu stellen, wird er alles tun, was in seiner Macht steht, um Meinungsverschiedenheiten oder Streit zu vermeiden. Ihr Mann weiß, daß er Ihnen mehr verdankt als seine Nüchternheit. Er will wiedergutmachen. Erwarten Sie jedoch nicht zuviel. Er denkt und handelt, wie er sich es in Jahren angewöhnt hat. Ihre Losungsworte müssen heißen: Geduld, Toleranz, Verständnis und Liebe. Leben Sie danach, und er wird es erwidern. Die Regel heißt: Leben und leben lassen. Wenn Sie beide die Bereitschaft zeigen, eigene Fehler zu korrigieren, wird es nicht nötig sein, einander zu kritisieren. Wir Frauen tragen in uns das Bild des idealen Mannes, das Muster eines Kerls, wie wir ihn gern als Ehemann hätten. Ganz klar, daß wir erwarten, er müsse jetzt, da er nicht mehr trinkt, unseren Traumvorstellungen entsprechen. Das trifft sicher nicht zu, denn genau wie Sie steht auch er am Anfang einer Entwicklung. Haben Sie Gelduld! Ein anderes Gefühl, dem wir oft nachhängen, ist der Groll darüber, daß nicht unsere Liebe und Treue unseren Partner vom Alkoholismus befreien konnten. Wir können den Gedanken nicht ertragen, daß der Inhalt eines Buches oder die Gespräche mit anderen Alkoholikern in wenigen Wochen das erreicht haben, wofür wir jahrelang gekämpft hatten. In solchen Augenblicken vergessen wir, daß Alkoholismus eine Krankheit ist, der wir machtlos gegenüber stehen mußten. Ihr Mann wird der erste sein, der es Ihrer Zuneigung und Sorge zuschreibt, daß er an dem Punkt angelangt ist, an dem er eine seelische Erfahrung machen konnte. Ohne Sie wäre er lange vorher zugrunde gegangen. Wenn widrige Gedanken aufkommen, halten Sie inne und machen Sie sich klar, wie gut es Ihnen geht: die Familie ist vereint, der Alkohol ist nicht mehr das Problem, Sie und Ihr Mann arbeiten auf eine nie erträumte Zukunft hin. Eine weitere Schwierigkeit mag sich dadurch ergeben, daß Sie eifersüchtig sind, weil er anderen Menschen, speziell Alkoholikern, seine Aufmerksamkeit schenkt. Sie hatten sich nach seiner Gesellschaft gesehnt. Jetzt verbringt er viele Stunden damit, anderen Alkoholikern und deren Familien zu helfen. Sie meinen, er sollte jetzt Ihnen gehören. Tatsache jedoch ist, daß er die Arbeit mit anderen braucht, um seine eigene Nüchternheit zu erhalten. Manchmal ist er so engagiert, daß er sie tatsächlich vernachlässigt. Ihr Haus ist voller Fremder. Einige gefallen Ihnen vielleicht nicht. Er befaßt sich mit deren Sorgen, mit den Ihren aber überhaupt nicht. Es nützt wenig, wenn Sie ihn darauf ansprechen und mehr Aufmerksamkeit für sich verlangen. Wir glauben, es ist ein großer Fehler, seine Begeisterung für die Arbeit mit Alkoholikern zu dämpfen. Sie sollten seine Anstrengungen so gut wie möglich unterstützen. Wir schlagen vor, daß Sie den Frauen seiner neuen Alkoholiker-Freunde ein wenig Aufmerksamkeit widmen. Diese Frauen brauchen den Rat und die Zuwendung einer Frau, die das gleiche durchgemacht hat. Es ist wahrscheinlich, daß Sie und Ihr Ehemann sehr zurückgezogen gelebt haben. Das Trinken isoliert oft auch die Frau eines Alkoholikers. Sie brauchen neue Interessen und einen neuen Lebensinhalt genauso wie Ihr Mann. Wenn Sie sein Engagement unterstützen, anstatt sich zu beklagen, werden Sie sehen, daß seine Euphorie langsam abklingt. In Ihnen beiden wird ein neues Verantwortungsgefühl für andere erwachen. Ihr Mann und Sie sollten mehr daran denken, was Sie in das Leben einbringen können, als daran, was Sie herausholen wollen. Wenn Sie so handeln, wird Ihr Leben von selbst reicher werden. Sie werden Ihr altes Leben verlieren, um ein besseres zu finden. Es ist möglich, daß Ihr Mann auf dieser neuen Grundlage einen guten Anfang macht. Gerade dann, wenn alles in Ordnung zu kommen scheint, enttäuscht er Sie, indem er betrunken nach Hause kommt. Wenn Sie davon überzeugt sind, daß er wirklich mit dem Trinken aufhören will, brauchen Sie sich nicht aufzuregen. Natürlich wäre es besser, wenn er überhaupt keinen Rückfall hätte, wie es bei vielen der Fall war. Dennoch kann der Rückfall auch sein Gutes haben. Ihr Mann wird sofort einsehen, daß er seine seelischen Aktivitäten verdoppeln muß, wenn er überleben will. Sie brauchen ihn nicht an sein seelisches Versagen zu erinnern, er wird es selbst wissen. Muntern Sie ihn auf und fragen Sie ihn, wie Sie ihm noch besser helfen können. Das geringste Anzeichen von Furcht oder Unverständnis Ihrerseits könnte die Genesungschancen Ihres Mannes mindern. In einem schwa chen Augenblick mag er Ihre Abneigung seinen hochgestochenen Freunden gegenüber als eine seiner lächerlichen Ausreden dafür benutzen, daß er wieder trinkt. Nie und nimmer dürfen wir versuchen, das Leben eines Mannes vor allen Anfechtungen abzuschirmen. Er wird es sofort merken, wenn Sie versuchen, seine Verabredungen oder Angelegneheiten so zu lenken, damit er nicht in Versuchung kommt. Geben Sie ihm das Gefühl, daß er kommen und gehen kann, wann und wie er will. Das ist wichtig. Wenn er sich betrinkt, geben Sie nicht sich die Schuld. Entweder hat Gott das Alkoholproblem von ihrem Mann genommen oder nicht. Falls nicht, ist es besser, wenn es sehr schnell zutage tritt. Sie und Ihr Mann können dann wieder auf den Kern der Sache kommen. Um erneuten Rückfall zu vermeiden, sollten Sie das Problem zusammen mit anderen Schwierigkeiten in Gottes Hand legen. Wir wissen, daß wir Ihnen viele Anregungen und Ratschläge gegeben haben. Es hat vielleicht manchmal schulmeisterlich geklungen. Wenn das so ist, tut es uns leid. Auch wir mögen Leute nicht, die uns dauernd belehren wollen. Aber was wir hier weitergegeben haben, gründet auf Erfahrungen, die teilweise sehr schmerzlich waren. Wir mußten diese Dinge auf die harte Tour lernen. Darum sind wir so darum bemüht, daß Sie uns verstehen, damit Sie sich diese unnötigen Schwierigkeiten ersparen. Ihnen allen, die Sie vielleicht bald zu uns gehören, rufen wir zu: "Viel Glück und Gott schütze Sie!" Dreizehn Jahre, nachdem dieses Kapitel geschrieben wurde, hat sich die Gemeinschaft der Al-Anon-Familiengruppen gebildet. Obwohl die Al-Anon-Familiengruppen selbständig sind, benutzen sie die allgemeinen Grundsätze, Prinzipien des AA-Programms als Richtlinie für Ehemänner, Ehefrauen, Verwandte, Freunde und alle, die Alkoholikern nahestehen. Dieses Kapitel richtet sich zwar nur an Ehefrauen, gleichwohl gilt das Gesagte für alle Angehörigen von Alkoholikern. Für Kinder aus Alkoholikerfamilien gibt es innerhalb der Al-Anon-Gemeinschaft die Alateen-Gruppen. Alle AA-Kontaktstellen im deutschsprachigen Raum geben Auskunft, wo Al-Anon-Familiengruppen zu erreichen sind. Auskunft ist auch über folgende Adresse erhältlich: Al-Anon-Familiengruppen Zentrales Dienstbüro Postfach 10 01 92 5000 KÖLN 1 Kapitel 9 Die Familie danach Unsere Frauen haben gewisse Vorschläge gemacht, wie sich eine Frau ihrem Mann gegenüber verhalten soll, der auf dem Weg der Genesung ist. Vielleicht haben sie dabei den Eindruck erweckt, daß man ihn in Watte packen und auf ein Podest stellen muß. Wenn der Mann wieder hergestellt werden soll, ist das Gegenteil notwendig. Alle Mitglieder der Familie sollten einander mit Toleranz, Verständnis und Liebe begegnen. Das macht gewisse Zugeständnisse notwendig. Der Alkoholiker, seine Frau, seine Kinder, seine Angehörigen, jeder hat wahrscheinlich eigene Vorstellungen über die Rollenverteilung innerhalb der Familie. Jeder ist daran interessiert, daß seine Wünsche respektiert werden. Je mehr Zugeständnisse ein Familienmitglied von den anderen fordert, um so empfindlicher reagieren diese. Das bringt Mißklang und Verdruß. Und warum? Ist es nicht deshalb, weil jeder die Führung übernehmen will? Ist es nicht deshalb, weil jeder versucht, das Familienleben so zu arrangieren, wie er es haben möchte? Versucht nicht jeder unbewußt, aus dem Familienleben mehr herauszuholen, als er bereit ist einzubringen? Mit dem Trinken aufzuhören, ist nur der erste Schritt aus einer düsteren, spannungsgeladenen Atmosphäre. Ein Arzt hat das einmal so ausgedrückt: "Jahreslanges Zusammenleben mit einem Alkoholiker macht mit ziemlicher Sicherheit jede Ehefrau und jedes Kind neurotisch. Die ganze Familie ist bis zu einem gewissen Grade krank." Beim Aufbruch in ein neues Leben muß der Familie klar sein, daß sie nicht nur schönes Wetter haben wird. Jeder wird sich mal Blasen laufen und hinterherhinken. Es gibt verführerische Abkürzungen und abwärts führende Seitenpfade, die sie vielleicht einschlagen und sich dabei verirren. Wir wollen einige der Hindernisse nennen, auf die die Familie stößt. Wir wollen auch Vorschläge machen, wie man diese Hindernisse überwinden und sogar zum Wohle anderer umwandeln kann. Die Angehörigen eines Alkoholikers sehnen sich danach, daß Glück und Sicherheit zurückkehren. Sie erinnern sich an die Zeit, als Vater noch liebenswert, rücksichtsvoll und erfolgreich war. Das heutige Leben wird an früheren Jahren gemessen, und wenn es schlechter ausfällt, könnte die Familie enttäuscht sein. Das Vertrauen der Familie in den Vater steigt schnell, Sie glaubt, daß die gute alte Zeit bald zurückkommt, und verlangt, daß der Vater sie sofort zurückbringt. Sie meint, daß Gott ihnen die Begleichung einer längst überfälligen Rechnung schuldet. Aber der Herr des Hauses hat Jahre damit verbracht, Geschäft, Liebe, Freundschaft und Gesundheit kaputtzumachen - das alles ist nun ruiniert oder beschädigt. Es wird einige Zeit dauern, um die Trümmer zu beseitigen. Wenn auch die alten Gebäude letztlich durch neue schönere ersetzt werden, so geht das nicht von heute auf morgen, es wird Jahre dauern. Vater weiß, daß er Vorwürfe verdient. Er wird Jahre harter Arbeit brauchen, um finanziell wieder auf die Beine zu kommen. Aber man sollte ihm deshalb keine Vorhaltungen machen. Vielleicht wird er nie mehr viel Geld haben. Aber die kluge Familie bewundert ihn mehr für das, was er zu sein versucht, als für das, was er erwerben will. Hin und wieder wird die Familie von der Vergangenheit eingeholt. Im Leben fast aller Alkoholiker gab es verrückte, demütigende, beschämende oder tragische Eskapaden. Die erste Reaktion wird sein, diese Leichen im Keller zu verstecken und die Tür zu verriegeln. Die Familie ist von der Idee besessen, daß künftiges Glück nur erreicht werden kann, indem man Vergangenes vergißt. Wir meinen, daß diese Einstellung selbstsüchtig und in direktem Widerspruch steht zu unserer neuen Einstellung zum Leben. Henry Ford hat einst die kluge Bemerkung gemacht, daß die Erfahrung einen kostbaren Wert im Leben darstellt. Das entspricht nur dann der Wahrheit, wenn man bereit ist, die Vergangenheit in ein Guthaben umzumünzen. Wir wachsen an unserer Bereitschaft, Fehler zu erkennen, zu berichtigen und aus ihnen Aktivposten zu machen. So wird die Vergangenheit des Alkoholikers zur wichtigsten Kapi talanlage für die Familie - oft bleibt es die einzige. Die schmerzliche Vergangenheit kann von unermeßlichem Wert sein für andere Familien, die immer noch mit ihren Problemen ringen. Wir sind der Meinung, daß jede Familie, die von der Last befreit worden ist, denen etwas schuldet, die noch nicht soweit sind. Und wenn es die Umstände erfordern, sollte jedes Familienmitglied bereit sein, frühere Fehler - auch sehr schmerzhafte - aus der Versenkung hervorzuholen. Noch Leidenden zu zeigen, wie uns geholfen wurde, ist doch gerade das, was das Leben jetzt für uns lebenswert macht. Halten wir an dem Gedanken fest, daß die dunkle Vergangenheit in Gottes Händen ein wertvollster Besitz ist. Sie ist für andere der Schlüssel zum Leben und zur Zufriedenheit. Damit können wir Tod und Elend von ihnen fernhalten. Man kann Fehler der Vergangenheit auch solange ans Tageslicht zerren, bis sie zu einer echten Qual werden. Da gibt es Fälle, in denen Alkoholiker oder ihre Frauen Liebesabenteuer hatten. In der ersten Begeisterung baten sie einander um Verzeihung und rückten enger zusammen. Das Wunder einer Versöhnung lag auf der Hand. Später, bei irgendeinem Streit grub der seinerzeit Betrogene die alte Affäre aus und wirbelte den alten Staub wieder auf. Einige von uns hatten solche Wachstumsschmerzen und haben damit viel Schaden angerichtet. Ehepartner waren manchmal gezwungen, sich eine Zeitlang zu trennen, bis sie die Sache in einem neuen Licht sahen und der verletzte Stolz besiegt war. In den meisten Fällen überlebte der Alkoholiker diese schwere Prüfung ohne Rückfall, aber nicht immer. Wir meinen deshalb, daß man über vergangene Begebenheiten nur dann miteinander sprechen sollte, wenn es einem guten und nützlichen Zweck dient. Wir in den Familien von Anonymen Alkoholkikern haben wenig Geheimnisse voreinander, wenig solcher Leichen im Keller. Jeder kennt die alkoholbedingten Schandtaten und Fehltritte des anderen. Das ist ein Umstand, der üblicherweise unsagbares Leid schaffen würde. Skandalöser Klatsch, Gelächter auf Kosten anderer und eine Neigung, Vorteile aus dem intimen Wissen über andere zu ziehen, könnte die Folge sein. Unter uns passiert das kaum. Wir sprechen häufig übereinander, aber meistens im Geiste von Liebe und Toleranz. Ein weiterer, von uns sorgfältig beachteter Grundsatz ist, daß wir vertrauliche Mitteilungen eines anderen nicht weitergeben, es sei denn, wir sind uns seiner Zustimmung sicher. Wir finden es besser, möglichst bei unseren eigenen Geschichten zu bleiben. Wer sich selbst kritisiert oder über sich selbst lacht, wirkt positiv auf andere. Kritik oder Spott von anderen bewirken oft das Gegenteil. Familienangehörige sollten sorgfältig auf solche Dinge achten. Eine unvorsichtige und unbedachte Bemerkung - und der Teufel ist wieder los. Wir Alkoholiker sind überempfindlich. Manche von uns brauchen lange, um über dieses schwierige Hindernis zu kommen. Viele Alkoholiker sind schnell zu begeistern. Sie fallen von einem Extrem ins andere. Am Anfang der Genesung schlagen sie gewöhnlich einen von zwei Wegen ein. Entweder stürzen sie sich kopfüber in ihren Beruf, um wieder auf die Füße zu kommen, oder sie sind von ihrem neuen Leben so gefesselt, daß sie kaum noch an etwas anderes denken und kaum noch von etwas anderem reden. Das gibt zwangsläufig Ärger im Familienleben. Wir können ein Lied davon singen. Wir meinen, es ist gefährlich, wenn er sich Hals über Kopf in die Lösung seiner wirtschaftlichen Probleme stürzt. Davon wird auch die Familie berührt: zuerst angenehm, weil sie merkt, daß sich die finanziellen Schwierigkeiten langsam lösen; dann weniger angenehm, weil sie sich vernachlässigt fühlt. Vater ist tagsüber ganz in Anspruch genommen und abends müde. Er zeigt wenig Interesse an den Kindern und reagiert ärgerlich, wenn man ihm deshalb Vorwürfe macht. Wenn er nicht gerade gereizt ist, wirkt er träge und langweilig und überhaupt nicht fröhlich und liebevoll, wie ihn die Familie haben möchte. Seine Frau bemängelt seine Unaufmerksamkeit, und alle sind enttäuscht und lassen es ihn spüren. Durch solche Vorhaltungen wird eine Barriere gebaut. Dabei macht er doch jede Anstrengung, um die verlorene Zeit einzuholen. Er versucht verzweifelt, Wohlstand und Ruf wiederherzustellen, und tut damit seiner Meinung nach sein Bestes. Mutter und Kinder denken da oft ganz anders. Vernachlässigt und schlecht behandelt in der Vergangenheit, meinen sie, daß der Vater ihnen mehr schuldet, als sie bekommen. Sie möchten, daß er mehr Aufhebens um sie macht. Sie erwarten von ihm, daß er ihnen das Leben bietet, das sie hatten, bevor er soviel getrunken hat. Er soll auch Reue zeigen für das, was er ihnen angetan hat. Aber von Vater kommt nichts. Die Verstimmung wächst. Er wird immer unzugänglicher. Oft geht er wegen Kleinigkeiten in die Luft. Der Familie ist das ein Rätsel. Sie tadelt ihn, weil er ihrer Ansicht nach sein seelisches Programm vernachlässigt. Das alles kann vermieden werden. Beide Seiten, der Vater und die übrige Familie, haben ein bißchen Unrecht und ein bißchen Recht. Streit führt zu nichts und macht die Sache nur noch schlimmer. Die Familie muß sich darüber klar sein, daß der Vater zwar erstaunliche Fortschritte macht, aber immer noch auf dem Weg der Genesung ist. Die Angehörigen sollten dankbar sein, daß er nüchtern ist und wieder in diese Welt paßt. Sie sollten seine Fortschritte anerkennen. Sie sollten nie vergessen, daß durch sein Trinken vielerlei Schaden entstanden ist, der nicht so schnell behoben werden kann. Wenn sie dafür ein Gespür entwickeln, werden sie auch seine zeitweilige Verschrobenheit, seine Niedergeschlagenheit oder seine Gleichgültigkeit nicht so ernst nehmen. Toleranz, Liebe und seelischer Gleichklang helfen darüber hinweg. Das Familienoberhaupt sollte sich daran erinnern, daß hauptsächlich er dafür verantwortlich zu machen ist, was seinem Heim widerfahren ist. Er kann dieses Konto vielleicht in seinem ganzen Leben nicht mehr ausgleichen. Er muß die Gefahr erkennen, die darin liegt, daß er sich zu sehr auf die finanziellen Erfolge konzentriert. Obwohl viele von uns sich im Laufe der Zeit wirtschaftlich erholen, mußten wir erkennen, daß Geld nicht an erster Stelle stehen darf. Für uns war materieller Wohlstand immer die Folge von Fortschritten im seelisch-geistigen Bereich, nie umgekehrt. Weil das Familienleben mehr als alles andere gelitten hat, ist es angezeigt, daß der Vater sich da besonders bemüht. Er kommt in keiner Richtung weiter, wenn er nicht dafür sorgt, daß unter seinem Dach wieder Selbstlosigkeit und Liebe einkehren. Wir wissen, daß es schwierige Ehefrauen und Angehörige gibt. Der Mann, der seinen Alkoholismus überwinden will, sollte daran denken, wieviel er dazu beigetragen hat, daß sie so geworden sind. Wenn jedes Mitglied einer Familie, in der noch solche Spannungen bestehen, eigene Fehler einsieht und sie anderen gegenüber zugibt, ist die Grundlage für eine hilfreiche Aussprache gegeben. Diese Familiengespräche werden dann konstruktiv sein, wenn sie ohne hitzige Argumente, ohne Selbstmitleid, Selbstgerechtigkeit oder gereizte Kritik geführt werden. Nach und nach werden Mutter und Kinder einsehen, daß sie zuviel verlangen, und Vater wird erkennen, daß er zuwenig gibt. Geben statt nehmen, heißt das oberste Gebot. Nehmen wir mal an, daß der Vater am Tiefpunkt eine aufrüttelnde seelische Erfahrung gemacht hat. Über Nacht ist er ein anderer Mensch geworden. Er wurde ein religiöser Schwärmer. Nichts anderes interessiert ihn mehr. Sobald es eine Selbstverständlichkeit geworden ist, daß er nicht mehr trinkt, wird die Familie zuerst mit Besorgnis, später mit Entrüstung auf ihren seltsamen, neuen Vater schauen. Morgens, mittags und abends dreht sich das Gespräch nur noch um seelische Dinge. Vielleicht verlangt er sogar, daß auch die Familie Gott im Schnellverfahren findet. Oder er zeigt der Familie gegenüber eine erstaunliche Gleichgültigkeit und meint, er sei erhaben über alle weltlichen Dinge. Auch mag es sein, daß er seiner Frau, die ihr Leben lang gläubig war, vorwirft, sie hätte keine Ahnung davon, worum es geht. Sie sollte sich, solange es noch Zeit ist, seinen neuen seelischen Erkenntnissen anschließen. Wenn der Vater diesen Weg einschlägt, kann es sein, daß die Familie sauer reagiert. Vielleicht ist sie eifersüchtig auf einen Gott, der ihnen die Zuneigung des Vaters gestohlen hat. Obwohl die Angehörigen dankbar sind, daß er nicht mehr trinkt, gefällt ihnen der Gedanke nicht, daß Gott das Wunder vollbracht hat und nicht sie. Oft vergessen sie, daß menschliche Hilfe den Vater nicht mehr erreichen konnte. Sie können nicht begreifen, warum ihre Liebe und Zuneigung ihm nicht helfen konnte. Sie finden, Vater ist gar nicht so fromm, wie er tut. Wenn er die Fehler der Vergangenheit wirklich gutmachen will, warum kümmert er sich um jeden in der Welt, nur nicht um seine Familie? Was soll sein Gerede, daß Gott sich ihrer annehmen werde? Sie vermuten: "Vater ist etwas bekloppt." So durcheinander, wie sie glauben, ist er gar nicht. Viele von uns haben den gleichen Höhenflug mitgemacht. Wir haben in seelischer Trunkenheit, im Trockenrausch, geschwelgt. Uns ging es wie einem ausgehungerten Goldgräber, der nach seinem letzten Bissen Brot den Gürtel noch enger geschnallt hatte, und der nun auf eine Goldader gestoßen ist. Die Freude darüber, daß lebenslanger Mißerfolg nun ein Ende hatte, kannte keine Grenzen. Vater ist überzeugt davon, daß er noch etwas viel Besseres als Gold gefunden hat. Eine Zeitlang mag er versuchen, den Schatz ganz für sich zu behalten. Vielleicht sieht er nicht gleich ein, daß er erst die Oberfläche einer unendlichen Goldader angekratzt hat. Sie bringt ihm erst Ertrag, wenn er sein Leben lang weitergräbt und alles, was er findet, weiterschenkt. Wenn die Familie mitzieht, wird der Vater bald merken, daß seine Wertvorstellungen verzerrt sind. Er wird einsehen, daß sein inneres Wachsen nur in eine Richtung treibt. Für einen Durchschnitts menschen wie er ist ein seelisch orientiertes Leben, daß nicht auch die Verpflichtungen gegenüber seiner Familie einschließt, gar nicht so vollkommen. Wenn die Familie erkennt, daß das derzeitige Benehmen des Vaters nur eine Entwicklungsphase ist, wird alles gut werden. Getragen von einer verständnisvollen Familie, wird Vater schnell aus den Kinderschuhen seiner seelischen Entwicklung herauswachsen. Sollte die Familie ihn jedoch verurteilen und kritisieren, könnte das Gegenteil eintreten. Vater könnte das Gefühl haben, durch sein Trinken jahrelang bei jeder Meinungsverschiedenheit den kürzeren gezogen zu haben. Jetzt aber - so denkt er - sei er mit Gott an seiner Seite der Überlegene. Falls die Familie weiter kritisiert, könnte sich dieser Trugschluß des Vaters noch mehr verhärten. Anstatt die Familie zu behandeln wie