V O R W O R T
zur vierten Auflage der deutschen Übersetzung
des Buches "Anonyme Alkoholiker"

Das Buch "Anonyme Alkoholiker" enthält die geistigen Prinzipien
und die praktischen Anleitungen, mit denen die
Selbsthilfegemeinschaft alkoholkranker Männer und Frauen seit
nunmehr fast fünf Jahrzehnten erfolgreich arbeitet. Die AA
Gemeinschaft ist 1935 in den Vereinigten Staaten von zwei
hoffnungslosen Trinkern gegründet worden. Einer der beiden
Gründer, der New Yorker Börsenmakler Bill W., hat die Erfahrungen
der jungen Gemeinschaft und ihrer bis dahin etwa hundert
Mitglieder 1939 aufgeschrieben und unter dem Titel "Alcoholics
Anonymous" veröffentlicht. Das Buch stieß auf Aufmerksamkeit und
hat der Gemeinschaft den Namen gegeben, unter dem sie
mittlerweile in mehr als hundert Ländern verbreitet ist.

Die ersten Gruppen der Anonymen Alkoholiker sind in Deutschland
zu Anfang der fünfziger Jahre entstanden. Die Männer und Frauen,
die sich damals im Erfahrungsaustausch um Nüchternheit und
Lebenserneuerung bemühten, hatten dafür als Anleitung und Hilfe
zunächst nur, was Sprachkundige aus Besuchen amerikanischer AA
Meetings mitbrachten. Es gab noch keine Übersetzungen von AA
Literatur. Während kleinere Schriften bald übersetzt waren und
als kopierte Handzettel in Umlauf kamen, wurde das AA-Standardwerk
"Anonyme Alkoholiker" lange Zeit vermißt.

Die amerikanischen Anonymen Alkoholiker hüten mit Respekt und
Dankbarkeit dieses Buch in seiner ursprünglichen Form. "The Big
Book" - das große Buch, wie sie es nennen, ist in der
Gemeinschaft weit verbreitet. Die Gruppen sorgen dafür, daß neue
Mitglieder der Gemeinschaft recht bald mit dem Buch vertraut
werden.

Nach dem Farbeinband der bisher erschienenen deutschsprachigen
Ausgaben wird hierzulande vom "Blauen Buch" gesprochen. Rund zehn
Jahre hatten die ersten Gruppen in Deutschland auf das Buch
warten müssen. Dann übersetzte Pfarrer Heinz Kappes, ein der AA
Gemeinschaft verbundener Geistlicher, das Buch. Heinz Kappes, der
in einem Schlußkapitel dieses Buches zu Wort kommt, schickte
damals sein Manuskript an die AA-Zentrale nach New York, von wo
es in kleiner Auflage broschürt zurückkam. Es gab somit die erste
bescheidene Ausgabe des "Blauen Buches". In dieser Form wurde es
später im eigenen Land noch einmal nachgedruckt.

Anfang der siebziger Jahre überarbeitete ein Team von AA-Mitglie-
dern aus Deutschland, der Schweiz und aus Österreich die erste
Übersetzung. Es gab die dritte Auflage des Buches, von der insge-
samt 18 000 Exemplare gedruckt worden sind. Diese Auflage
enthielt erstmals auch, neben dem an den amerikanischen Text
angelehnten Kernteil des Buches, Lebensgeschichten Anonymer
Alkoholiker.

Ein Teil der Lebensgeschichten aus der dritten Auflage sind in
diese vierte Auflage übernommen worden. Einige andere Lebensge-
schichten sind neu hinzugekommen. Übersetzt aus dem
amerikanischen Originalbuch sind die Lebensgeschichten der AA
Gründer Bill. W. und Dr. Bob sowie die Aufzeichnungen des Mannes,
der sich als dritter dem noch jungen Bündnis angeschlossen hat.

Neu übersetzt ist der Kernteil des Buches, der bis Kapitel elf
reicht. Dabei wurde dem Wunsch des AA-Weltbüros in New York Rech-
nung getragen, bei der deutschen Übersetzung dem amerikanischen
Originaltext möglichst eng zu folgen, damit durch die sprachliche
Übertragung nichts von den AA-Grundgedanken verlorengeht oder
verändert wird.

Auf dieses Vorwort folgen Einleitungen und Vorreden zu den bisher
erschienenen amerikanischen Auflagen des Buches. Weil diese Vor-
worte gleichzeitig ein Stück Aufzeichnung von AA-Geschichte dar
stellen, wurden sie mit in dieses Buch aufgenommen. Das gilt auch
für die "Meinung des Arztes", ein auf die Vorworte folgendes
Kapitel, das Dr. Silkworth als einer der frühen Freunde der Ge-
meinschaft geschrieben hat.

In den Lebensgeschichten im mittleren Teil des Buches schildern
Frauen und Männer aller Altersgruppen und Gesellschaftsschichten
die Not ihrer Krankheit und den Weg, den sie mit Hilfe der Anony-
men Alkoholiker danach gegangen sind.

Die Kapitel im Anhang zu diesem Buch sind wiederum weitgehend aus
dem amerikanischen Original übernommen worden. Das gilt für die
AA-Traditionen ebenso wie für die Abschnitte über "Die seelische
Erfahrung" und über die Ansichten, die Geistliche und Ärzte von
den Anonymen Alkoholikern haben. Die im Anhang abgedruckten
Anmerkungen zum Lasker-Preis stammen aus dem Originalbuch und
sind ergänzt durch einen Hinweis auf den Hermann-Simon-Preis.
Ergänzt um Hinweise auf die Gegebenheiten im deutschsprachigen
Europa ist das Kapitel "Wie man mit den Anonymen Alkoholikern in
Verbindung kommt". Die Gedanken in den Kapiteln "Die seelische
Erfahrung" und "Aus der Sicht von Geistlichen" werden vertieft
durch den Beitrag von Pfarrer Heinz Kappes "Gott, wie ich ihn
verstehe".

Am Schluß dieser Vorrede ist allen zu danken, die an diesem Buch
mitgearbeitet haben: den Übersetzern, dem mit der Überarbeitung
beauftragten Literaturteam und den Schreibern der Lebensgeschich-
ten. In den Dank einzubeziehen sind die Pioniere der AA-Gemein-
schaft, auf die das Genesungsprogramm und die erstmalige Nieder-
schrift dieses Buches zurückgeht, und diejenigen, die sorgsam
über die Unverfälschtheit der AA-Botschaft wachen. - Das
Erscheinen dieses Buches ist begleitet von dem Wunsch und von der
Hoffnung, daß es in die Hände vieler kommt, die daraus Nutzen zu
ziehen imstande sind.

Mai 1983 Anonyme Alkoholiker
deutschsprachiger Länder
 
 

Einleitung zur jüngsten
Ausgabe des amerikanischen Buches "Alcoholics
Anonymous"

Dies ist die dritte Auflage des Buches "Anonyme Alkoholiker". Die
erste Ausgabe erschien im April 1939, und in den darauffolgenden
sechzehn Jahren kamen 300 000 Exemplare in Umlauf. Die zweite
Auflage, 1955 veröffentlicht, erreichte insgesamt 1 150 000 Exem-
plare.

Weil das Buch für unsere Gemeinschaft zum Grundtext geworden ist
und einer so großen Zahl von Alkoholikern, Männern und Frauen,
hilfreich bei ihrer Genesung war, gibt es in der Gemeinschaft
keine Neigung, an diesem Text etwas Grundlegendes zu ändern.
Deshalb wurde der erste Teil des Werkes, in dem das Genesungspro-
gramm beschrieben ist, unverändert in der Form der Überarbeitung
für die zweite und dritte Ausgabe übernommen. Das Kapitel "Die
Ansicht des Arztes" blieb so, wie es ursprünglich im Jahr 1939
von Dr. William Silkworth, dem großen medizinischen Gönner
unserer Gemeinschaft, geschrieben worden ist.

Der zweiten Auflage wurden die Anhänge über die Zwölf Traditionen
und die Anleitung, wie man in Kontakt mit der Gemeinschaft der
Anonymen Alkoholiker kommt, beigefügt. Die einschneidendste Änder-
ung geschah in dem Teil der persönlichen Lebensgeschichten, der
erweitert wurde, um das Wachstum der Gemeinschaft
widerzuspiegeln. Die Geschichte "Dr. Bobs Alptraum" und sechs
andere persönliche Geschichten der ersten Ausgabe wurden
beibehalten, dreißig neue Geschichten beigefügt und dieser Teil
in drei Gruppen geordnet. (Anmerkung zur deutschen Ausgabe: Die
Bemerkungen über die Lebensgeschichten beziehen sich auf das
amerikanische Originalbuch. Diese Ausgabe enthält
Lebensgeschichten deutschsprachiger Anonymer Alkoholiker.)
In der vorliegenden dritten Ausgabe des Buches blieb die Gruppe I
(Pioniere der Anonymen Alkoholiker) unverändert. Neun der Ge-
schichten in der zweiten Gruppe ("Sie hörten rechtzeitig auf")
wurden von der zweiten Ausgabe übernommen und mit acht neuen
Geschichten ergänzt. Die acht Geschichten der dritten Gruppe
("Sie verloren nahezu alles") wurden um fünf neue erweitert.
Alle Änderungen in dem "Großen Buch" (AA-Freunde in Amerika gaben
dem Buch den Kosenamen "The Big Book"), hatten den gleichen Sinn
und Zweck, die heutige Gestalt der Gemeinschaft zutreffend dazu
stellen und noch mehr leidende Alkoholiker zu erreichen. Wenn Sie
ein Trinkproblem haben, so hoffen wir, werden Sie beim Lesen
einer der Lebensgeschichten innehalten und sich sagen: "Ja, das
war bei mir auch so" oder noch besser: "Ja, ich fühlte ebenso"
und noch entscheidender: "Ja, ich glaube, dieses Programm kann
bei mir auch wirksam werden."
Mai 1983 Anonyme Alkoholiker
deutschsprachiger Länder
 
 
 

Vorwort zur ersten Auflage des
amerikanischen Buches

Dies ist das Vorwort, wie es beim Erstdruck der
Erstauflage im Jahr 1939 erschienen war.

Wir Mitglieder der Anonymen Alkoholiker sind mehr als hundert
Männer und Frauen, die von einem geistigen und körperlichen Zu
stand Genesung gefunden haben, der hoffnungslos zu sein schien.
Die wichtigste Absicht dieses Buches ist: Wir wollen anderen
Alkoholikern genau den Weg beschreiben, der zu unserer Genesung
geführt hat. Wir hoffen, daß diese Seiten so überzeugend sind,
daß keine weiteren Beweise nötig sind. Wir meinen auch, daß
jedermann durch diesen Bericht unserer Erfahrungen den
Alkoholiker besser verstehen lernt. Viele Menschen begreifen
nicht, daß der Alkoholiker ein sehr kranker Mensch ist. Darüber
hinaus sind wir überzeugt, daß unsere Lebensmethode auch für alle
anderen Menschen von Nutzen sein kann.

Es ist wichtig, daß wir anonym bleiben, denn wir sind zur Zeit
noch zu wenig, um mit der überwältigenden Zahl von Hilferufen
fertig zu werden, die wahrscheinlich durch diese Veröffentlichung
ausgelöst werden. Da wir meist im Geschäftsleben stehen oder
einen freien Beruf haben, könnten viele von uns ihre
Beschäftigung nicht ausüben, wenn wir als Alkoholiker bekannt
würden. Wir bitten um Verständnis dafür, daß unsere Arbeit mit
Alkoholikern eine Nebenbeschäftigung ist.

Wenn wir in der Öffentlichkeit schreiben oder reden, dann soll
jedes Mitglied unserer Gemeinschaft seinen Familiennamen weglas-
sen: es soll sich statt dessen einfach als "ein Mitglied der
Anonymen Alkoholiker" bezeichnen.
Wir richten auch an die Presse die sehr ernste Bitte, daß sie
diesen Wunsch achtet; andernfalls entstünden uns Nachteile.
Wir sind keine Organisation im üblichen Sinn dieses Wortes. Bei
uns gibt es keine Mitgliedsbeiträge oder sonstige finanzielle
Verpflichtungen. Die einzige Voraussetzung für die Mitgliedschaft
ist der ehrliche Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören. Wir sind mit
keinem besonderen Religionsbekenntnis, keiner Sekte oder Kirche
verbunden, wir stehen aber auch in keinem Gegensatz zu irgend
etwas oder zu irgend jemand. Wir wollen einfach denen zu Hilfe
kommen, die von dieser Krankheit betroffen sind.
Wir würden uns sehr freuen, von den Lesern zu hören, die durch
dieses Buch zu positiven Ergebnissen gekommen sind; von
besonderem Interesse sind für uns Mitteilungen von solchen, die
anfingen, mit anderen Alkoholikern zu arbeiten. In solchen Fällen
möchten wir uns nützlich erweisen. Für Anfragen von
wissenschaftlichen, medizinischen und religiösen Organisationen
sind wir dankbar.
Anonyme Alkoholiker
Vorwort zur zweiten Auflage des
amerikanischen Buches
Seitdem im Jahre 1939 das ursprüngliche Vorwort zu diesem Buch
geschrieben worden ist, hat sich wahrhaft ein Wunder ereignet. In
unserer frühesten Ausgabe sprachen wir die Hoffnung aus: "Jeder
Alkoholiker, der auf Reisen ist, möge an seinem Reiseziel die
Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker vorfinden. Schon jetzt", so
fährt jener alte Text fort, "sind in anderen Gemeinden Gruppen
mit zwei, drei oder fünf unserer Mitglieder entstanden."
Seitdem wir dieses Buch zum ersten Mal in Druck gaben, sind bis
zum Erscheinen der zweiten Auflage im Jahr 1955 sechzehn Jahre
vergangen. In dieser kurzen Zeit ist die Gemeinschaft der
Anonymen Alkoholiker auf fast 6000 Gruppen emporgeschossen; die
Mitgliederzahl umfaßt weit über 150 000 genesene Alkoholiker.* In
jedem der Staaten der USA und in allen Provinzen Kanadas gibt es
solche Gruppen. Die AA-Gemeinschaft hat blühende Zweige auf den
Britischen Inseln, in den skandinavischen Ländern, in Südafrika,
Südamerika, Mexiko, Alaska, Australien und Hawaii. Wenn man alles
zusammenzählt, sind in etwa 50 fremden Ländern und Besitztümern
der Vereinigten Staaten vielversprechende Anfänge gemacht worden.
Solche Anfänge nehmen gerade jetzt in Asien Form an. Viele
unserer Freunde stärken unseren Mut und sagen: dies alles ist ja
nur erst der Anfang; in ihm stecken die Vorzeichen einer
bevorstehenden viel größeren Zukunft.
* Zahlenangaben in diesem Vorwort beziehen sich auf den Stand,
den die AA-Gemeinschaft 1955 erreicht hatte.
Der Funke, der die erste AA-Gruppe entflammen sollte, wurde im
Juni 1935 in Akron, Ohio, bei einem Gespräch entzündet, das zwi-
schen einem New Yorker Börsenmakler und einem Arzt aus Akron
geführt wurde. Sechs Monate zuvor war der Finanzmann durch eine
plötzliche seelische Erfahrung von seiner Trunksucht befreit
worden. Dies war auf ein Zusammentreffen mit einem befreundeten
Alkoholiker erfolgt, der mit den Oxford-Gruppen jener Tage in
Berührung gekommen war. Eine andere große Hilfe war dem Makler
durch einen New Yorker Spezialarzt in der Behandlung von
Alkoholikern zuteil geworden, durch den inzwischen verstorbenen
Dr. William D. Silkworth, der heute von den AA-Mitgliedern
beinahe wie ein medizinischer Heiliger verehrt wird. Dr.
Silkworths Bericht über jene Anfangstage unserer Gemeinschaft
erscheint auf den folgenden Seiten. Von diesem Arzt hatte der
Makler erfahren, daß Alkoholismus eine lebensgefährliche
Krankheit ist. Obwohl der Makler nicht alle Grundsätze der Oxford-
Gruppen annehmen konnte, war er doch davon überzeugt, daß eine
moralische Inventur notwendig sei, ferner die freimütige
Aussprache über die Charakterfehler, die Wiedergutmachung an die
Geschädigten, die Hilfsbereitschaft anderen gegenüber sowie der
Glaube an Gott und das unbedingte Vertrauen auf Ihn.

Vor seiner Reise nach Akron hatte sich der Makler mit vielen
Alkoholikern große Mühe gegeben, weil er der Auffassung war, daß
nur ein Alkoholiker einem anderen Alkoholiker helfen könne. Der
Erfolg dieser Arbeit bestand aber nur darin, daß er selbst nüch-
tern geblieben war. Der Finanzmann war auf einer Geschäftsreise
nach Akron gekommen. Das Geschäft war fehlgeschlagen. Und nun war
bei ihm die große Furcht entstanden, daß er wieder zu trinken
anfangen würde. Plötzlich wurde ihm klar, daß er, um sich selber
zu retten, die Mitteilung über seine Heilung zu einem anderen
Alkoholiker bringen müsse. Jener andere Alkoholiker war eben der
Arzt in Akron.

Dieser Arzt hatte schon wiederholt seelisch-geistige Methoden
erprobt, um mit seinem Alkoholdilemma fertig zu werden. Er war
jedoch dabei immer wieder gescheitert. Als der Makler ihm aber
die Ansichten des Dr. Silkworth über den Alkoholismus und dessen
Hoffnungslosigkeit mitteilte, begann der Chirurg, sich mit einer
Willenskonzentration um die seelischen Heilmittel seiner
Krankheit zu bemühen, wie er sie vorher nie hatte aufbringen
können. Er wurde nüchtern und trank bis zum Augenblick seines
Todes im Jahre 1950 keinen Alkohol mehr. Dies schien zu beweisen,
daß ein Alkoholiker auf einen anderen eine Einwirkung ausüben
konnte, wie es Nichtalkoholiker niemals fertigbrachten. Aber es
zeigte auch, daß ein intensives Bemühen des einen Alkoholikers um
den anderen für die dauernde Genesung lebensnotwendig war.