er sollte, zieht er sich weiter in sich zurück. Er meint, es sei moralisch gerechtfertigt, so zu handeln. Obwohl die Familie mit Vaters geistig-seelischen Betätigungen nicht ganz einverstanden sein mag, sollte sie ihm ruhig seinen Kopf lassen. Selbst wenn er seine Familie bis zu einem gewissen Grad vernachlässigt und ihr gegenüber teilweise verantwortungslos handelt, sollte man ihn trotzdem anderen Alkoholikern helfen lassen, soviel er mag. In der ersten Zeit seiner Genesung festigt das mehr als alles andere seine Nüchternheit. Obwohl einige seiner Äußerungen beunruhigend und unangenehm sind, glauben wir doch, daß Vater auf einem festeren Fundament steht als der Mann, der Geschäft und beruflichen Erfolg vor seine seelische Entwicklung stellt. Er wird wohl kaum wieder mit dem Trinken anfangen, und alles, was er macht, ist besser als ein Rückfall. Diejenigen von uns, die viel Zeit in einer spirituellen Scheinwelt verbracht haben, merkten schließlich, daß das kindisch war. Diese Traumwelt ist durch Sinn für das Reale ersetzt worden, begleitet von einem wachsenden Bewußtsein um die Macht Gottes in unserem Leben. Wir kamen zu dem Glauben, Er möchte es, daß wir unsere Köpfe über den Wolken bei Ihm haben, daß aber unsere Füße fest auf der Erde stehen sollen. Dort stehen unsere Weggefährten, und dort muß auch unsere Arbeit getan werden. Für uns sind das die Realitäten. Für uns besteht kein Widerspruch zwischen einer machtvollen, seelischen Erfahrung und einem Leben in gesunder und glücklicher Nützlichkeit. Ein weiterer Vorschlag: Ob die Angehörigen geistig-seelische Überzeugungen haben oder nicht, sie tun gut daran, sich die Grundsätze genauer anzusehen, nach denen der Alkoholiker zu leben versucht. Die Angehörigen werden wahrscheinlich diesen einfachen Grundsätzen zustimmen, auch wenn das Familienoberhaupt sich noch etwas schwer tut, sie zu praktizieren. Nichts wird dem Mann, der von dem seelischen Weg abgekommen ist, so viel helfen, wie seine Frau, die ein geistiges und seelisches Programm annimmt und einen besseren, praktischen Gebrauch davon macht. Es wird weitere, tiefgreifende Änderungen in der Familie geben. Der Alkohol hat Vater für viele Jahre so untüchtig gemacht, daß Mutter das Oberhaupt im Haus wurde. Tapfer übernahm sie diese Verpflichtungen. Die Umstände zwangen sie oft, Vater wie ein krankes und widerspenstiges Kind zu behandeln. Selbst wenn er mal sein Recht behaupten wollte, so gelang ihm das nicht, seine Trin kerei setzte ihn ständig ins Unrecht. Mutter plante alles und gab die Anweisungen. Wenn er nüchtern war, gehorchte der Vater für gewöhnlich. So gewöhnte sich Mutter ohne eigenes Zutun daran, daß sie in der Familie die Hosen anhatte. Doch Vater, nun zu neuem Leben erwacht, fängt plötzlich an, sich selbst zu behaupten. Das bringt Ärger, der vermieden werden kann, wenn in der Familie jeder jedem seinen Freiraum läßt. Das Trinken isoliert die meisten Familien von der Außenwelt. Der Vater hat alle Interessen verloren - Vereine, Bürgerpflichten, Sport. Wenn er nun wieder an solchen Dingen teilnimmt, mag ein Gefühl der Eifersucht aufkommen. Die Familie glaubt, ein Vorrecht an ihrem Vater zu haben, so daß für Außenstehende nichts übrig bleibt. Mutter und Kinder verlangen, daß er zu Hause bleibt, um Versäumtes gutzumachen. Besser wäre es, die Angehörigen suchten sich neue und eigene Aktivitäten. Ganz am Anfang soll sich das Ehepaar klar werden, daß jeder hier und da nachgeben muß, wenn die Familie am gesellschaftlichen Leben teilnehmen will. Vater wird notwendigerweise viel Zeit mit anderen Alkoholikern verbringen, aber diese Aktivität sollte nicht übertrieben werden. Man wird neue Bekanntschaften mit Menschen machen, die nichts über Alkoholismus wissen. Deren Bedürfnissen sollte man Rechnung tragen. Die Belange der Gemeinde können Aufmerksamkeit verlangen. Obwohl die Familie bisher keine religiösen Bindungen hatte, kann der Wunsch wach werden, solche Kontakte zu suchen oder Mitglied einer Glaubensgemeinschaft zu werden. Gerade den Alkoholikern, die früher religiöse Menschen verspottet haben, wird durch solche Kontakte geholfen. Weil der Alkoholiker selbst eine seelische Erfahrung gemacht hat, wird er mit diesen Leuten viel gemeinsam haben, wenn er auch in manchen Dingen anderer Meinung ist. Wenn er über religiöse Fragen nicht streitet, schafft er sich neue Freunde und findet mit Sicherheit einen neuen Weg zu Freude und nützlichem Leben. Er und seine Familie können eine Bereicherung in einer Kirchengemeinde sein. Vielleicht bringt der Alkoholiker manchem Priester, Pfarrer oder Rabbi - diesen Männern, die so sehr dem Wohl unserer gepeinigten Welt dienen - neuen Mut und neue Hoffnung. Das hier Gesagte ist nur als hilfreicher Vorschlag gemeint, wir als AA-Gemeinschaft sehen darin aber keinerlei Verpflichtung. Als an keine Konfession gebundene Leute können wir für andere keine Entschlüsse fassen. Jeder sollte sein eigenes Gewissen befragen. Wir haben bis jetzt zu Ihnen über ernste, manchmal tragische Dinge gesprochen. Wir haben Alkohol in seiner schlimmsten Form abgehandelt. Aber wir sind kein trauriger Verein. Wenn Neue nicht den Spaß und die Freude in unserem Dasein sähen, wollten sie diese Lebensform nicht. Wir bestehen darauf, uns des Lebens zu freuen. Wir versuchen, uns nicht über den Zustand der Welt zynisch auszulassen, und wir tragen auch nicht die Sorgen dieser Welt auf unseren Schultern. Wenn wir einen Menschen im Sumpf des Alkoholismus versinken sehen, leisten wir ihm erste Hilfe und stellen ihm das zur Verfügung, was wir haben. Um seinetwillen erzählen und erleben wir in Erinnerung nochmals die Schrecken unserer Vergangenheit. Diejenigen jedoch, die versuchten, die ganze Last und die Sorgen anderer auf ihren Schultern zu tragen, wurden bald von dieser Last erdrückt. Wir glauben, daß Lachen und Fröhlichsein nützlich sind. Außenste hende sind manchmal schockiert, wenn wir in fröhliches Gelächter ausbrechen über eine tragische Erfahrung aus unserer Vergangenheit. Aber warum sollten wir nicht lachen? Wir sind genesen, und uns wurde die Kraft gegeben, anderen zu helfen. Jeder weiß es, daß kranke Menschen und solche, die nicht unbe schwert sein können, selten lachen. So laßt jede Familie für sich oder mit Nachbarn unbeschwert sein, so oft und soviel sie können. Wir sind sicher, daß Gott uns glücklich, froh und frei haben möchte. Wir können uns nicht dem Glauben verschreiben, daß dieses Leben ein Jammertal ist, obwohl es genau das für viele von uns einmal war. Unser Elend war hausgemacht. Gott hat es nicht verur sacht. Vermeiden Sie also, Trübsal zu blasen. Wenn Schwierigkeiten kommen, ziehen Sie freudig Nutzen daraus als Gelegenheit, Seine Allmacht darzutun. Nun zur Gesundheit: Ein Körper, der durch Alkohol schwer mitgenommen ist, erholt sich nicht über Nacht, genausowenig wie verdrehtes Denken und Niedergeschlagenheit sofort verschwinden. Wir sind überzeugt, daß ein Leben aus der Seele heraus eine ungeheure Kraft zur Wiederherstellung der Gesundheit ist. Wir, von schwerem Trinken genesen, sind Wunder geistiger Gesundheit. Wir haben bemerkenswerte Veränderungen in unserem Körper festgestellt. Kaum einer aus unserer Gemeinschaft trägt jetzt noch Zeichen des früheren ausschweifenden Lebens. Aber das bedeutet nicht, daß wir die Gesundheit vernachlässigen, Gott hat diese Welt reichlich versorgt mit guten Ärzten, Psychologen und Therapeuten verschiedenster Art. Zögern Sie deshalb nicht, diese Fachleute aufzusuchen, wenn Sie gesundheitliche Probleme haben. Die meisten dieser Fachleute helfen gern, damit sich ihre Mitmenschen eines gesunden Geistes und eines gesunden Körpers erfreuen können. Denken Sie daran, daß Gott zwar Wunder an uns vollbracht hat, daß wir aber nie das Können eines guten Arztes oder Psychiaters unterschätzen sollten. Oft sind deren Dienste zur Behandlung eines Neuen und zur späteren Beobachtung seines Falles unentbehrlich. Einer der vielen Ärzte, der dieses Buch im Manuskript gelesen hat, gab uns den Tip, daß Süßigkeiten für uns Alkoholiker oft hilfreich sind, wobei in jedem Einzelfall ärztlicher Rat befolgt werden muß. Der erwähnte Arzt war der Meinung, Alkoholiker sollten immer Schokolade zur Hand haben als schnellen Energiespender in Zeiten der Ermüdung. Gegen ein manchmal nachts aufkommendes unbestimmtes Trinkverlangen hilft schon ein Bonbon. Nach dem Aufhören haben viele von uns gemerkt, daß sie Süßigkeiten mögen und daß diese ihnen guttaten. Ein Wort zu den sexuellen Beziehungen. Der Alkohol war für manche Männer so anregend, daß sie die Sexualität übertrieben haben. Ehepaare können es gelegentlich kaum fassen, daß der Mann, nachdem er mit dem Trinken aufgehört hat, zur Impotenz neigt. Wenn die Ursache dafür nicht verstanden wird, kann es zu einer Störung im Gefühlsleben kommen. Einige von uns mußten diese Erfahrung machen. Sie konnten aber nach einigen Monaten eine viel feinere und innigere Beziehung erleben als früher. Sollten jedoch die sexuellen Störungen nicht verschwinden, ist es ratsam, einen Arzt oder Psychologen aufzusuchen. Normalerweise halten diese Schwierigkeiten nicht lange an. Für den Alkoholiker kann es schwer sein, wieder harmonische Beziehungen zu seinen Kindern herzustellen. Sein Trinken hat in ihren jungen Gemütern tiefe Spuren hinterlassen. Ohne es auszusprechen, hassen sie ihn aus ganzem Herzen für das, was er ihnen und ihrer Mutter angetan hat. Kinder werden oft von einem erschütternd harten und grausamen Denken beherrscht. Sie scheinen nicht vergeben und vergessen zu können. Das mag noch Monate andauern, nachdem ihre Mutter den Vater in seinem neuen Leben und Denken längst angenommen hat. Irgendwann werden die Kinder erkennen, daß er ein neuer Mensch ist, sie werden es ihn auf ihre Art spüren lassen. Wenn es soweit ist, kann man sie anregen, an der morgendlichen Meditation teil zuhaben. Ohne Groll und Voreingenommenheit nehmen sie jetzt auch am täglichen Gespräch über das Programm teil. Von diesem Punkt an wird es schnell aufwärtsgehen. Solches Sichwiederfinden bringt oft wunderbare Früchte. Ob die Angehörigen ein seelisches Programm akzeptieren oder nicht - der Alkoholiker muß es, wenn er genesen will. Die anderen müssen von seiner neuen Einstellung überzeugt sein, ohne den geringsten Schatten eines Zweifels. Zu sehen, wie der Alkoholiker nüchtern bleibt, sollte für seine Familie heißen, an seinen Weg zu glauben. Dazu ein Beispiel: Einer unserer Freunde ist ein starker Raucher und Kaffeetrinker. Ohne Zweifel, er übertreibt. Seine Frau macht ihm deshalb Vorhaltungen in der Absicht, ihm zu helfen. Er gab zu, daß er übertrieb, sagte aber ganz offen, er sei nicht bereit, damit aufzuhören. Nun gehörte seine Frau zu den Leuten, die diese Genußmittel für eine Sünde halten. Also nörgelte sie. Ihre Klein lichkeit