Von diesem Augenblick an arbeiteten die beiden Männer fast wie
besessen mit Alkoholikern, die in die entsprechende Abteilung des
Städtischen Krankenhauses in Akron kamen. Ihr allererster, ein
wirklich verzweifelter Fall, genas sofort und wurde das AA-Mit-
glied Nummer drei. Er hat nie mehr einen Schluck Alkohol getrun-
ken. Diese Arbeit in Akron dauerte den ganzen Sommer 1935 hin
durch. Es gab auch viele Fehlschläge. Aber gelegentlich kam es
doch zu einem ermutigenden Erfolg. Als der Makler im Herbst 1935
wieder nach New York zurückkehrte, war tatsächlich die erste AA
Gruppe entstanden, obwohl das um jene Zeit noch niemand so recht
wahrnahm.

Gegen Ende 1937 war die Zahl der Mitglieder, die schon eine be-
trächtliche Zeit ihrer Nüchternheit erfolgreich bestanden
hatten, so groß, daß die Gemeinschaft davon überzeugt war: jetzt
ist ein neues Licht in der finsteren Welt des Alkoholikers
aufgegangen.
 
 

Eine zweite Gruppe hatte sich in New York gebildet. Außerdem gab
es verstreut wohnende einzelne Alkoholiker, welche die
grundlegenden Ideen in Akron oder in New York erfaßt hatten und
nun versuchten, in anderen Städten Gruppen zu bilden.

Nun war nach der Meinung der um ihre Existenz ringenden Gruppen
die Zeit gekommen, daß sie ihre Kunde und einzigartige Erfahrung
der Welt zur Kenntnis brachten. Im Frühjahr des Jahres 1939 trug
dieser Entschluß seine Frucht in der Veröffentlichung dieses
Buches. Damals war die Mitgliederzahl auf etwa 100 Männer und
Frauen gestiegen. Diese flügge gewordene Gemeinschaft, die bis
dahin ohne Namen gewesen war, wurde von jetzt ab nach dem Titel
ihres eigenen Buches "Anonyme Alkoholiker" genannt. Die Zeit des
Blindfliegens war zu Ende: Die Anonymen Alkoholiker traten in
eine neue Phase ihrer Pionierzeit ein.

Mit dem Erscheinen des neuen Buches nahmen viele Ereignisse
ihren Anfang. Der bekannte Geistliche Dr. Harry Emerson Fosdick
besprach das Buch mit warmer Zustimmung. Im Herbst 1939 druckte
der damalige Herausgeber der Zeitschrift "Liberty", Fulton
Oursler, in seiner Zeitschrift einen Teil daraus ab unter der
Überschrift "Alkoholiker und Gott". Das brachte eine Flut von 800
dringenden Anfragen in das kleine Büro in New York, das
inzwischen eingerichtet worden war. Jede Anfrage wurde mit
gewissenhafter Gründlichkeit beantwortet, Broschüren und Bücher
wurden versandt. Mitglieder bestehender Gruppen, die als
Geschäftsleute viel unterwegs waren, wurden auf diese zukünftigen
Neulinge aufmerksam gemacht. Neue Gruppen entstanden. Und man
entdeckte zum Erstaunen von jedermann, daß man die Kunde von AA
ebenso durch die Post wie durch das gesprochene Wort übermitteln
konnte. Ende 1939 schätzte man, daß 800 Alkoholiker auf ihrem Weg
zur Genesung waren.

Im Frühjahr des Jahres 1940 gab John D. Rockefeller für viele
seiner Freunde einen Empfang, zu welchem er AA-Mitglieder einlud,
damit sie dort ihre Lebensgeschichte erzählten. Die Nachricht
hiervon ging durch die Kabel der Welt. Wieder gingen
Erkundigungen ein, und viele Menschen gingen zu den Buchläden, um
das Buch "Anonyme Alkoholiker" zu kaufen. Im März 1941 war die
Mitgliederzahl auf 2000 angewachsen. Dann schrieb Jack Alexander
einen Artikel in der "Saturday Evening Post" und stellte vor das
allgemeine Publikum ein so überzeugendes Bild von der AA
Gemeinschaft hin, daß uns die Hilferufe von Alkoholikern geradezu
überschwemmten. Gegen Ende 1941 zählte man 8000 Mitglieder. Nun
schossen überall die AA-Gruppen wie Pilze aus dem Boden. AA war
zu einer festen Einrichtung in der amerikanischen Nation
geworden.

Damit trat unsere Gemeinschaft in ihre gefährliche und aufregende
Periode der Entwicklungsjahre ein. Sie mußte die folgende Probe
bestehen: Konnten diese großen Massen von Alkoholikern, die eben
noch ein völlig ungeordnetes Leben geführt hatten, erfolgreiche
Gemeinschaften miteinander bilden und zusammenarbeiten? Würde es
Streitigkeiten über die Mitgliedschaft, die Leitung und das Geld
geben? Würde es zu Kämpfen um Macht und Vorherrschaft kommen?
Würden Spaltungen eintreten, welche die AA-Gemeinschaft wieder
auseinanderrissen? Bald traten gerade diese Probleme überall und
in jeder Gruppe auf. Jedoch erwuchs aus dieser Erfahrung mit
ihren Sorgen und Zerreißproben die Überzeugung: Entweder müssen
die Anonymen Alkoholiker eng zusammenhalten, oder sie werden
einzeln zugrunde gehen. Entweder mußten wir unsere Gemeinschaft
zu einer Einheit zusammenschließen oder die Bühne der Geschichte
verlassen.
 

So wie wir die Grundsätze entdeckt hatten, nach denen der
einzelne Alkoholiker sein Leben gestalten konnte, so mußten wir
auch jene Regeln entwickeln, nach welchen die AA-Gruppen und die
AA-Gemeinschaft als Ganzes am Leben bleiben und wirkungsfähig
funktionieren konnten. Man kam zu der Überzeugung, daß man keinen
Alkoholiker, keinen Mann und keine Frau, aus unserer Gemeinschaft
ausschließen durfte. Unsere Leiter müßten dienen, sie dürften
aber nie regieren. Jede Gruppe mußte völlig selbständig sein. Es
dürfte bei uns keine hauptberuflich tätigen Therapeuten geben.
Außerdem dürfte es keine Mitglieds- und andere Pflichtbeiträge
geben. Unsere Aufgaben müßten durch unsere eigenen freiwilligen
Beiträge gedeckt werden. Überhaupt sollte man selbst in unseren
Zentralbüros mit einer möglichst geringen Organisation auskommen.
Unsere Beziehungen zur Öffentlichkeit sollten eher auf Anziehung
als auf Werbung gegründet sein. Es wurde die Entscheidung
getroffen, daß alle Mitglieder auf der Ebene von Presse, Radio,
Fernsehen und Film anonym bleiben müßten. Und wir dürften unter
keinen Umständen Stellungnahmen abgeben, unseren Namen für andere
Bestrebungen hergeben, Bündnisse mit ihnen eingehen oder uns in
öffentliche Auseinandersetzungen verwickeln lassen.

Das war der wesentliche Inhalt der "Zwölf Traditionen" der Anony-
men Alkoholiker, die im Anhang dieses Buches ausführlich
behandelt werden. Obwohl keiner dieser Grundsätze die Kraft von
Vorschriften oder Gesetzen besaß, waren sie doch um 1950 so
weithin angenommen, daß sie von unserer Ersten Internationalen
Konferenz in Cleveland bestätigt wurden. Heute ist diese
bemerkenswerte Einigkeit in der AA-Gemeinschaft einer der
allerwichtigsten Aktivposten, den wir haben.

Im selben Maß wie die inneren Schwierigkeiten unserer Reifejahre
allmählich ausgebügelt wurden, nahm die Öffentlichkeit die Anony-
men Alkoholiker mit einer stürmisch wachsenden Freundlichkeit an.
Dafür gab es zwei Hauptgründe: die große Zahl der Genesungen und
die wiedervereinigten Familien. Diese machten überall einen star-
ken Eindruck. Von den Alkoholikern, die zu den AA kamen und einen
ernsthaften Versuch damit machten, wurden 50 Prozent nüchtern und
blieben es auch; 25 Prozent wurden erst nach verschiedenen Rück
fällen nüchtern; und von den restlichen 25 Prozent erfuhren die,
die weiter bei den AA blieben, eine Besserung ihrer Krankheit.
Weitere Tausende nahmen an ein paar AA-Meetings teil und lehnten
das Programm zunächst ab. Aber auch von diesen kamen zahlreiche,
ungefähr zwei von dreien, im Laufe der Zeit wieder zurück.

Ein weiterer Grund dafür, daß die AA-Gemeinschaft so weithin
angenommen wurde, war die Hilfe unserer Freunde - der Freunde aus
dem Bereich der Medizin, der Religion, der Presse, zusammen mit
zahllosen anderen, die unsere sachkundigen ständigen Fürsprecher
wurden. Ohne eine solche Unterstützung hätte die Gemeinschaft
sich viel langsamer entwickelt. Im Anhang dieses Buches findet
man manche Empfehlungen von jenen frühen medizinischen und
theologischen Freunden der Anonymen Alkoholiker.

Die AA-Gemeinschaft ist keine religiöse Organisation. Auch nehmen
wir keinen speziellen medizinischen Standpunkt ein. Trotzdem
arbeiten wir mit den Männern der Medizin und Religion eng zusam-
men.

Da der Alkoholismus jeden ohne Ansehen seiner Person befallen
kann, stellen unsere Mitglieder einen genauen Querschnitt durch
die Bevölkerung von Amerika dar; und derselbe Prozeß geht nun
auch in fernen Ländern vor sich. Nach der Religionszugehörigkeit
haben wir unter uns: Katholiken, Protestanten, Juden, Hindus und
-in geringer Zahl- auch Moslems und Buddhisten. Mehr als 15
Prozent unserer Mitglieder sind Frauen.

Unsere Mitgliederzahlen wachsen gegenwärtig in jedem Jahr um etwa
sieben Prozent. Angesichts der Not von vielen Millionen
tatsächlicher und möglicher Alkoholiker in der Welt ist unser
Wirken von relativ geringem Einfluß. Aller Wahrscheinlichkeit
nach werden wir auch nie in der Lage sein, uns mit mehr als nur
einem Bruchteil des gesamten Alkoholproblems in allen seinen
Verzweigungen zu befassen. Ganz gewiß beanspruchen wir kein
Monopol auf die eigentliche Therapie des Alkoholikers. Doch
erfüllt uns die große Hoffnung, daß alle diejenigen, die bisher
noch keine Lösung ihres Alkoholproblems gefunden haben, auf den
Seiten dieses Buches vielleicht eine Antwort finden und daß sie
sich uns auf dem Höhenweg zu einer neuen Freiheit anschließen
mögen.
Vorwort zur dritten Auflage des
amerikanischen Buches
Als diese Ausgabe im März 1976 in die Druckerei ging, zählte die
Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker vorsichtig geschätzt welt-
weit über eine Million Mitglieder, mit über 28 000
Meetingsgruppen, 1980 mehr als 33 000, in über 90 Ländern.
Umfragen unter AA-Gruppen in den Vereinigten Staaten und in
Kanada haben ergeben, daß es in der Gemeinschaft der Anonymen
Alkoholiker nicht nur mehr Mitglieder gibt, sondern daß sich die
AA immer mehr verbreitet. Frauen stellen jetzt mehr als ein
Viertel der Mitglieder. Unter den neuen Mitgliedern liegt der
Anteil der Frauen bei einem Drittel. Sieben Prozent -das ergab
die Umfrage- sind unter dreißig Jahre alt, viele davon unter
zwanzig. 1980 stellten die Frauen ein Drittel der Mitglieder; elf
Prozent waren unter dreißig Jahre alt.
Die Grundsätze des AA-Programms, so scheint es, gelten für Men-
schen mit den unterschiedlichsten Lebensarten, hat doch das Pro-
gramm Genesung für Angehörige der verschiedensten Nationalitäten
gebracht. Die Zwölf Schritte, sie sind die Zusammenfassung des
Programms, können in einem Land "Doce Pasos", im anderen "Douze
Etapes" heißen, sie folgen jedoch dem gleichen Pfad zur Genesung,
der von den ersten Mitgliedern der Anonymen Alkoholiker markiert
worden ist.
Ungeachtet des großen Wachstums und der Spannweite der Gemein-
schaft, ist das Programm in seinem Kern einfach und persönlich.
Alle Tage, überall in der Welt, beginnt die Genesung des einen
Alkoholikers durch das Gespräch mit einem anderen Alkoholiker,
indem die Erfahrung, die Kraft und die Hoffnung geteilt wird.
Die Meinung des Arztes
Wir Anonymen Alkoholiker glauben, daß der Leser interessiert sein
wird zu erfahren, wie die Medizin den Genesungsplan einschätzt,
der in diesem Buch dargestellt wird. Ganz gewiß muß eine überzeu-
gende Beurteilung von seiten jener Ärzte kommen, die ihre Erfah-
rung mit den Leiden unserer Mitglieder gemacht und deren Rückkehr
zu einem gesunden Leben beobachtet haben. Ein wohlbekannter Arzt,
Direktor an einem in Amerika weithin bekannten Krankenhaus, das
sich auf Alkohol- und Rauschgiftsüchtige spezialisiert, richtete
an Anonyme Alkoholiker den folgenden Brief:
 

An jeden, den es betrifft:
"Seit vielen Jahren habe ich mich auf die Behandlung des Alkoho-
lismus spezialisiert.
Gegen Ende 1934 behandelte ich einen Patienten, der zwar einst
ein erfolgreicher Geschäftsmann mit hoher Erwerbskraft gewesen,
aber nun zum Alkoholiker von dem Typ geworden war, den ich als
hoffnungslos zu betrachten pflegte.
Im Verlauf seiner dritten Behandlung machte er sich gewisse Vor-
stellungen davon, durch welche Mittel man möglicherweise zur
Genesung gelangen könnte. Es war ein Teil seiner eigenen Wieder-
herstellung, daß er damit begann, seine Auffassung anderen
Alkoholikern mitzuteilen, und ihnen einprägte, sie müßten dies
genauso wieder mit anderen machen. Daraus ist das Fundament einer
rapide wachsenden Gemeinschaft zwischen diesen Männern und ihren
Familien geworden. Es sieht so aus, als ob dieser Mann und mehr
als hundert andere wirklich genesen sind.
Ich persönlich weiß um eine große Zahl von Fällen dieser Art, bei
der andere Methoden völlig versagt hatten.
Diese Tatsachen scheinen mir für die Medizin äußerst wichtig zu
sein. Wegen der außerordentlichen Möglichkeiten zu einem raschen
Wachsen, die in dieser Gruppe liegen, könnte sie eine neue Epoche
in den Annalen des Alkoholismus bedeuten. Es könnte sehr wohl
sein, daß diese Leute einen Weg zur Genesung für Tausende besit-
zen, die sich in der gleichen Situation befinden.
Man kann sich absolut auf all das verlassen, was sie über sich
selbst aussagen."
Ihr ergebener
gez. William D. Silkworth, M.D.

Der Arzt, der uns auf unsere Bitten diesen Brief gab, hatte die
Freundlichkeit, seine Absichten in einem anderen Dokument weiter
auszuführen, das hier folgt. Er bestätigte in dieser Darstellung,
daß wir, die unter den Qualen des Alkoholismus gelitten haben,
davon überzeugt sein müssen, daß die körperliche Verfassung des
Alkoholikers genauso anomal ist wie seine geistige. Wir waren
damit nicht zufrieden, daß man uns sagte, wir könnten deshalb
unser Trinken nicht beherrschen, weil wir uns nicht richtig an
unsere Lebensverhältnisse anpassen könnten, daß wir immer auf der
Flucht vor der Wirklichkeit des Lebens seien oder daß wir an
ausgesprochenen seelischen Defekten litten. Diese Dinge waren bis
zu einem gewissen Grad -tatsächlich sogar bis zu einem
beträchtlichen Grad- bei manchen von uns wahr. Wir waren aber
auch davon überzeugt, daß unser Körper von der Krankheit
gleichfalls betroffen war. Nach unserer Überzeugung ist jede
Darstellung des Alkoholikers, die diesen körperlichen Aspekt
außer acht läßt, unvollständig.

Die Theorie des Arztes, daß wir an einer Allergie gegenüber dem
Alkohol leiden, interessiert uns. Da wir Laien sind, mag unsere
Auffassung von der Richtigkeit dieser Theorie natürlich wenig
Bedeutung haben. Als ehemalige Problemtrinker können wir aber
sagen, daß diese Erklärung uns sinnvoll erscheint. Sie gibt uns
für viele Dinge eine Deutung, für die wir anders keine Begründung
finden könnten.

Obwohl unsere Lösung auf der Ebene des Seelischen und der
Uneigennützigkeit liegt, sind wir doch dafür, daß der
Alkoholiker, der noch zittrig und verwirrt ist, in ein
Krankenhaus aufgenommen wird. In den allermeisten Fällen ist es
notwendig, daß das Gehirn eines Menschen erst wieder klar gemacht
wird, bevor man sich ihm nähern kann. Die Aussichten, daß er
versteht und annimmt, was wir ihm anbieten, sind dann viel
größer.