brachte ihn zu einem Wutanfall. Er betrank sich. Natürlich war unser Freund im Unrecht - es hätte seinen Tod bedeuten können. Er mußte das unter Schmerzen zugeben und seine seelische Einstellung korrigieren. Heute ist er ein eifriges Mitglied der Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker. Er raucht immer noch und trinkt immer noch Kaffee. Aber weder seine Frau noch andere erlauben sich ein Urteil darüber. Seine Frau sieht ein, daß es falsch von ihr war, aus dieser Bagatelle eine solche Affäre zu machen, wo er doch gerade eine viel schwerere Sache überwunden hatte. Wir haben drei Slogans, die hier passen: Das Wichtigste zuerst Leben und leben lassen Eile mit Weile Kapitel 10 An die Arbeitgeber Unter den vielen Arbeitgebern, die heutzutage zu unserer Gemein schaft gehören, denken wir besonders an einen, der einen Großteil seines Berufslebens in der Industrie verbracht hat. Er hat Hunderte von Mitarbeitern eingestellt und entlassen. Er kennt den Alkoholiker aus der Sicht des Arbeitgebers. Seine gegenwärtige Einstellung könnte für alle Geschäftsleute außerordentlich nützlich sein. Aber er soll selbst berichten: "Ich war stellvertretender Direktor eines Unternehmens, das 6600 Leute beschäftigte. Eines Tages kam meine Sekretärin und sagte, Herr B. bestehe darauf, mich zu sprechen. Ich ließ ihm mitteilen, daß ich nicht daran interessiert sei. Wieder einmal hatte ich ihn gewarnt, daß ich ihm nur noch eine Chance geben würde. Kurz darauf hatte er mich an zwei aufeinanderfolgenden Tagen aus Hatford angerufen, wobei er so betrunken war, daß er kaum sprechen konnte. Ich sagte ihm, nun sei es aus - ein für allemal. Meine Sekretärin kam zurück, um zu sagen, daß nicht Herr B. am Telefon sei, sondern dessen Bruder. Er müsse mir etwas mitteilen. Ich erwartete eine Bitte um Nachsicht. Aber es kamen folgende Worte durch den Hörer: Ich wollte Ihnen nur sagen, daß Paul am letzten Samstag in Hartford aus einem Hotelfenster gesprungen ist. Er hinterließ uns einen Brief, in dem steht, Sie seien der beste Vorgesetzte gewesen, den er je hatte. Ihnen sei in keiner Weise ein Vorwurf zu machen. Ein anderes Mal, als ich einen Brief öffnete, der auf meinem Schreibtisch lag, fiel ein Zeitungsabschnitt heraus. Es war die Todesanzeige von einem der besten Verkäufer, die ich je hatte. Nach zwei Wochen harten Trinkens hatte er seine Zehe an den Abzug eines geladenen Gewehrs gebracht - der Lauf war in seinem Mund. Sechs Wochen vorher hatte ich ihn wegen Trinkens entlassen. Noch eine andere Erfahrung: Die Stimme einer Frau kam schwach als Ferngespräch aus Virginia. Sie wollte wissen, ob ihr Mann noch durch die Firma versichert sei. Vier Tage vorher hatte er sich in seinem Holzschuppen erhängt. Ich hatte ihn wegen seines Trinkens entlassen müssen, obwohl er hochbegabt, anpassungsfähig und einer der besten Organisatoren war, die ich kannte. So sind drei tüchtige Männer aus dieser Welt gegangen, nur weil ich über den Alkoholismus nicht so Bescheid wußte wie heute. Ironie des Schicksals: Ich wurde selbst zum Alkoholiker. Wenn nicht ein verständnisvoller Mensch eingegriffen hätte, wäre ich ihren Weg gegangen. Mein Abstieg kostete das Unternehmen etliche tausend Dollar. Es kostet nämlich viel Geld, jemanden für eine gehobene Position nachzuziehen. Solche unnötigen Ausgaben sind gang und gäbe. Im Geschäftsleben trifft man an allen Ecken und Enden auf das Alkoholproblem, dem abgeholfen werden könnte durch mehr Wissen. Fast jeder aufgeschlossene Arbeitgeber fühlt eine moralische Verantwortung für das Wohlbefinden seiner Mitarbeiter und versucht, dieser Verantwortung gerecht zu werden. Daß er sich dem Alkoholiker gegenüber nicht immer so verhalten hat, ist leicht zu verstehen. Für ihn war der Alkoholiker oft ein Narr ersten Ranges. Wegen besonderer Fähigkeiten oder aufgrund einer persönlichen Sympathie hat der Arbeitgeber ihn manchmal länger behalten, als es vernünftig war. Manche Arbeitgeber haben jedes Mittel versucht. Nur in ganz wenigen Fällen hat es an Geduld und Toleranz gefehlt. Und wir, die wir die besten Arbeitgeber hintergangen haben, können uns kaum darüber beklagen, wenn schließlich doch noch kurzer Prozeß mit uns gemacht wurde. Hier ist ein typisches Beispiel: Ein Direktor einer der großen Banken von Amerika weiß, daß ich nicht mehr trinke. Eines Tages erzählte er mir von einem anderen Direktor dieser Bank, der nach der Beschreibung zweifellos Alkoholiker war. Das schien mir eine Möglichkeit, mich nützlich zu machen. So verbrachte ich zwei Stunden damit, meinen Bekannten, diesen leitenden Bankbeamten, über Alkoholismus als Krankheit aufzuklären. Ich beschrieb ihm die Symptome und Folgen, so gut ich konnte. Sein Kommentar war: "Sehr interessant. Aber ich bin sicher, daß dieser Mann aufgehört hat zu trinken. Er ist gerade zurück von einem dreimonatigen Urlaub, hat eine Kur gemacht und sieht gut aus. Um der Sache Nachdruck zu verleihen, hat ihm der Vorstand erklärt, das sei seine letzte Chance." Aus meiner Erfahrung heraus konnte ich da nur antworten, daß es mit dem Mann noch viel schlimmer kommen würde, wenn die Sache den üblichen Gang nehme.Ich fühlte, daß das unvermeidlich war, und machte mir Gedanken, ob die Bank mit dieser Drohung das Richtige tat. Wäre es nicht besser, den Mann mit einigen Alkoholikern aus unserer Gemeinschaft zusammenzubringen? Er könnte eine Chance haben. Ich machte darauf aufmerksam, daß ich seit drei Jahren keinen Tropfen mehr getrunken hatte, und das trotz Schwierigkeiten, die neun von zehn Leuten dazu gebracht hätten, sich um den Verstand zu saufen. Warum sollte man ihm nicht wenigstens eine Gelegenheit geben, meine Geschichte anzuhören? "O nein", sagte mein Freund: "Dieser Bursche ist entweder fertig mit dem Alkohol, oder er verliert seinen Job. Wenn er soviel Willenskraft und Mut hat wie du, dann schafft er es!" Am liebsten hätte ich verzweifelt aufgegeben, als ich sah, daß ich mich meinem Freund von der Bank nicht verständlich machen konnte. Er konnte einfach nicht begreifen, daß sein Kollege an einer schweren Krankheit litt. Da war nichts zu tun, als abzuwarten. Kurz darauf hatte der alkoholkranke Bankdirektor einen Rückfall und wurde rausgeworfen. Nach seiner Entlassung nahmen wir Kontakt mit ihm auf. Ohne viel Aufhebens akzeptierte er die Grundsätze und die Verhaltensweise, die uns geholfen hatten. Zweifellos ist er auf dem Weg der Genesung. Mir zeigt dieser Vorfall den Mangel an Verständnis für das, was einem Alkoholiker wirklich fehlt, und den Mangel an Wissen über die Rolle, die der Arbeitgeber zu seinem eigenen Vorteil gegenüber kranken Arbeitnehmern einnehmen sollte. Wenn Sie als Arbeitgeber helfen möchten, lassen Sie mal Ihr eigenes Trinken oder Nichttrinken aus dem Spiel. Ob Sie ein starker oder maßvoller Trinker oder ein Abstinenzler sind, so haben Sie doch festgefahrene Meinungen, vielleicht sogar Vorurteile. Wer mäßig trinkt, ärgert sich über einen Alkoholiker vielleicht mehr als jemand, der gar nichts trinkt. Wenn Sie nur gelegentlich trinken, kennen Sie Ihre Reaktionen. Es ist möglich, daß Sie in vielen Dingen ganz sicher werden; für den Alkoholiker aber ist das nicht immer so. Als jemand, der mit Alkohol umgehen kann, können Sie trinken oder es sein lassen. Sie sind in der Lage, Ihr Trinken immer zu kontrollieren. Wenn Sie sich mal abends einen leichten Schwips angetrunken haben, stehen Sie frühmorgens auf, schütteln Ihren Kopf und gehen Ihrer Arbeit nach. Für Sie ist der Alkohol kein Problem. Deshalb können Sie nicht verstehen, warum es für jemand anderen ein Problem sein kann, es sei denn, dieser andere ist dumm und haltlos! Im Umgang mit einem Alkoholiker mag in Ihnen ein ganz natürlicher Ärger aufkommen, daß ein Mensch so schwach, dumm und verantwort ungslos sein kann. Sogar dann, wenn Sie die Krankheit besser verstehen, ist das möglich. Ein Blick auf den Alkoholiker in Ihrem Betrieb ist manchmal recht aufschlußreich. Ist er nicht meistens scharfsinnig, schnelldenkend, einfallsreich und liebenswert? Arbeitet er nicht hart und hat ein Auge dafür, was erledigt werden muß, wenn er nüchtern ist? Wäre er mit all diesen Vorzügen nicht wert, gehalten zu werden, wenn er nicht trinken würde? Sollte bei ihm nicht derselbe Maßstab angelegt werden wie bei anderen kranken Angestellten? Ist er es wert, gerettet zu werden? Wenn Sie diese Fragen aus humanitären oder geschäftlichen Gründen bejahen, können die folgenden Vorschläge hilfreich sein. Können Sie das Gefühl beiseiteschieben, das Alkoholismus nur etwas mit schlechter Gewohnheit, Halsstarrigkeit oder Willensschwäche zu tun hat? Wenn Ihnen das Schwierigkeiten macht, kann es sich lohnen, die Kapitel zwei und drei, in denen die Alkoholkrankheit ausführlich behandelt wird, nochmals zu lesen. Sie als Geschäftsmann wissen, daß man vor Vertragsabschluß die Bedingungen kennen muß. Wenn Sie zugestehen, daß Ihr Angestellter krank ist, kann ihm dann seine Vergangenheit vergeben werden? Kann man seine Dummheiten vergessen? Kann man ihm zugute halten, daß er das Opfer einer verworrenen Denkweise war, die direkt durch die abnorme Wirkung des Alkohols auf sein Gehirn entstand? Nie werde ich den Schock vergessen, den ich bekam, als mir ein prominenter Arzt in Chicago von Fällen erzählte, bei denen der Druck der Rückenmarkflüssigkeit das Hirn zerstörte. Kein Wunder, daß ein Alkoholiker so seltsam vernünftig ist. Wer würde es nicht sein, mit so einem zerstörten Hirn? Normale Trinker leiden darunter nicht und können deshalb die Verwirrung des Alkoholikers nicht verstehen. Ihr Mitarbeiter hat vermutlich versucht, eine Menge von Ausrut schern - wahrscheinlich ziemlich schlimme - zu verbergen. Solche Anlässe können Ihren Widerwillen erregen. Wahrscheinlich können Sie sich nicht vergegenwärtigen, wie ein sonst überdurchschnittlicher Mann in so etwas hineingerät. Sie müssen diese Entgleisungen, so schrecklich sie auch sind, der Wirkung zuschreiben, die der Alkohol bei einem Alkoholiker auslöst. Bei und nach einem Trinkgelage vollbringt ein Alkoholiker, auch wenn er in nüchternem Zustand ein Beispiel an Ehrlichkeit ist, unglaubliche Dinge. Danach ist seine Gefühlslage schrecklich. Fast immer sind solche Verrücktheiten nichts mehr als ein vorübergehender Zustand. Das soll nicht bedeuten, daß alle Alkoholiker ehrlich und aufrichtig sind, wenn sie nicht trinken. Natürlich stimmt das nicht. Sie als Arbeitgeber werden oft von solchen Leuten ausgenutzt. Manche Alkoholiker werden Vorteile aus Ihrer Freundlichkeit ziehen, wenn Sie als Arbeitgeber Verständnis und Hilfsbereitschaft erkennen lassen. Wenn Sie davon überzeugt sind, daß Ihr Mann nicht mit dem Trinken aufhören will, sollte er entlassen werden, je früher desto besser. Sie tun ihm keinen Gefallen, wenn Sie ihn behalten. Der Rausschmiß mag für einen solchen