Der Arzt schreibt:
"Das Thema, das in diesem Buch dargestellt wird, scheint mir für
die, welche unter der Alkoholsucht leiden, von allerhöchster
Bedeutung zu sein.
Ich sage das nach einer vieljährigen Erfahrung als der medizi-
nische Direktor eines der ältesten Krankenhäuser des Landes, das
Alkohol- und Rauschgiftsüchtige behandelt.
Ich empfand darum eine wirkliche Genugtuung, als ich gebeten
wurde, einige Worte über einen Gegenstand beizufügen, der in so
meisterhafter und eingehender Weise auf diesen Seiten behandelt
wird. Wir Ärzte haben schon seit langer Zeit erkannt, daß eine
Art moralischer Psychologie für die Alkoholiker von drängender
Wichtigkeit war. Diese Anwendung brachte aber Schwierigkeiten mit
sich, die zu überwinden weit über unser Vermögen ging. Mit
unseren ultra-modernen Ausrüstungen und unserer
wissenschaftlichen Einstellung allem gegenüber sind wir
vielleicht nicht gut genug ausgerüstet, die Mächte des Guten
anzuwenden, die außerhalb erlernter Erkenntnisse liegen.
Vor vielen Jahren kam einer der maßgeblichen Mitverfasser dieses
Buches in dieses Krankenhaus und in unsere Behandlung. Während der
Zeit, da er hier war, gewann er einige Auffassungen, die er dann
sofort praktisch zur Anwendung brachte.
Später bat er dann um die Erlaubnis, daß er hier anderen Patienten
seine Geschichte erzählen durfte. Trotz einiger Bedenken haben wir
unsere Zustimmung dazu gegeben. Die Fälle, die wir dann weiter
verfolgt haben, waren außerordentlich interessant. Manche von ihnen
waren tatsächlich erstaunlich. Für jemand, der so lang und mühsam
auf dem Gebiet des Alkoholismus gearbeitet hat, sind dies wahrhaft
begeisternde Dinge: die Selbstlosigkeit dieser Männern, die wir
dabei beobachten konnten, das völlige Fehlen eines eigennützigen
Beweggrundes und ihr Gemeinschaftsgeist. Sie glauben an ihre
Sache, mehr aber noch an jene Macht, die einen chronischen
Alkoholiker von den Pforten des Todes zurück reißen kann.
Natürlich muß man einen Alkoholiker zuerst von seiner körperlichen
Sucht nach dem berauschenden Getränk befreien. Das erfordert oft
eine systematische Krankenhausbehandlung, ehe er von
psychologischen Maßnahmen den größtmöglichen Nutzen haben kann. Wir
glauben -und wir haben dies auch vor einigen Jahren als Vermutung
vorgetragen- daß die Wirkung des Alkohols bei diesen chronischen
Alkoholikern eine Allergie auslöst; denn das Phänomen der Sucht ist
auf diese Gruppe begrenzt und kommt beim durchschnittlichen
maßvollen Trinker nie vor. Diese allergischen Typen können niemals
mehr Alkohol in irgendeiner Form ohne Gefahr zu sich nehmen. Wenn
sich die Gewohnheit bei ihnen erst einmal herausgebildet hat und
wenn offenbar geworden ist, daß sie nicht aufhören können, wenn sie
ihr Vertrauen zu sich und den Mitmenschen verloren haben, dann
häufen sich die Probleme und werden in erschreckendem Maße immer
unlösbarer.
Wortreiche, aber inhaltsarme Appelle richten da selten etwas aus.
Wenn man etwas sagen will, was das Interesse dieser Alkoholiker
wecken und wachhalten soll, dann muß es Tiefe und Gewicht haben.
Wenn die Alkoholiker ihr Leben völlig umkrempeln sollen, dann
müssen ihre Ideale in den allermeisten Fällen in einer Macht
wurzeln, die größer ist als sie selbst.
Sollte jemand das Gefühl haben, daß wir Psychiater, die ein Kran-
kenhaus für Alkoholiker zu leiten haben, mit einer solchen Äußerung
sentimental erscheinen, dann möge er einmal eine Zeitlang mit uns
vorn an der Front stehen, sich die Tragödien, die verzweifelten
Frauen und die kleinen Kinder anschauen. Die Überwindung dieser
Nöte sollte für ihn zum Teil seiner täglichen Arbeit werden und ihm
auch in der Nacht noch seinen Schlaf rauben. Dann wird sich auch
der zynischste Kritiker nicht mehr darüber wundern, daß wir diese
Gemeinschaft angenommen und ermutigt haben. Langjährige Erfahrung
bestärkt uns in der Ansicht, daß nichts zur Rehabilitation dieser
Männer in höherem Maße beigetragen hat als die selbstlose Bewegung,
die jetzt unter ihnen selbst im Wachsen begriffen ist.
Die Wirkung, die der Alkohol hervorruft, ist für Männer und Frauen
der wesentliche Grund zum Trinken. Obwohl sie zugeben, daß sie sich
schaden, ist die vom Alkohol beeinflußte Wahrnehmung so vage, daß
nach einer gewissen Zeit Wahres von Falschem nicht mehr
unterschieden werden kann. Für diese Männer und Frauen erscheint
dann ihr alkoholisches Leben allein als das normale.

Sie sind ruhelos, reizbar, unzufrieden, bis sie erneut das Gefühl
von Erleichterung und Behaglichkeit bekommen, das sofort nach
einigen Gläsern Alkohol über sie kommt - Alkohol, den sie andere
Menschen völlig ungestraft zu sich nehmen sehen. Nachdem sie aber
wieder, wie so viele Alkoholiker, diesem Begehren erlegen sind und
in dem Maße, wie sich in ihnen die Erscheinungsform der Sucht
entwickelt- gehen sie durch die bekannten Stadien einer Sauftour
hindurch, aus der sie dann voller Reue wieder auftauchen mit dem
festen Entschluß, nie wieder zu trinken. Das wiederholt sich nun
immer und immer wieder. Und wenn ein solcher Mensch dann nicht
die Erfahrung einer völligen psychischen Umwandlung machen kann,
besteht sehr wenig Hoffnung darauf, daß er zur Genesung kommt.
Andererseits findet sich -so seltsam dieser Vorgang denen er
scheint, die ihn nicht verstehen- genau dieselbe Person, die
völlig verloren zu sein schien, die so viele Probleme hatte, daß
sie daran verzweifelte, sie überhaupt je lösen zu können, sobald
einmal diese psychische Umwandlung stattfand, plötzlich ganz leicht
dazu imstande, ihr Verlangen nach Alkohol zu beherrschen. Die
einzige dazu nötige Anstrengung besteht darin, daß man von ihr das
Befolgen einiger einfacher Regeln verlangt.
Männer haben mich mit ebenso ehrlichem wie verzweifeltem Flehen
bedrängt: "Doktor, ich kann so nicht mehr weitermachen. Ich besitze
alles, was das Leben wertvoll macht. Ich muß mit dem Trinken
aufhören, aber ich bringe es nicht fertig. Sie müssen mir helfen."
Wenn ein Arzt diesem Problem gegenübersteht und wenn er sich selbst
gegenüber ehrlich ist, wie sehr muß er da so oft seine eigene
Unzulänglichkeit fühlen. Und wenn er auch alles hergibt, was er in
sich hat, so ist es doch oft nicht genug. Da merkt man, daß man
etwas mehr als nur die menschliche Kraft braucht, um die
entscheidende psychische Umwandlung zustandezubringen. Obwohl die
Gesamtsumme der Genesungen, die durch psychatrisches Bemühen
bewirkt wird, beträchtlich ist, müssen wir Ärzte doch zugeben, daß
wir auf die Lösung des Gesamtproblems eine noch recht geringe
Einwirkung zustandebringen. Viele Typen von Alkoholikern sprechen
auf die gewöhnliche psychologische Methode nicht an.
Ich stehe nicht auf der Seite derer, die glauben, daß der Alkoho-
lismus ganz und gar ein Problem der verstandesmäßigen Kontrolle
ist. Ich habe viele Patienten gehabt, die zum Beispiel eine ganze
Reihe von Monaten an der Lösung eines bestimmten Problems oder an
einem geschäftlichen Unternehmen gearbeitet hatten, die bis zu
einem gewissen ihnen günstigen Datum in Ordnung gebracht werden
mußten. Sie tranken etwa einen Tag vor diesem Datum ein Glas, und
das Phänomen ihrer Sucht trat wieder so sehr in den Vordergrund und
verdrängte alle anderen Interessen, daß sie die wichtige
Verabredung nicht einhalten konnten. Diese Leute tranken wirklich
nicht, um zu fliehen; sie tranken, um ein Begehren zu überwinden,
das sie mit ihrer verstandesmäßigen Kontrolle nicht beherrschen
konnten.
 