Mann zum Segen werden. Die Entlassung kann der Anstoß sein, den er braucht. Ich weiß, daß in meinem speziellen Fall nichts, was meine Firma hätte tun können, mich vom Trinken abgehalten hätte. Solange ich meinen Arbeitsplatz halten konnte, sah ich absolut nicht den Ernst meiner Lage. Hätten sie mich erst rausgeschmissen und dann Schritte unternommen, um mir die Lösung aufzuzeigen, wie sie in diesem Buch geschildert wird, dann hätte es sein können, daß ich nach sechs Monaten als gesunder Mann zu ihnen zurückgekehrt wäre. Es gibt viele, die aufhören wollen, und mit denen kommen sie weiter. Ihr verständnisvoller Umgang mit ihnen zahlt sich aus. Vielleicht kennen Sie einen solchen Mann. Er will mit dem Trinken aufhören, und Sie wollen ihm dabei helfen, selbst wenn es nur aus Geschäftsinteresse ist. Sie wissen jetzt mehr über Alkoholismus. Sie können erkennen, daß er geistig und körperlich krank ist. Sie sind bereit, seine letzten Auftritte zu übersehen. Vielleicht könnte man so an die Sache herangehen: Sagen Sie ihm, daß Sie über sein Trinken Bescheid wissen und daß das aufhören muß. Sie können ihm sagen, daß Sie seine Fähigkeiten schätzen und ihn gern behalten wollten, aber nicht, wenn er wei tertrinkt. Eine entschiedene Haltung in diesem Punkt hat vielen von uns geholfen. Als nächstes können Sie ihm versichern, daß Sie nicht beabsichti gen, Moral zu predigen oder ihn zu verdammen. Sollte das früher geschehen sein, dann nur aufgrund eines Mißverständnisses. Wenn irgendwie möglich, lassen Sie ihn erkennen, daß Sie es gut mit ihm meinen. An diesem Punkt ist es an der Zeit, die Krankheit Alkoholismus zu erklären. Sagen Sie ihm, daß er Ihrer Ansicht nach ein schwer kranker - vielleicht todkranker - Mann ist. Fragen Sie ihn, ob er unter diesen Umständen nicht wieder gesund werden will. Sie müssen fragen, weil viele Alkoholiker, verdreht und vergiftet wie sie sind, gar nicht aufhören wollen. Will er es denn? Will er jeden notwendigen Schritt unternehmen, alles daransetzen, um wieder gesund zu werden und für immer mit dem Trinken aufzuhören? Falls er ja sagt, meint er es wirklich ehrlich oder denkt er im stillen, daß er Sie täuschen kann, daß er nach einer Pause und einer Behandlung dann und wann wieder etwas Alkohol trinken kann? Wir glauben, daß der Betroffene hier sorgfältig unter die Lupe genommen werden sollte. Versichern Sie sich, daß er weder sich selbst noch Sie täuscht. Ob Sie dieses Buch erwähnen, ist Ihnen überlassen. Wenn er sich nicht festlegt und immer noch meint, daß er irgendwann wieder trinken kann, und sei es Bier, dann können Sie ihn nach seinem nächsten Besäufnis rauswerfen. Wenn er ein Alkoholiker ist, wird das fast mit Sicherheit wieder geschehen. Mit Nachdruck muß ihm das verständlich gemacht werden. Entweder haben Sie es mit einem Menschen zu tun, der gesund werden will und kann, oder nicht. Wenn nicht, wozu dann Zeit mit ihm verschwenden? Das mag hart klingen, aber es ist üblicherweise der beste Weg. Nachdem Sie sich davon überzeugt haben, daß Ihr Mann gesund werden will und daß er alles tun wird, um das zu erreichen, können Sie ihm eine feste Vorgehensweise vorschlagen. Für die meisten trinkenden Alkoholiker und für solche, die gerade eine Trinkphase hinter sich haben, ist in gewissem Umfang eine körperliche Behandlung erwünscht, ja sogar geboten. Die Angelegenheit der körperlichen Behandlung sollten Sie natürlich Ihrem Arzt überlassen. Wie auch immer die Behandlungsmethode ist, es geht darum, Körper und Geist von den Folgen des Alkoholismus zu befreien. In kundigen Händen dauert das selten lange, noch ist es sehr teuer. Ihr Mann hat größere Chancen, wenn er in eine körperliche Verfassung versetzt wird, in der er richtig denken kann und in der er nicht mehr nach Alkohol giert. Wenn Sie ihm eine solche Behandlung vorschlagen, kann es wichtig sein, daß Sie ihm die Kosten dafür vorlegen. Sie sollten ihm aber klarmachen, daß alle vorgelegten Ausgaben später von seinem Lohn einbehalten werden. Es ist besser für ihn, wenn er sich voll verantwortlich fühlt. Wenn Ihr Mitarbeiter das Angebot annimmt, sollte darauf hingewiesen werden, daß die körperliche Behandlung nur ein kleiner Teil des Ganzen ist. Obwohl Sie ihm die bestmögliche medizinische Betreuung zukommen lassen, muß er wissen, daß er eine innere Wandlung durchzumachen hat. Um über das Trinken hinwegzukommen, ist eine Änderung des Denkens und der Einstellung notwendig. Wir alle mußten die Genesung über alles stellen, denn ohne sie hätten wir beides verloren, Familie und Beruf. Haben Sie volles Vertrauen in seine Fähigkeiten, gesund zu werden? Da wir beim Vertrauen sind: Können Sie sich darauf einstellen, daß diese Angelegenheit von Ihrer Seite aus streng vertraulich behandelt wird, daß seine alkoholbedingten Verfehlungen und seine anstehende Behandlung nie ohne seine Einwilligung erwähnt werden? Nach seiner Rückkehr ist es wohl angebracht, ein eigehendes Gespräch mit ihm zu führen. Kommen wir auf das Hauptthema dieses Buches zurück. Hier werden gezielte Vorschläge gemacht, wie der Arbeitnehmer sein Problem lösen kann. Für Sie als Arbeitgeber sind einige der hier vorgetragenen Gedanken sicher ungewöhnlich. Vielleicht sind Sie mit dem, was wir vorschlagen, nicht ganz einverstanden. Was wir anzubieten haben, ist nicht der Weisheit letzter Schluß, aber bei uns hat es funktioniert. Sicher kommt es Ihnen mehr auf das Resultat an als auf die Methode. Ob Ihr Mitarbeiter es mag oder nicht, er muß die bittere Wahrheit über Alkoholismus erleben. Das wird ihm nicht schaden, auch wenn er davon nicht begeistert ist. Wir schlagen vor, daß Sie den Arzt Ihres Patienten auf dieses Buch aufmerksam machen. Wenn der Patient fähig ist, dieses Buch zu lesen, obwohl er noch am Boden zerstört ist, kann er sich seiner Lage bewußt werden. Wie immer auch der Zustand des Patienten sein mag, so hoffen wir doch, daß der Arzt ihm die Wahrheit sagt. Wenn dem Patienten dieses Buch ausgehändigt wird, dann sagt am besten niemand zu ihm, er müsse sich an unsere Vorschläge halten. Er muß selbst entscheiden. Sie möchten natürlich darauf wetten, daß Ihre veränderte Haltung und der Inhalt dieses Buches das Problem aus der Welt schaffen. In manchen Fällen ist das so, in anderen wieder nicht. Wenn Sie am Ball bleiben, wird in der Mehrzahl der Fälle Ihr Bemühen von Erfolg gekrönt sein. In dem Maße, in dem unsere AA-Gemeinschaft wächst, vergrößert sich die Chance, daß betroffene Arbeitnehmer in Kontakt mit uns treten können. Wir sind davon überzeugt, daß bis dahin durch dieses Buch schon eine ganze Menge erreicht werden kann. Wenn Ihr Angestellter aus einer Behandlung zurückkommt, dann reden Sie mit ihm. Fragen Sie ihn, ob er glaubt, eine Lösung gefunden zu haben. Wenn er bereit ist, sein Problem mit Ihnen zu besprechen, wenn er weiß, daß Sie Verständnis haben und durch nichts, was er Ihnen erzählen möchte, aus der Fassung zu bringen sind, dann hat er einen guten Start. Übrigens: Können Sie wirklich ruhig bleiben, wenn der Mann anfängt, schockierende Dinge zu erzählen? Er könnte Ihnen beispielsweise gestehen, daß er seine Spesenabrechnung frisiert hat oder das er plante, Ihnen Ihren besten Kunden abspenstig zu machen? Tatsächlich kann er so auspacken, wenn er unseren Weg zur Genesung akzeptiert hat, der - wie Sie wissen - strikte Ehrlichkeit erfordert. Können Sie das wie ein schlechtes Geschäft abschreiben und neu mit ihm beginnen? Sollte er Ihnen Geld schulden, dann ist es ratsam, mit ihm Vereinbarungen zu treffen. Wenn er über seine familiäre Situation spricht, können Sie zwei fellos hilfreiche Vorschläge machen. Darf er sich mit Ihnen offen aussprechen, solange er nicht Geschäftsklatsch verbreitet oder seine Mitarbeiter kritisiert? Ein Angestellter mit diesen Charak tereigenschaften verdient Ihre uneingeschränkte Loyalität. Die größten Feinde von uns Alkoholikern sind Groll, Eifersucht, Neid, Enttäuschung und Angst. Wo immer Menschen im Geschäftsleben zusammenkommen, ergeben sich Rivalitäten, und aus diesen erwachsen Intrigen. Oft haben wir Alkoholiker den Eindruck, als wollte man uns fertigmachen. Meistens ist das nicht der Fall. Aber hin und wieder wird unser früheres Trinken in diese Intrigen eingeflochten. Da war zum Beispiel ein boshafter Kollege, der immer dumme, kleine Witze über die Heldentaten aus der Saufzeit eines Alkoholikers machte. Und so sorgte er dafür, daß die alten Geschichten im Umlauf blieben. In einem anderen Fall wurde ein Alkoholiker zur Behandlung ins Krankenhaus geschickt. Am Anfang wußten das nur wenige. Nach kurzer Zeit war es so bekannt, als ob es am Schwarzen Brett gestanden hätte. Natürlich verringert so etwas die Genesungschancen des Betroffenen. In vielen Fällen kann der Arbeitgeber das Opfer vor solchem Klatsch schützen. Er sollte zwar niemand bevorzugen, er kann jedoch einen Mitarbeiter gegen schädliche Provokation und unfaire Kritik verteidigen. Im großen und ganzen sind Alkoholiker tatkräftige Leute. Aktiv wie bei der Arbeit sind sie auch in der Freizeit. Ihr Angestellter wird wohl alles daran setzen, um wiedergutzumachen. Noch etwas geschwächt steht er vor der körperlichen und geistigen Wiederherstellung eines Lebens, das keinen Alkohol kennt, und übertreibt vielleicht alles ein bißchen. Es kann sein, daß Sie seinen Wunsch bremsen müssen, sechzehn Stunden am Tag zu arbeiten. Sie müssen ihn ermutigen, hin und wieder auch zu entspannen. Er wird den Wunsch haben, viel für andere Alkoholiker zu tun, und das auch während der Arbeitszeit. Eine gewisse Nachsicht ist angebracht. Diese Tätigkeit braucht er, um seine Nüchternheit zu erhalten. Nachdem der Angestellte einige Monate ohne Trinken hinter sich gebracht hat, können Sie vielleicht seine Hilfsbereitschaft gegenüber anderen Angestellten, die ein Alkoholproblem haben, einsetzen. Voraussetzung ist natürlich, daß die Betroffenen damit einverstanden sind. Ein genesener Alkoholiker in einer ziemlich untergeordneten Stellung kann ohne weiteres mit einem Mann in einer höheren Position sprechen. Da er jetzt eine völlig andere Einstellung zum Leben hat, wird er nie versuchen, aus einem solchen Gespräch Vorteile zu ziehen. Sie können Ihrem Angestellten vertrauen. Dennoch werden Sie auf grund langjähriger Erfahrung mit typischen Alkoholiker Entschuldigungen mißtrauisch sein. Beim nächsten Anruf seiner Frau, die ihn krank meldet, kommt Ihnen schlagartig der Gedanke, er könne betrunken sein. Wenn das stimmt und er immer noch versucht, nüchtern zu werden, wird er es Ihnen erzählen, selbst wenn es ihn seine Stellung kostet. Er weiß, daß er ehrlich sein muß, wenn er überleben will. Er wird es zu schätzen wissen, wenn Sie sich nicht den Kopf über ihn zerbrechen. Er rechnet es Ihnen hoch an, wenn Sie weder mißtrauisch sind, noch versuchen, sein Leben so zu lenken, daß er gegen die Versuchung zu Trinken abgeschirmt ist. Wenn er gewissenhaft unserem Programm der Genesung folgt, kann er überall hingehen, wo es für Ihr Geschäft erforderlich ist. Wenn er rückfällig wird, sei es auch nur ein einziges Mal, müssen Sie entscheiden, ob Sie ihn entlassen. Wenn Sie sicher sind, daß er es nicht ernst meint mit dem Aufhören, sollten Sie sich von ihm trennen, ohne lange zu zaudern. Wenn Sie andererseits davon überzeugt sind, daß er sein Bestes tut, möchten Sie ihm sicher noch einmal eine Chance geben. Aber Sie sollten sich nicht verpflichtet fühlen, ihn zu behalten, denn Sie haben schon genug für ihn getan. Da ist noch etwas, was Sie vielleicht tun möchten. Wenn Sie Chef einer großen Firma sind, wünschen Sie, daß Ihre jüngeren leitenden Angestellten dieses Buch in die Hand bekommen. Die Abteilungsleiter sollten wissen, daß Sie nichts gegen Alkoholiker in Ihrem Unternehmen haben. Jüngere Führungskräfte sind oft in einer schwierigen Lage. Ihre Untergebenen sind häufig ihre Freunde. Aus verschiedenen Gründen werden die Abteilungsleiter ihre Leute decken, in der Hoffnung, daß sich alles wieder zum Guten wendet. Der Führungsnachwuchs gefährdet oft die eigene Position, indem er versucht, schweren Trinkern zu helfen, denen man entweder die Entlassung oder eine Möglichkeit zur Genesung hätte geben sollen. Nach der Lektüre dieses Buches kann ein junger Vorgesetzter etwa mit folgenden Worten auf einen Mann zugehen: "Hör mal gut zu, Eddy. Willst du aufhören zu trinken oder nicht? Jedesmal, wenn du betrunken bist, bringst du mich in eine mißliche Lage. Das ist weder mir noch der Firma gegenüber fair. Ich habe etwas über Alkoholismus erfahren. Wenn du ein Alkoholiker bist, dann bist du ein schwerkranker Mann. So benimmst du dich auch. Die Firma will dir da raushelfen, und wenn du willst, gibt es einen Weg. Wenn du ihn einschlägst, werden wir deine Vergangenheit vergessen. Die Tatsache, daß du zu einer Behandlung fort bist, wird nicht erwähnt werden. Wenn du aber mit dem Trinken nicht aufhören kannst oder willst, solltest du kündigen. Ihre junge Führungskraft mag mit dem Inhalt dieses Buches nicht einverstanden sein. Er soll und braucht es den Alkoholiker nicht merken zu lassen. Zumindest weiß er jetzt um das Problem. Er läßt sich nicht mehr mit den üblichen Versprechungen an der Nase herumführen. Er wird in der Lage sein, diesem Mann gegenüber eine korrekte und ehrliche Haltung einzunehmen. Er wird keinen weiteren Grund mehr haben, einen alkoholkranken Mitarbeiter zu decken. Der langen Rede kurzer Sinn: Keiner sollte entlassen werden, nur weil er Alkoholiker ist. Wenn er aufhören möchte, sollte man ihm eine echte Chance geben. Wenn er nicht aufhören kann oder will, sollte er entlassen werden. Davon sollte man selten abweichen. Wir glauben, daß mit dieser Methode viel zu erreichen ist. Sie erlaubt die Wiedereingliederung guter Leute. Gleichzeitig werden die Bedenken zerstreut, sich von solchen Leuten zu trennen, die nicht aufhören können oder wollen. Alkoholismus kann durch den Ausfall von Arbeitszeit, den Verlust von Menschen und durch die Minderung von Ansehen Ihrem Unternehmen beträchtlich Schaden zufügen. Wir hoffen, unsere Vorschläge dienen dazu, daß solche Schäden weitgehend vermieden werden. Es erscheint uns sinnvoll, wenn wir Sie als Arbeitgeber drängen, einerseits die sinnlosen Bemühungen einzustellen und andererseits dem, der es wert ist, eine Chance zu geben. Vor einiger Zeit sprachen wir den Vizepräsidenten eines großen Industriekonzerns an. Er antwortete: "Es freut mich, daß Ihr Euer Trinkproblem im Griff habt. Aber es ist unsere Firmenpolitik, sich nicht in das Privatleben der Angestellten einzumischen. Wenn jemand so viel trinkt, daß seine Arbeit darunter leidet, entlassen wir ihn. Ich kann mir nicht vorstellen, wie Ihr uns helfen könnt. Wie Ihr seht, haben wir kein Alkoholproblem." - Dieses Unternehmen gibt jedes Jahr Millionen für Forschungszwecke aus. Die Produktionskosten werden bis zur letzten Stelle hinterm Komma ausgewiesen. Es gibt Erholungseinrichtungen und eine Firmenversicherung. Aus menschlichen und geschäftlichen Gründen besteht ein echtes Interesse am Wohlergehen der Angestellten. Aber Alkoholismus, so glaubt man, den gibt es dort nicht. Wahrscheinlich ist diese Einstellung typisch. Bei uns ist eine Menge Erfahrung auch über das Geschäftsleben, zumindest aus der Sicht des Alkoholikers, zusammengekommen. Darum mußten wir über die offen geäußerte Meinung dieses Herrn lächeln. Er wäre schockiert, wenn er wüßte, wieviel der Alkoholismus sein Unternehmen im Jahr kostet. Unter den Beschäftigten dieser Firma verbergen sich wahrscheinlich viele Alkoholiker und Alkoholgefährdete. Die Leiter großer Unternehmen haben oft wenig Ahnung, wie weitverbreitet dieses Problem ist. Wenn Sie meinen, daß es in Ihrem Unternehmen kein Alkoholproblem gibt, kann es sich auszahlen, dieser Sache nochmals auf den Grund zu gehen. Dabei werden Sie einige interessante Entdeckungen machen. Selbstverständlich ist in diesem Kapitel von Alkoholikern die Rede, von kranken und gestörten Menschen. Unser Freund, der Vizepräsident, dachte bei seiner Aussage an Gewohnheitstrinker oder fröhliche Zecher. Was diese betrifft, so ist seine Einstellung zweifellos richtig. Aber er unterschied nicht zwischen solchen Leuten und Alkoholikern. Es kann nicht erwartet werden, daß man einem alkoholkranken Ange stellten unverhältnismäßig viel Zeit und Aufmerksamkeit widmet. Er sollte keine Sonderstellung einnehmen. Derjenige Alkoholiker, der gesund wird, will das auch nicht. Er will sich nicht aufdrängen. Im Gegenteil. So einer arbeitet wie ein Wilder und dankt es bis an sein Lebensende. Heute gehört mir eine kleine Firma. Ich beschäftige zwei Alkoholiker, die soviel umsetzen wie fünf Verkäufer. Warum auch nicht? Sie haben eine neue Einstellung gewonnen; denn sie sind vor einem trostlosen Leben gerettet worden. Ich freue mich über jeden Augenblick, den ich darauf verwandt habe, ihr Leben wieder in Ordnung zu bringen. Kapitel 11 Ein Ausweg für Sie Für die meisten Leute bedeutet Trinken Geselligkeit, Kameradschaft und lebhaft angeregte Phantasie. Es bedeutet Befreiung von Sorgen, Langeweile und Kummer. Es ist das fröhliche Zusammensein mit Freunden und gibt das Gefühl, das Leben sei gut. Bei uns war das in der Schlußphase unseres schweren Trinkens nicht mehr so. Es machte keinen Spaß mehr. Nur Erinnerungen blieben. Nie gelang es uns, die schönen Stunden der Vergangenheit zu wiederholen. In uns war eine einzige große Sehnsucht, das Leben so wie früher zu genießen. Um das zu erreichen, klammerten wir uns wie besessen daran, durch ein Wunder diese Fähigkeit zum kontrollierten Trinken wieder zu erlangen. Es gab immer wieder einen neuen Versuch - und einen neuen Fehlschlag. Je weniger die Leute uns mochten, um so mehr zogen wir uns von der Gesellschaft, vom Leben selbst zurück. Wir wurden Untertanen des Königs Alkohol, zitternde Einwohner seines verrückten Reiches. Der kalte Nebel der Einsamkeit senkte sich über uns. Er wurde immer dicker und schwärzer. Einige von uns suchten in finsteren Kneipen Verständnis, Kameradschaft und Bestätigung. Für Augenblicke fanden wir, was wir suchten. Dann holte uns die Einsamkeit ein. Was folgte, war das furchtbare Erwachen angesichts der vier apokalyptischen Reiter: Schrecken, Verwirrung, Enttäuschung, Verzweiflung. Unglückliche Trinker, die das lesen, werden es verstehen. Ein richtiger Trinker sagt hin und wieder, wenn er mal trocken ist: "Ich vermisse den Alkohol überhaupt nicht. Ich fühle mich wohler und arbeite besser. Das Leben macht mir Spaß." Als nüchterne Alkoholiker lächeln wir über einen derartigen Gedanken. Wir wissen, daß sich unser Freund so verhält, wie der Junge, der im Dunkeln pfeift, um sich Mut zu machen. Unser Freund betrügt sich selbst. In seinem Inneren würde er alles dafür geben, wenn er ohne nachteilige Folgen ein halbes Dutzend Schnäpse trinken könnte. Er wird bald das gleiche Spielchen wieder versuchen, denn sein Nichttrinken macht ihn nicht glücklich. Ein Leben ohne Alkohol kann er sich nicht vorstellen. Eines Tages wird er sich das Leben überhaupt nicht mehr vorstellen können - weder mit noch ohne Alkohol. Dann wird er die Einsamkeit so kennenlernen, wie nur wenige sie kennen. Er wird bereit sein zum Sprung in den Abgrund. Er wird das Ende herbeiwünschen. Wir haben beschrieben, wie wir da herausgekommen sind. Sie sagen: "Ja, ich bin bereit. Aber werde ich damit nicht zu einem Leben verurteilt, in dem ich stumpfsinnig, langweilig und mürrisch sein muß wie einige Tugendbolde, die ich kenne? Ich weiß, daß ich ohne Alkohol auskommen muß, aber wie kann ich das? Habt Ihr einen vollwertigen Ersatz dafür?" Ja, dafür gibt es Ersatz, und es ist weit mehr als das. Es ist die Kameradschaft unter den Anonymen Alkoholikern. Dort werden Sie Befreiung von Sorgen, Langeweile und Kummer erfahren. Ihre Phantasie wird angefeuert. Ihr Leben bekommt endlich einen Sinn. Die schönsten Jahre liegen noch vor Ihnen. So erleben wir diese Gemeinschaft, und Ihnen wird es genauso ergehen. "Wie stelle ich das an?", fragen Sie: "Wo kann ich diese Leute finden?" Sie werden diese neuen Freunde in Ihrer eigenen Umgebung finden. Nicht weit von Ihnen sind Alkoholiker hilflos zum Sterben verurteilt wie Menschen auf einem sinkenden Schiff. Wenn Sie in einem größeren Ort leben, sind es Hunderte. Groß und klein, arm und reich, das sind zukünftige Mitglieder der Anonymen Alkoholiker. Unter ihnen werden Sie Freunde fürs Leben finden. Neue und wunderbare Beziehungen werden Sie mit ihnen verbinden. Gemeinsam werden Sie dem Unheil entkommen, und Schulter an Schulter brechen Sie auf zu der gemeinsamen Reise. Dann werden Sie erfahren, was es heißt, etwas von sich selbst zu geben, so daß andere überleben und das Leben neu entdecken können. Dann werden Sie die volle Bedeutung des Wortes erkennen können: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst." Es erscheint unglaublich, daß diese Menschen je wieder glücklich, geachtet und nützlich werden. Wie können sie aus solchem Elend, Schande und Hoffnungslosigkeit herausfinden? Die Antwort heißt: So wie diese Dinge uns geschahen, können Sie auch mit Ihnen geschehen. Wenn dieser Wunsch für Sie an erster Stelle steht und wenn Sie sich unsere Erfahrung zu eigen machen wollen, sind wir sicher, daß es eintrifft. Auch heute geschehen noch Wunder. Unsere eigene Genesung ist Beweis dafür. Wir hoffen, daß dieses bescheidene Buch in einer Flut von Alkoho lismus für viele verzweifelte Trinker zu einem Rettungsring wird, wenn sie unsere Ratschläge befolgen. Wir sind sicher, daß viele wieder auf die Beine kommen und gehen können. Sie werden sich dann denen zuwenden, die noch krank sind. Gruppen von Anonymen Alkoholikern können