Das Suchtverlangen bringt Menschen in Situationen, in denen sie
bereit sind, eher alles zu opfern, als weiter gegen die Sucht zu
kämpfen.
Die Einteilung der Alkoholiker in bestimmte Klassen scheint höchst
schwierig zu sein und liegt im einzelnen auch außerhalb der Absicht
dieses Buches. Unter Alkoholikern gibt es natürlich die
Psychopathen, die in ihrem Gefühlsleben labil sind. Dieser Typ ist
uns allen bekannt. Sie schwören ständig dem Alkohol
auf ewig ab und quälen sich mit Schuldgefühlen. Sie fassen viele
Entschließungen, sie treffen aber nie eine Entscheidung.
Dann gibt es den Typ des Menschen, der einfach nicht zugeben will,
daß er kein Glas vertragen kann. Er plant immer neue Trinkmethoden.
Er verändert seine Alkoholsorte oder seine Umgebung. Dann gibt es
den Typ, der immer noch meint, er könne ohne Gefahr wieder trinken,
nachdem er eine gewisse Zeit völlig frei vom Alkohol gewesen war.
Und es gibt den manisch depressiven Typ, der von seinen Freunden
vielleicht am wenigsten verstanden wird und über den ein ganzes
Kapitel geschrieben werden könnte. Und dann gibt es wieder jene
Typen, die eigentlich in jeder Beziehung normal sind, wenn man von
der Wirkung absieht, die der Alkohol auf sie ausübt. Oft sind sie
fähige, intelligente und liebenswürdige Menschen.
Sie alle -und noch viele andere- haben ein einziges Symptom mit
einander gemeinsam: Sie können nicht anfangen zu trinken, ohne daß
sie die Erscheinungsform der Sucht entwickeln. Wir haben die
Vermutung ausgesprochen, daß diese Erscheinung der Sucht auf eine
Allergie hinweist, welche diese Leute von den anderen Menschen
unterscheidet und sie zu einer besonderen Gruppe macht. Noch nie
ist diese Veranlagung durch irgendeine Behandlungsart, die mir
bekannt geworden ist, auf die Dauer beseitigt worden. Als die
einzige Abhilfe können wir nur zur vollkommenen Enthaltung vom
Alkohol raten.
Aber diese Feststellung stürzt uns sofort in einen brodelnden
Kessel von Diskussionen. Viel ist für und wider geschrieben worden.
Unter den Ärzten scheint sich jedoch als die allgemeine Meinung
durchgesetzt zu haben, daß der chronische Alkoholismus unheilbar
ist.
Wo aber gibt es eine Lösung? Vielleicht kann ich diese Frage am
besten beantworten, indem ich über eine meiner Erfahrungen
berichte.
Etwa ein Jahr, bevor ich diese Erfahrung machte, wurde uns ein Mann
eingeliefert, den wir wegen chronischem Alkoholismus behandeln
sollten. Er hatte sich nur teilweise von einem Magenbluten erholt
und schien überdies ein Fall von pathologischem geistigen Zerfall
zu sein. Er hatte alles verloren, was das Leben lebenswert macht,
und er lebte sozusagen nur noch, um zu trinken. Er gab das
freimütig zu und glaubte auch selbst, daß es für ihn keine Hoffnung
mehr gab. Nachdem man ihm den Alkohol entzogen hatte, fand man, daß
keine dauernde Schädigung des Gehirns vorlag. Er nahm den
Lebensplan auf sich, der in diesem Buch dargestellt wird. Ein Jahr
später rief er mich an und kündigte seinen Besuch an. Und da hatte
ich ein ganz eigenartiges Erlebnis. Ich erinnerte mich an den Namen
des Mannes und erkannte auch einigermaßen seine Gesichtszüge
wieder. Aber damit hörte auch alle Ähnlichkeit auf. Aus jenem
zitternden, verzweifelten nervösen Wrack war ein neuer Mensch
geworden, der nur so überströmte von Selbstvertrauen und
Zufriedenheit. Ich sprach eine Zeitlang mit ihm. Ich konnte aber
einfach in mir das Gefühl nicht mehr wachrufen, daß ich ihn früher
gekannt hatte. Für mich war er ein Fremder, und als ein solcher
verließ er mich auch. Eine lange Zeit ohne Alkohol lag zwischen
unseren Begegnungen. Wenn ich eine geistige Aufmunterung brauche,
dann denke ich oft an einen anderen Fall, der uns von einem in New
York sehr bekannten Arzt überwiesen worden war. Der Patient hatte
sich seine eigene Diagnose gestellt. Weil er von der
Hoffnungslosigkeit seiner Lage überzeugt war, hatte er sich in einem
verlassenen Schuppen versteckt und war entschlossen, dort zu
sterben. Einige Leute, die nach ihm fahndeten, hatten ihn gerettet
und in einem entsetzlichen Zustand zu mir gebracht. Nachdem er
körperlich wieder hergestellt war, hatte er ein Gespräch mit mir,
in dem er frei heraus sagte, jede Behandlung sei nur eine
Kraftvergeudung, wenn ich ihm nicht die Versicherung geben könne -
was noch nie jemand habe tun können-, daß er in Zukunft die
Willenskraft besitzen werde, seinem Drang zum Trinken zu
widerstehen.
Sein Alkoholproblem war so vielschichtig und seine Depression war
so tief, daß wir fühlten, seine einzige Hoffnung läge nur noch in
dem, was wir damals eine
"moralische Psychologie" nannten; wir zweifelten aber daran, daß
selbst dies eine Wirkung auf ihn ausüben würde.
Immerhin ließ er sich völlig von den Gedanken überzeugen, die in
diesem Buch enthalten sind. Seit einer langen Reihe von Jahren hat
er kein einziges Glas mehr getrunken. Dann und wann sehe ich ihn;
er ist ein Mensch von so feiner Art geworden, wie man sie immer
gern sehen möchte.
So rate ich jedem Alkoholiker ernstlich, dieses Buch durchzulesen.
Er mag als Spötter mit dem Lesen anfangen, vielleicht endet er mit
einem Gebet."
William D. Silkworth, M.D.
Kapitel 1

Bills Geschichte
Auch die Stadt in New England, in die wir jungen Offiziere von
Plattsburg aus verlegt wurden, war vom Kriegstaumel erfaßt. Wir
fühlten uns geschmeichelt, wenn uns angesehene Bürger in ihre
Häuser einluden und uns das Gefühl gaben, Helden zu sein. Hier
spürten wir mitten im Krieg Zuneigung und Anerkennung. Es waren
erhabene Momente, und manchmal waren wir auch richtig ausgelassen
und fröhlich. - Endlich ging das Leben nicht mehr an mir vorbei. In
diesem Drunter und Drüber entdeckte ich den Alkohol. Eindringliche
Warnungen und Vorurteile meiner Familie gegen das Trinken waren
vergessen. - Kurz darauf waren wir auf dem Weg nach Europa. Ich
fühlte mich sehr einsam und wandte mich wieder dem Alkohol zu.
Wir landeten in England. Ich besuchte Winchester Cathedral. Ich war
davon sehr beeindruckt. Als ich draußen herumschlenderte, erweckte
ein Vers auf einem alten Grabstein meine Aufmerksamkeit:

"Hier liegt ein Hampshire Grenadier,
der trank zu Tod sich, ach,
mit zuviel Krügen kühlem Bier.
Gedenken folgt dem Kriegsmann nach, ob ihn der
grimm'ge Tod erschlug durch Kugel oder Krug."