in Stadt und Land entstehen, als Zufluchtsort für diejenigen, die einen Weg herausfinden müssen. Im Kapitel "Die Arbeit mit anderen" haben Sie in etwa erfahren, wie wir auf andere zugehen und ihnen zur Genesung verhelfen. Nehmen wir mal an, daß durch Sie verschiedene Familien diese neue Lebensweise übernommen haben. Jetzt wollen Sie wissen, wie Sie weitermachen sollen. Ein kleiner Blick in Ihre Zukunft wird Ihnen ermöglicht, wenn wir etwas über das Wachsen der Gemeinschaft erzählen. Hier ist ein kurzer Überblick: Im Jahr 1935 machte einer von uns eine Reise in eine Stadt im Westen. Geschäftlich gesehen war die Reise für ihn ein Mißerfolg. Wäre dieses Unternehmen erfolgreich gewesen, wäre er finanziell wieder auf die Beine gekommen, was ihm damals lebenswichtig er schien. Es endete in einem Rechtsstreit und führte zu nichts. Das Verfahren wurde mit großer Härte und Schärfe ausgefochten. Bitter enttäuscht, in Mißkredit gebracht und fast pleite, fand er sich an einem fremden Ort wieder. Körperlich noch schwach, weil er erst seit ein paar Monaten nüchtern war, sah er, daß diese mißliche Lage gefährlich für ihn war. Er wollte mit jemand sprechen, aber mit wem? An einem trüben Nachmittag ging er in der Hotelhalle auf und ab und machte sich Gedanken, wie er seine Rechnung bezahlen könnte. An einem Ende der Halle war unter Glas das Verzeichnis der örtlichen Kirchen. Am anderen Ende war eine Tür zu einer einladenden Bar. Er konnte drinnen die fröhlichen Leute sehen. Dort würde er Gesellschaft und Entspannung finden. Wenn er nicht auch etwas trinken würde, hätte er keinen Mut, eine Bekanntschaft zu knüpfen, und würde ein einsames Wochenende erleben. Selbstverständlich konnte er keinen Alkohol trinken: Aber warum sollte er nicht erwartungsvoll an einem Tisch sitzen bei einer Flasche Ginger Ale? War er denn schließlich nicht schon sechs Monate trocken? Vielleicht aber könnte er auch - sagen wir mal - drei Gläser vertragen, aber nicht mehr! Furcht packte ihn. Er bewegte sich auf dünnem Eis. Wieder war es der alte, trügerische Irrsinn - dieses erste Glas. Schaudernd wandte er sich ab und ging durch die Halle zu dem Kirchenverzeichnis. Musik und fröhlicher Lärm drangen immer noch aus der Bar zu ihm herüber. Aber was war mit seiner Verantwortung gegenüber seiner Familie und gegenüber den Menschen, die sterben würden, weil sie nicht wußten, wie sie gesund werden sollten, was war mit den vielen anderen Alkoholikern? Es mußte viele in dieser Stadt geben. Er würde einen Geistlichen anrufen. Er konnte wieder klar denken und dankte Gott. Nachdem er aus dem Verzeichnis aufs Geratewohl eine Kirche ausgesucht hatte, ging er in eine Telefonzelle und nahm den Hörer ab. Das Telefongespräch mit dem Geistlichen brachte ihn schließlich mit einem Bürger dieser Stadt zusammen, einem früher fähigen und geachteten Mann, der sich dem Tiefpunkt der Verzweiflung eines Alkoholikers näherte. Es war das übliche: Die Familie zerrüttet, die Frau krank, die Kinder vernachlässigt, die Rechnungen unbezahlt und das Ansehen dahin. Der Mann hatte den verzweifelten Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören. Er sah aber keinen Weg, obwohl er schon viele ernsthafte Versuche unternommen hatte, dem Verhängnis zu entrinnen. Es war dem Mann schmerzlich bewußt, daß er irgendwie abnormal war; er war sich aber nicht voll darüber im klaren, was es heißt, Alkoholiker zu sein.* * Hier wird von Bills erstem Besuch bei Dr. Bob berichtet. Die beiden Männer sind die Gründer der AA-Gemeinschaft. Bills Ge schichte steht am Anfang dieses Buches. Dr. Bobs Lebensgeschichte folgt im nächsten Kapitel. Unser Freund berichtete von seinen Erfahrungen. Sein Gespräch spartner stimmte ihm zu, daß auch er trotz großer Willensanstren gung nicht mit dem Trinken aufhören konnte. Eine seelische Erfah rung, so räumte er ein, könnte die Not wenden. Aber das, was ihm als Lösung vorgeschlagen wurde, schien ihm unerreichbar. Er er zählte, wie er in ständiger Angst vor denen lebte, die etwas über seinen Alkoholismus in Erfahrung bringen könnten. Natürlich hatte er die fixe Idee aller Alkoholiker, daß sein Trinken nur wenigen aufgefallen wäre. Warum, so argumentierte er, sollte er den Rest seiner Existenz aufs Spiel setzen und noch mehr Leid über seine Familie bringen? Diese Gefahr sah er, wenn er seinen schlimmen Zustand leichtsinnigerweise den Leuten eingestand, denen er seinen Lebensunterhalt verdankte. Alles würde er tun, sagte er, nur das nicht. Neugierig geworden, lud er unseren Freund zu sich nach Hause ein. Einige Zeit später, gerade als er glaubte, seine Sucht unter Kontrolle zu haben, ging er wieder auf eine schlimme Sauftour. Für ihn war es das Besäufnis, das allen Besäufnissen ein Ende setzen sollte. Er sah ein, daß er sich seinem Problem ehrlich stellen mußte, um mit Gottes Hilfe die Herrschaft darüber zu gewinnen. Eines Morgens packte er den Stier bei den Hörnern und erzählte denen, die er fürchtete, welcher Art seine Schwierigkeiten waren. Er kam überraschend gut an und erfuhr, daß viele über sein Trinken Bescheid wußten. Er machte mit dem Auto die Runde und besuchte Menschen, denen er Schaden zugefügt hatte. Er war nervös, denn es konnte den Ruin bedeuten, besonders bei einem Mann seines Berufs. Erschöpft, aber sehr glücklich kam er um Mitternacht heim. Er hat seitdem keinen Alkohol mehr getrunken. Wie wir sehen werden, gilt er jetzt viel in seiner Gemeinde. Die meisten Schulden aus dreißig Jahren harten Trinkens waren in vier Jahren abgegolten. Doch das Leben war für die beiden Freunde nicht einfach. Sie wurden vor viele Schwierigkeiten gestellt. Beide erkannten, daß sie seelisch aktiv bleiben mußten. Eines Tages riefen sie die Oberschwester eines örtlichen Krankenhauses an. Sie erklärten ihr Anliegen und erkundigten sich, ob es dort einen Voll-blut-Alkoholiker gebe. Sie antwortete: "Ja, wir haben so ein Prunkstück. Er hat gerade ein paar Krankenschwestern verprügelt. Er verliert vollkommen den Kopf, wenn er trinkt. Aber er ist ein prima Kerl, wenn er nüchtern ist. Er war in den letzten sechs Monaten achtmal hier. Sie müssen wissen, daß er einmal ein bekannter Rechtsanwalt in unserer Stadt war, aber jetzt haben wir ihn festgeschnallt." * Hier war jemand, der in Frage kam, der Beschreibung nach war er aber nicht sehr vielversprechend. Vom Seelischen her an eine solche Sache heranzugehen, war damals nicht so selbstverständlich wie heute. Dennoch sagte einer der beiden Freunde: "Legt ihn in ein Einzelzimmer, wir kommen." Zwei Tage später starrte ein zukünftiges Mitglied der Anonymen Alkoholiker mit glasigen Augen auf die Fremden neben seinem Bett und fragte: "Wer seid Ihr Leute und warum das Privatzimmer? Ich war vorher immer in einem Saal." Einer der Besucher sagte: "Wir machen mit Ihnen eine Alkoholismus- Behandlung." Die Hoffnungslosigkeit stand tief im Gesicht des Mannes geschrie ben, als er entgegnete: "Das hat doch keinen Sinn. Es gibt nichts, was mir noch helfen würde. Ich bin abgeschrieben. Die letzten drei Mal habe ich mich auf dem Weg von hier nach Hause betrunken. Ich habe schon Angst, aus der Tür zu gehen. Ich kann das nicht verstehen." *Das bezieht sich auf den ersten Besuch von Bill und Dr. Bob bei dem AA-Mitglied Nummer drei. Dessen Geschichte steht ebenfalls im nächsten Kapitel. Aus der Begegnung dieser drei Männer entstand 1935 die erste AA-Gruppe in Akron, Ohio. Eine Stunde lang erzählten die zwei Freunde ihm Erlebnisse aus ihrer Trinkerzeit. Immer wieder sagte er: "Das bin ich. Das bin ich. Genauso trinke ich." Der Mann im Bett erfuhr von der akuten Vergiftung, unter der er litt, wie sie den Körper eines Alkoholkranken zerstört und seinen Geist verwirrt. Es wurde viel über den geistigen Zustand gespro chen, der dem ersten Glas vorausgeht. "Ja, das bin ich", sagte der kranke Mann, "genau mein Ebenbild. Ihr wißt genau, wovon Ihr redet, aber ich kann mir nicht vorstellen, was es bringen soll. Ihr seid wer. Ich war es einmal, aber jetzt bin ich ein Niemand. Nach allem, was Ihr mir erzählt, weiß ich jetzt mehr denn je, daß ich nicht aufhören kann." Daraufhin brachen die beiden Besucher in ein Gelächter aus. "Wie ich es sehe, gibt es da verdammt wenig zu lachen", meinte das zukünftige AA-Mitglied. Die zwei Freunde sprachen von ihrer seelischen Erfahrung und erzählten ihm, welchen Weg sie eingeschlagen haben. Er unterbrach sie: "Früher war ich streng gläubig, aber das hat das Problem nicht gelöst. Morgens, wenn ich einen Kater hatte, betete ich zu Gott und schwor, daß ich nie mehr einen Tropfen anrühren würde, aber um neun Uhr war ich voll wie eine Strandhaubitze." Am nächsten Tag war der Schützling schon aufnahmebereiter. Er hatte über alles nachgedacht. "Vielleicht habt Ihr recht," sagte er, "für Gott sollte eigentlich alles möglich sein." Dann fügte er noch hinzu: "Allerdings hat er gewiß nicht viel für mich getan, als ich noch versucht habe, allein gegen die Trinkerei anzukämpfen." Am dritten Tag vertraute der Rechtsanwalt sein Leben der Sorge und Führung seines Schöpfers an und sagte, daß er uneingeschränkt bereit sei, alles Nötige zu tun. Seine Frau kam. Sie wagte kaum zu hoffen, obgleich sie meinte, schon eine Veränderung an ihrem Mann feststellen zu können. Er hatte angefangen, seine seelische Erfahrung selbst zu machen. Am gleichen Nachmittag zog er sich an und verließ das Krankenhaus als freier Mann. Er nahm an einem Wahlkampf teil, hielt Reden, besuchte Veranstaltungen aller Art und blieb oft die ganze Nacht auf. Er verlor die Wahl nur knapp. Aber er hatte Gott gefunden, und indem er Gott begegnete, fand er zu sich selbst. Das war im Juni 1935. Er trank nie wieder. Auch er wurde ein geachtetes und nützliches Mitglied seiner Gemeinde. Er hat anderen zur Genesung verholfen. Er ist zu einer starken Kraft seiner Kirche geworden, von der er so lange ferngeblieben war. Wie Sie sehen, gab es jetzt drei Alkoholiker in dieser Stadt, die davon überzeugt waren, den anderen das weitergeben zu müssen, was sie erfahren hatten, wenn sie nicht untergehen wollten. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, andere zu finden, tauchte ein vierter auf. Er kam durch einen Bekannten, der die guten Neuigkeiten gehört hatte. Es stellte sich heraus, daß er ein junger unbekümmerter Kerl war, dessen Eltern nicht herausfinden konnten, ob er mit dem Trinken aufhören wollte oder nicht. Es waren tiefreligiöse Leute, die traurig waren, weil ihr Sohn nichts mit der Kirche zu tun haben wollte. Er litt sehr unter seinen Räuschen, aber es schien, daß man nichts für ihn tun konnte. Er willigte jedoch ein, ins Krankenhaus zu gehen, und dort war er im gleichen Zimmer untergebracht, das der Rechtsanwalt kurz vorher verlassen hatte. Er hatte drei Besucher. Nach einer Weile sagte er: "So wie Ihr über den seelischen Kram redet, leuchtet mir das ein. Ich bin bereit mitzumachen. Meine alten Herrschaften haben wahrscheinlich doch recht gehabt." So war noch einer zur Gemeinschaft hinzugekommen. Während all dieser Zeit war unser Freund, den wir in der Hotelhalle kennengelernt haben, in dieser Stadt geblieben. Er war drei Monate dort. Jetzt kehrte er nach Hause zurück. Er ließ seinen ersten Bekannten, ferner den Rechtsanwalt und den sorglosen jungen Mann zurück. Diese Männer hatten etwas vollkommen Neues in ihrem Leben gefunden. Obgleich sie wußten, daß sie anderen Alkoholikern helfen mußten, um selbst nüchtern zu bleiben, wurde dieses Motiv zweitrangig. Es wurde übertroffen von dem Glück, sich für andere einzusetzen. Sie teilten ihr Heim und ihre schmalen Einkünfte mit den Leidgenossen und widmeten ihnen bereitwillig ihre Freizeit. Sie waren Tag und Nacht bereit, einen Neuen ins Krankenhaus zu bringen und ihn zu besuchen. Ihre Zahl nahm ständig zu. Sie hatten einige betrübliche Mißerfolge, aber in solchen Fällen versuchten sie, der Familie des Mannes einen neuen, seelischen Lebensweg aufzuzeigen. Auf diese Weise milderten sie Kummer und Leid. Ein Jahr und sechs Monate später hatten diese drei bei sieben weiteren Erfolg gehabt. Sie sahen sich oft. Kaum ein Abend verging, an dem sich nicht in der Wohnung eines der Mitglieder Männer und Frauen trafen. Glücklich über ihre Befreiung dachten sie ständig daran, ihre Entdeckung an Neue weiterzugeben. Neben diesen zwanglosen Zusammenkünften gab es an einem Abend in der Woche ein Meeting für alle, die an einem seelisch ausgerichteten Lebensweg interessiert waren. Neben Gemeinschaft und Geselligkeit wurde es zum Hauptzweck, neuen Leuten die Möglichkeit zu geben, über ihre Probleme zu einer bestimmten Zeit an einem festen Ort zu sprechen. Außenstehende fingen an, sich für uns zu interessieren. Ein Ehepaar stellte diesem seltsam zusammengewürfelten Haufen sein großes Haus zur Verfügung. Die beiden waren bald so begeistert, daß sie ihr Heim der Sache bald ganz überließen. Manch verstörte Ehefrau hat dieses Haus aufgesucht und dort Liebe und verständnisvolle Kameradschaft unter Frauen gefunden, die das Problem kannten. Die Ehemänner dieser Frauen erzählten, was mit ihnen geschehen war. Die hilfesuchende Frau erhielt Ratschläge, wie ihr unberechenbarer Partner ins Krankenhaus zur Behandlung gebracht werden könnte und wie ihm zu begegnen sei, sollte er wieder ausrutschen. So mancher Mann, noch benommen von seinem Krankenhauserlebnis, ist über die Schwelle dieses Hauses in die Freiheit gegangen. So manch ein Alkoholiker, der dort eintrat, erhielt eine Antwort. Er konnte sich der fröhlichen Menge nicht entziehen, die über ihr eigenes Unglück lachte und das seine verstand. Tief beeindruckt durch jene, die ihn im Krankenhaus besucht hatten, kapitulierte er endgültig, als er später beim Meeting im oberen Stockwerk die Geschichte eines Mannes hörte, dessen Erfahrungen mit seinen eigenen übereinstimmten. Der Ausdruck auf den Gesichtern der Frauen, dieses gewisse Etwas in den Augen der Männer, die anregende und ansteckende Atmosphäre des Ortes bestärkten ihn in der Gewißheit, daß er hierher gehörte. Niemand konnte dem widerstehen, was von diesen Menschen ausging: die praktische Art, Schwierigkeiten anzupacken, die große Toleranz, die Ungezwungenheit, die echte Demokratie und vor allem das unbegreifliche Verständnis füreinander. So manch ein Alkoholiker und seine Frau machten sich glücklich auf den Heimweg und überlegten, was sie jetzt für ihre betroffenen Bekannten und deren Familien tun könnten. Sie wußten, daß sie jetzt eine Menge neuer Freunde hatten, und es kam ihnen so vor, als hätten sie diese Freunde schon immer gekannt. Sie hatten Wunder gesehen, und eines sollte ihnen widerfahren. Vor allem hatten sie jene große Wirklichkeit geschaut: ihren liebenden und allmächtigen Schöpfer. Heute kann dieses Haus kaum noch die wöchentlichen Besucher auf nehmen, denn die Zahl beläuft sich in der Regel auf sechzig bis achtzig. Alkoholiker von nah und fern werden angezogen. Familien aus umliegenden Städten fahren weite Entfernungen, nur um dabei zu sein. Eine Gemeinde, dreißig Meilen entfernt, hat eine Gruppe von fünfzehn Mitgliedern. Weil es ein größerer Ort ist, nehmen wir an, daß diese Gruppe eines Tages aus mehreren hundert Mitgliedern bestehen wird. Aber das Leben der Anonymen Alkoholiker ist mehr, als an Zusammenkünften teilzunehmen und Krankenbesuche zu machen. Zum AA- Alltag gehört es: Alte Scharten auswetzen, Familienzwiste bereinigen, den enterbten Sohn seinen erzürnten Eltern wieder nahebringen, Geld borgen und einander den Arbeitsplatz sichern, wo es gerechtfertigt ist. Keiner ist so verrufen oder ist so tief gesunken, um nicht herzlich aufgenommen zu werden, wenn er es ehrlich meint. Über soziale Unterschiede, kleine Rivalitäten und Eifersüchteleien geht man mit einem Lächeln hinweg. Als Schiffbrüchige im selben Boot, gerettet und vereint von einem Gott, sind Herz und Geist eingestimmt auf das Wohl anderer. Da ist all das, was anderen Leuten so viel bedeutet, für sie nicht mehr wichtig. Wie sollte es auch? Ähnlich vollzieht sich in vielen Städten des Ostens der USA der selbe Vorgang. In einer dieser Städte gibt es ein weithin bekanntes Krankenhaus für die Behandlung von Alkohol- und Drogenabhängigen. Vor sechs Jahren war einer von uns dort Patient. Viele von uns haben in den Mauern dieses Krankenhauses zum ersten Mal die Gegenwart und die Kraft Gottes erfahren. Wir stehen tief in der Schuld des dort tätigen Arztes. Obwohl es zum Nachteil für seine eigene Arbeit sein könnte, hat er uns versichert, daß er an unsere Sache glaubt. Alle paar Tage schlägt dieser Arzt vor, daß wir uns mit einem seiner Patienten beschäftigen. Das Verständnis für unsere Arbeit läßt ihn solche Kranke aussuchen, die willens und fähig sind, auf einer seelischen Grundlage zu genesen. Viele von uns, die früher als Patient dort waren, gehen hin, um zu helfen. Außerdem gibt es in dieser Stadt zwanglose Zusammenkünfte, wie sie vorher beschrieben worden sind. Dort ist eine große Anzahl von Mitgliedern anzutreffen. Auch dort gibt es die gleichen, spontan geschlossenen Freundschaften und dieselbe Hilfsbereitschaft untereinander, die man unter unseren Freunden im Westen findet. Zwischen Osten und Westen wird viel herumgereist, und wir erwarten eine Zunahme dieses hilfreichen Erfahrungsaustausches. Wir hoffen, daß eines Tages jeder Alkoholiker, der auf Reisen ist, an seinem Bestimmungsort eine AA-Gruppe vorfindet. Bis zu einem gewissen Grad trifft das schon heute zu. Einige von uns sind als Geschäftsleute viel unterwegs. Durch den Kontakt mit unseren zwei größeren Zentren sind kleinere Gruppen von zwei, drei oder fünf Mitgliedern auch andernorts entstanden. Wer von uns unterwegs ist, besucht diese kleinen Gruppen so oft er kann. So ist uns die Möglichkeit gegeben zu helfen. Gleichzeitig schützen wir uns vor Rückfallgefahren, über die jeder Reisende berichten kann. * So wachsen wir. Auch Sie können wachsen, selbst wenn Sie nichts als dieses Buch in der Hand haben. Wir glauben und hoffen, daß es alles enthält, was Sie für den Anfang brauchen. Wir wissen, was Sie jetzt denken. Sie sagen zu sich selbst: "Ich bin zittrig und allein. Das schaffe ich nie." Sie können es schaffen. Sie vergessen, daß Sie jetzt eine Kraftquelle angezapft haben, die stärker ist als Sie selbst. Um es nochmals zu sagen: Mit diesem Rüstzeug ist es nur eine Frage von Bereitschaft, Geduld und Arbeit, um zu erreichen, was wir geschafft haben. Wir kennen ein AA-Mitglied, daß in eine große Stadt gezogen ist. Schon nach ein paar Wochen stellte er fest, daß es dort wahr scheinlich mehr Alkoholiker pro Quadratmeile gab, als in jeder anderen Stadt des Landes. Das war nur ein paar Tage, bevor dieses Buch 1939 geschrieben worden ist. Wegen des Alkoholproblems waren die Behörden sehr besorgt. Unser Mann trat in Verbindung mit *Geschrieben 1939. Im Jahre 1982 gibt es mehr als 40 000 Gruppen in über hundert Ländern, mit einer geschätzten Mitgliederzahl von über einer Million. einem bekannten Psychiater, der in gewissem Umfang Verantwortung auf diesem Gebiet übernommen hatte. Es stellte sich heraus, daß dieser Arzt fähig und außerordentlich daran interessiert war, jede irgendwie wirksame Methode anzuwenden, um das Problem in den Griff zu bekommen. So wollte er auch wissen, was unser Freund zu bieten habe. Unser Freund ging zu ihm und berichtete. Und das mit solchem Erfolg, daß der Doktor einwilligte, es mit seinen Patienten und Alkoholikern aus einer Klinik zu versuchen, die er versorgte. Vereinbarungen wurden auch mit dem Chefarzt der psychiatrischen Abteilung eines großen, öffentlichen Krankenhauses getroffen, um noch andere aus dem Strom des Elends herauszusuchen, der durch diese Anstalt fließt. So wird unser Freund bald viele Gefährten haben. Einige von ihnen werden untergehen und vielleicht nie wieder hochkommen. Wenn unsere Erfahrung gültig ist, dann werden mehr als die Hälfte derer, die angesprochen wurden, AA-Mitglieder werden. Bilden sich in der Stadt Gruppen, deren Mitglieder Freude daran haben, anderen zu helfen und ihnen neuen Lebensmut zu geben, gibt es hier keinen Halt, bis jeder, der will und kann, Genesung findet. Immer noch könnten Sie einwenden: "Aber ich werde nicht das Glück haben, Euch, die Ihr dieses Buch schreibt, persönlich kennenzulernen." Wir wissen es nicht. Gott wird das bestimmen. Sie müssen sich immer ins Bewußtsein rufen, daß Sie letztlich nur auf Ihn bauen können. Er wird Ihnen auch zeigen, wie Sie die Gemeinschaft ins Leben rufen, nach der Sie sich sehnen. Die Anonymen Alkoholiker freuen sich, von Ihnen zu hören. Kontaktadressen stehen am Schluß dieses Buches. Unser Buch ist nur als Anregung gedacht. Wir sind uns bewußt, daß wir nur wenig wissen. Gott wird Ihnen und uns ständig mehr offen baren. Fragen Sie ihn morgens bei der Besinnung, was Sie jeden Tag für den tun können, der noch krank ist. Die Antwort kommt, wenn bei Ihnen alles in Ordnung ist. Denn es ist klar, daß Sie nichts weitergeben können, was Sie selbst nicht haben. Sorgen Sie dafür, daß Ihr Verhältnis zu ihm in Ordnung ist. Dann werden mit Ihnen und vielen anderen wunderbare Dinge geschehen. Das ist für uns unumstößliche Wahrheit. Geben Sie sich ganz in die Hand Gottes, wie Sie ihn verstehen. Gestehen Sie ihm und Ihren Freunden Ihre Fehler ein. Räumen Sie die Trümmer aus Ihrer Vergangenheit beiseite. Geben Sie freimütig von dem, was Sie finden, und kommen Sie zu uns. Wir werden mit Ihnen in seelischer Gemeinschaft verbunden sein, und Sie werden bestimmt einigen von uns begegnen auf dem beschwerlichen Weg zum glücklichen Ziel. Bis dahin möge Gott Sie segnen und behüten. Anonyme Alkoholiker, Postfach 460 227, 80910 München (089) 316 4343 7 |