Eine Warnung, die ich in den Wind schlug.
Mit zweiundzwanzig Jahren schon Kriegsveteran, kam ich
schließlich nach Hause. Ich fühlte mich als Führernatur, denn
hatten mir nicht die Männer meiner Einheit gerade das immer wieder
bestätigt? Mit meinem Führungstalent wollte ich an die Spitze
großer Unternehmen kommen, die ich mit sicherem Geschick leiten
würde.
Ich belegte einen Abendkursus in Rechtswissenschaften und bekam
eine Anstellung als Schadenssachbearbeiter in einer
Versicherungsgesellschaft. Das Streben nach Erfolg hatte mich
gepackt. Ich würde der Welt zeigen, wie wichtig ich war. Meine
Arbeit führte mich zur Wall Street, und nach und nach begann ich,
mich für die Börse zu interessieren. Viele verloren Geld - aber
einige wurden auch sehr reich dabei. Warum nicht auch ich? Außer
mit Jura befaßte ich mich jetzt auch mit Wirtschaftswissenschaften.
Da ich schon auf dem Weg zum Alkoholiker war, schaffte ich beinahe
meinen Jurakursus nicht. Bei einer der Abschlußprüfungen war ich so
betrunken, daß ich weder denken noch schreiben konnte. Obwohl ich
noch nicht ständig trank, war meine Frau beunruhigt. In langen
Gesprächen versuchte ich, sie zu beruhigen, indem ich ihr erzählte,
daß geniale Männer ihre besten Einfälle im Suff hatten und so zu
höchsten philosophischen Erkenntnissen gekommen waren.
Als ich den Kursus in Rechtswissenschaft beendet hatte, wußte ich,
daß Jura nichts für mich war. Ich war in das Mahlwerk der Wall
Street geraten. Wirtschafts- und Finanzbosse waren meine Vorbilder.
Aus dieser Verbindung von Suff und Spekulationen begann ich die
Waffe zu schmieden, die sich eines Tages wie ein Bumerang gegen
mich richten und mich kaputtmachen würde. Meine Frau und ich lebten
bescheiden und sparten 1000 Dollar. Wir legten das Geld in
Wertpapieren an, die damals billig und kaum gefragt waren. Meine
Vermutung, daß sie eines Tages im Kurs erheblich steigen würden,
bestätigte sich später. Ich konnte Maklerfreunde jedoch nicht dazu
bewegen, mich loszuschicken, um einen Überblick über Fabriken und
Unternehmen zu gewinnen. Aber meine Frau und ich beschlossen, es
trotzdem zu tun. Nach einer von mir entwickelten Theorie verloren
die meisten Leute ihr Geld an der Börse durch Unkenntnis des
Marktes. Später entdeckte ich noch viele andere Gründe dafür.
Wir gaben unsere Stellungen auf, und ab ging's auf dem Motorrad,
den Beiwagen vollgestopft mit Zelt, Decken, Kleidern zum Wechseln
und drei großen Handbüchern des Finanzmarktes. Unsere Freunde
meinten, man sollte uns auf unseren Geisteszustand untersuchen.
Vielleicht hatten sie recht. Da ich einigen Erfolg beim Spekulieren
gehabt hatte, besaßen wir etwas Geld. Um unser kleines Kapital
nicht angreifen zu müssen, arbeiteten wir einen Monat auf einer
Farm. Für lange Zeit sollte das für mich die letzte ehrliche,
körperliche Arbeit gewesen sein. Wir bereisten den ganzen östlichen
Teil der Vereinigten Staaten in einem Jahr. Am Ende verschafften
mir meine Berichte an die Wall Street dort eine neue Stellung, und
ich hatte ein hohes Spesenkonto zur Verfügung. Ein Termingeschäft
brachte uns in jenem Jahr Gewinn von mehreren tausend Dollar.
In den nächsten paar Jahren flogen mir Geld und Beifall nur so zu.
Ich hatte es geschafft. Das Rascheln der Geldscheine brachte viele
dazu, meinem Beispiel zu folgen. Der Aufschwung der späten
zwanziger Jahre nahm überschäumende Formen an. Alkohol bildete
einen wichtigen Bestandteil meines Lebens. In den Jazzlokalen der
Stadt wurde hitzig debattiert. Jeder warf mit Tausendern nur so um
sich und phantasierte von Millionen. Sollten die Spötter ruhig
spotten, mir war's gleich. Ich machte mich zum Gastgeber von
Schönwetterfreunden.
Mein Trinken nahm ernstere Formen an, ich trank fast den ganzen Tag
und beinahe jeden Abend. Die Vorhaltungen meiner Freunde führten zu
Streit und machten mich zum Einzelgänger. In unserer aufwendigen
Wohnung gab es häßliche Szenen. Meiner Frau war ich nie richtig
untreu geworden. Vor Seitensprüngen bewahrte mich die
Anhänglichkeit zu ihr und meine zeitweilig extreme Trunkenheit. Im
Jahr 1929 packte mich das Goldfieber. Deshalb zogen wir aufs Land.
Für meinen Ehrgeiz, den damals berühmten Golfspieler Walter Hagen
zu schlagen, erwartete ich den Beifall meiner Frau. Aber der
Alkohol holte mich schneller ein, als ich Walter Hagen schlagen
konnte. Das morgendliche Zittern begann. Beim Golfspiel war es
möglich, von morgens bis abends zu trinken. Es machte mir Spaß, auf
dem exklusiven Platz umherzustreifen, der in mir schon solche
Ehrfurcht erweckt hatte, als ich noch ein Junge gewesen war. Meine
Haut nahm die makellose Bräune der Wohlhabenden an. Mit amüsierter
Skepsis beobachtete der örtliche Bankangestellte den regen Ein- und
Ausgang meiner dicken Schecks.
Ganz unerwartet brach im Oktober 1929 an der New Yorker Börse die
Hölle los. Nach einem dieser verteufelten Tage schwankte ich aus
einer Hotelbar in ein Maklerbüro. Es war abends acht Uhr, fünf
Stunden nachdem die Börse geschlossen hatte. Der automatische
Kursanzeiger tickte immer noch. Ich starrte auf einen
Papierstreifen mit der Notierung XYZ 32. Am Morgen waren es noch 52
gewesen. Wie so viele meiner Freunde war auch ich ruiniert. Die
Zeitungen berichteten, daß Menschen von den hohen Dächern der
Finanzburgen in den Tod gesprungen waren. Das widerte mich an. Ich
würde nicht springen. Ich ging in die Bar zurück. Seit 10 Uhr
morgens hatten meine Freunde mehrere Millionen verloren - na und?
Morgen war ein neuer Tag. Beim Trinken kehrte meine alte,
verbissene Entschlossenheit zu gewinnen zurück.
Am nächsten Morgen rief ich einen Freund in Montreal an. Er hatte
genügend Geld übrigbehalten und meinte, es wäre besser, wenn ich
nach Kanada ginge. Im Frühjahr des folgenden Jahres lebten wir
wieder in unserem altgewohnten Stil. Ich fühlte mich wie Napoleon
nach der Rückkehr von Elba. Für mich gab es kein St. Helena. Aber
bald trank ich wieder, und mein großzügiger Freund war gezwungen,
mich fallenzulassen. Diesmal waren wir endgültig pleite.
Wir zogen zu den Eltern meiner Frau. Ich fand Arbeit, die ich
jedoch nach einer Schlägerei mit einem Taxifahrer verlor. Gott sei
dank konnte damals noch
niemand voraussehen, daß ich fünf Jahre lang keinen festen Ar-
beitsplatz haben und genauso lange Zeit kaum nüchtern sein würde.
Meine Frau nahm eine Stellung in einem Kaufhaus an. Wenn sie abends
erschöpft nach Hause kam, fand sie mich betrunken vor. Ich
wurde zum unerwünschten Herumtreiber in den Maklerbüros.
Alkohol war kein Luxus mehr, er wurde zur Notwendigkeit. Zwei bis
drei Flaschen schwarz gebrannter Gin wurden zur Gewohnheit. Kleine
Geschäfte brachten hin und wieder einige hundert Dollar, so daß ich
meine Schulden in den Bars und Lebensmittelgeschäften bezahlen
konnte. So ging es endlos weiter. Ich wachte morgens sehr früh auf
und war dabei von heftigem Zittern geschüttelt. Um überhaupt
frühstücken zu können, brauchte ich erst ein Wasserglas Gin und ein
halbes Dutzend Flaschen Bier. Trotzdem glaubte ich immer noch, die
Situation im Griff zu haben. Es gab aber auch nüchterne Phasen, die
meiner Frau wieder Hoffnung machten.
Nach und nach wurde es schlimmer. Das Haus wurde von Gläubigern
übernommen, meine Schwiegermutter starb, meine Frau und mein
Schwiegervater wurden krank.
Dann bot sich mir eine vielversprechende Gelegenheit, ein Geschäft
zu machen. Die Aktien waren auf dem Tiefstand von 1932, und
irgendwie gelang es mir, eine Käufergruppe zu bilden. Ich sollte
großzügig am Gewinn beteiligt werden. Die guten Chancen verdarb ich
mir durch eine neue Sauftour.
Ich wachte auf. Das mußte ein Ende haben. Ich sah ein, daß ich
nicht mal mehr ein einziges Glas trinken durfte. Ich war restlos
fertig. Früher hatte ich die heiligsten, schriftlichen Versprech-
ungen gemacht. Jetzt aber war meine Frau glücklich darüber, daß es
mir dieses Mal ernst damit war. Es war mir ernst.
Kurz danach kam ich dennoch betrunken nach Hause. Ich hatte mich
nicht dagegen gewehrt. Wo waren meine großen Vorsätze geblieben?
Ich wußte es einfach nicht. Es war mir auch nicht bewußt geworden.
Jemand hatte mir ein Glas zugeschoben, und ich hatte es
ausgetrunken. War ich verrückt? Bei so viel Unüberlegtheit schien
ich nicht weit davon entfernt zu sein.
Ich erneuerte meinen Vorsatz und versuchte es wieder. Nach einiger
Zeit wurde das Selbstvertrauen von Überheblichkeit abgelöst. Ich
konnte über die Schnapsbrennereien lachen. Jetzt wußte ich, worauf
es ankam. Eines Tages betrat ich ein Café, um zu telefonieren.
Plötzlich stand ich an der Bar, ohne zu wissen, wie ich dahin
gekommen bin.
Als mir der Whisky zu Kopf stieg, sagte ich mir, daß ich es das
nächste Mal besser machen würde. Jetzt wollte ich mich erst einmal
besser fühlen und ließ mich vollaufen.
Die Reue, den Schrecken und die Hoffnungslosigkeit am nächsten
Morgen werde ich nie vergessen. Der Mut zu kämpfen war weg. Mein
Hirn raste unkontrolliert, und ich hatte ein schreckliches Gefühl
von drohendem Unheil. Es war noch nicht Tag, und ich wagte kaum,
|über die Straße zu gehen aus Angst, zusammenzubrechen und von einem
Lieferwagen überfahren zu werden. Eine Kneipe, die die ganze Nacht
geöffnet hatte, versorgte mich mit etlichen Glas Bier. Meine
verkrampften Nerven kamen schließlich zur Ruhe. Durch eine
Morgenzeitung erfuhr ich, daß an der Börse wieder der Teufel los
war. In mir auch. Der Börsenmarkt würde sich erholen, ich aber
nicht. Das war hart. Sollte ich Schluß machen? Nein - jetzt nicht.
Ich war wie benebelt. Gin würde das beheben. Zwei Flaschen und -
totales Vergessen.
Körper und Geist sind wunderbare Mechanismen. Sie hielten diese
Qual noch zwei Jahre aus. In meiner schrecklichen morgendlichen
Verfassung vergriff ich mich an dem dünnen Portemonnaie meiner
Frau. Dann stand ich wieder einmal schwankend vor einem offenen
Fenster oder am Medikamentenschrank, in dem Gift war, und ver-
fluchte mich als Schwächling. Durch Ausflüge in die Umgebung
versuchten wir, dieser Situation zu entfliehen. Dann kam die Nacht,
in der meine körperlichen und geistigen Qualen so höllisch waren,
daß ich Angst hatte, durchs geschlossene Fenster zu springen.
Irgendwie schaffte ich es, meine Matratze in ein unteres Stockwerk
zu zerren, um die Gefahr zu verringern, falls ich plötzlich
springen sollte. Ein Arzt kam und gab mir ein starkes
Beruhigungsmittel. Am nächsten Tag nahm ich beides, Gin und
Beruhigungsmittel. Diese Mischung gab mir bald den Rest. Alle
fürchteten um meinen Verstand. Ich auch. Wenn ich trank, konnte ich
wenig oder nichts essen. Ich hatte 40 Pfund Untergewicht. Mein
Schwager ist Arzt. Mit seiner und meiner Mutter Hilfe wurde ich in
ein bekanntes Rehabilitations-Krankenhaus für Alkoholiker gebracht.
Durch eine sogenannte Belladonna-Behandlung wurde mein Hirn wieder
klar. Hydrotherapie und leichte Gymnastik halfen viel. Doch das
Beste war, daß ich einen freundlichen Arzt traf, der mir erklärte,
daß ich zwar selbstsüchtig und leichtsinnig gewesen war, aber auch
ernsthaft krank, körperlich und geistig. Es erleichterte mich
irgendwie, als ich erfuhr, daß Alkoholiker einen erstaunlich
geschwächten Willen haben, wenn es darum geht, gegen Alkohol zu
kämpfen, obwohl dieser Wille in anderer Beziehung oft stark bleibt.
Das erklärte mein unglaubliches Benehmen bei dem verzweifelten
Versuch, mit dem Trinken aufzuhören. Da ich nun wußte, wie es um
mich stand, keimte neue Hoffnung in mir. Drei oder vier Monate
hielt diese Stimmung an. Regelmäßig ging ich in die Stadt und
verdiente sogar etwas Geld. Selbsterkenntnis - das war sicherlich
die Antwort.
Es war nicht die Antwort, denn der gefürchtete Tag kam, an dem ich
wieder trank. Mit meiner moralischen und körperlichen
Gesundheit ging es rapide bergab. Nach kurzer Zeit war ich wieder
im Krankenhaus. Das war das Ende, der Vorhang fiel, so schien es
mir. Meiner besorgten und verzweifelten Frau wurde mitgeteilt, daß
ich innerhalb eines Jahres entweder durch Herzversagen im Delirium
tremens oder durch Gehirnerweichung enden würde. Sie müsse mich
bald entweder dem Totengräber oder der Irrenanstalt überlassen.

Mir brauchte man das nicht zu sagen. Ich wußte es und begrüßte
beinahe den Gedanken. Mein Stolz war aufs tiefste verletzt. Ich,
der ich so sehr von mir überzeugt war und von meiner Fähigkeit,
Schwierigkeiten zu überwinden, war
schließlich in die Ecke gedrängt. Nun sollte ich in die Dunkelheit
fallen und mich den endlosen Reihen von Säufern anschließen. Ich
dachte an meine arme Frau. Trotz allem waren wir glücklich gewesen.
Was würde ich nicht alles geben, um wiedergutzumachen! Damit war es
aber jetzt vorbei.
Worte können nicht die Einsamkeit und Verzweiflung wiedergeben, die
ich im tiefen Morast des Selbstmitleids fand. Treibsand war um mich
herum in allen Richtungen. Ich hatte mein Spiel gespielt - und
verloren. Der Alkohol war mein Meister.
Zitternd verließ ich als gebrochener Mann das Krankenhaus. Furcht
ernüchterte mich für kurze Zeit. Dann kam der heimtückische Irrsinn
des ersten Glases, und am "Tag der Armee" 1934 war ich wieder voll
drin. Alle kamen zu der Überzeugung, daß man mich irgendwo
einsperren müsse, oder ich würde elend zugrunde gehen. Wie dunkel
ist es doch vor Tagesanbruch. In Wirklichkeit war das der Anfang
meiner letzten Saufphase. Bald aber sollte ich in das geschleudert
werden, was ich gern als die "vierte Dimension" des Daseins
bezeichne. Ich sollte Glück, Frieden und eigene Nützlichkeit
kennenlernen in einem neuen Leben, das mit fortschreitender Zeit
immer schöner wird.
Und das geschah so: Gegen Ende des tristen Novembers saß ich in
meiner Küche und trank. Mit einer gewissen Befriedigung dachte ich
daran, daß genug Gin im Hause versteckt war, um mich durch die
Nacht und über den nächsten Tag zu bringen. Meine Frau arbeitete.
Ich überlegte, ob ich es wagen konnte, eine Flasche Gin am Kopfende
unseres Bettes zu verstecken. Vor Tagesanbruch würde ich sie
brauchen.
Meine Überlegungen wurden durch das Telefon unterbrochen. Mit
munterer Stimme fragte ein alter Schulfreund, ob er mal rüber
kommen könne. Er war nüchtern. Soweit ich mich erinnern konnte, lag
es Jahre zurück, daß er in diesem Zustand nach New York gekommen
war. Ich war überrascht. Gerüchten zufolge hatte man ihn wegen
alkoholischen Irrsinns in eine Klinik eingewiesen. Ich fragte mich,
wie er da hatte herauskommen können. Sicher würde er
zu Abend essen, und dann könnte ich ganz offen mit ihm trinken. Ohne
Rücksicht auf sein Wohlergehen dachte ich nur daran, den Geist
früherer Tage heraufzubeschwören. Als Krönung einer Sauftour hatten
wir einmal sogar ein Flugzeug gechartert. Sein Kommen war wie eine
Oase in dieser trostlosen Wüste sinnlosen Lebens. Das war es - eine
Oase! Säufer sind so.
Die Tür ging auf, er stand da, frisch rasiert und strahlend. Da war
etwas in seinem Blick. Er war auf unerklärliche Weise verändert.
Was war geschehen?

Ich schob ihm einen Drink zu. Er lehnte ihn ab. Enttäuscht, aber
neugierig überlegte ich, was mit dem Kerl geschehen war. Er war
nicht mehr er selbst. "Komm, was soll das alles?", fragte ich mit
Nachdruck. Er schaute mich offen an. Lächelnd sagte er einfach:
"Ich habe meinen Glauben gefunden."
Ich war bestürzt. Das war es also. Im vergangenen Sommer ein
alkoholischer Spinner und jetzt ein leicht spinnender
Glaubensbruder, argwöhnte ich. Er hatte diesen verklärten Blick.
Ja, der alte Bursche hatte Feuer gefangen. Lass' ihn schwätzen,
meinen Segen hat er! Außerdem würde mein Gin länger halten als sein
Predigen.
Aber es war kein Geschwätz. Mit einfachen, knappen Worten be-
richtete er, wie zwei Männer vor Gericht erschienen waren und den
Richter dazu gebracht hatten, seinen Einweisungsbeschluß aufzuhe-
ben. Sie hatten von einem einfachen Glaubensgedanken und einem
praktischen, zu Aktivität auffordernden Arbeitsprogramm gesprochen.
Das war vor zwei Monaten, und das Ergebnis war offensichtlich. Es
funktionierte!
Er war gekommen, um seine Erfahrungen an mich weiterzugeben - wenn
ich Wert darauf legte. Ich war wie vor den Kopf geschlagen, aber
dennoch interessiert. Gewiß war ich interessiert. Ich mußte es
sein, denn ich war ohne Hoffnung.
Er sprach stundenlang. Kindheitserinnerungen tauchten in mir auf.
Es war mir, als hörte ich die Stimme des Pfarrers, wenn ich an
stillen Sonntagen weit draußen auf den Hügeln saß. Da war dieser
Vorschlag zu einem Nüchternheitsgelübde, dem ich nie gefolgt war.
Ebenso erinnerte ich mich an den gutmütigen Spott meines Großvaters
über die Geistlichkeit und deren Getue, auch daran, daß er darauf
beharrte, es gäbe wirklich Musik in den Sphären. Gleichzeitig aber
sprach er dem Pfarrer das Recht ab, ihm vorzuschreiben, wie er den
Klängen zu lauschen habe. Ich dachte an die Furchtlosigkeit, mit der
mein Großvater von all diesen Dingen kurz vor seinem Tode
gesprochen hatte. Bei diesen Gedanken, die aus der Vergangenheit
auftauchten, hatte ich einen Kloß im Hals.
Der Kriegstag in der alten Wingerter Cathedral tauchte wieder auf.
Ich hatte immer an eine Macht, größer als ich selbst, geglaubt und
hatte mir oft über diese Dinge Gedanken gemacht. Ich war kein
Atheist. Tatsächlich gibt es nur wenige Atheisten, denn Atheismus
bedeutet blind der seltsamen Theorie zu vertrauen, daß das
Universum aus dem Nichts kommt und ziellos in das Nichts rast. Die
von mir anerkannten geistigen Größen aus der Chemie, der
Astronomie, ja sogar die aus der Abstammungslehre, sprachen von
allumfassenden Gesetzen und Kräften, die am Werk waren. Trotz aller
gegenteiligen Anzeichen gab es bei mir wenig Zweifel, daß eine
machtvolle Absicht und Ordnung allem zugrunde lag. Wie konnte es
ohne Geist und Verstand so genaue und unwandelbare Gesetze geben?
Ich mußte ganz einfach an einen Geist des Universums glauben, der
weder Zeit noch Grenzen kennt. Bis dahin war ich mit meinen
Gedanken gekommen.
Damit hörte die Gemeinsamkeit zwischen der Geistlichkeit, den
Weltreligionen und mir schon auf. Wenn sie von einem Gott sprachen,
der mir nahestand, der ein Gott der Liebe, der übermenschlichen
Stärke und der Wegweisung war, wurde ich verwirrt, und mein Geist
verschloß sich solchen Theorien.
Ich war bereit, zuzugestehen, daß Christus ein großer Mann gewesen
war, in weitem Abstand gefolgt von denjenigen, die ihn für sich
beanspruchen. Seine geistige Lehre hielt ich für ausgezeichnet. Für
mich hatte ich das akzeptiert, was mir paßte und bequem war; den
Rest beachtete ich nicht.
Die Kriege, die Verbrennungen und Grausamkeiten, die durch
Religionsstreitigkeiten entfacht worden waren, machten mich krank.
Mir kamen ehrliche Zweifel, ob die Religionen den Menschen
überhaupt Gutes gebracht hatten. Wenn ich davon ausging, was ich in
Europa und danach gesehen hatte, konnte ich von göttlichem Wirken
zwischen den Menschen nichts spüren. Hier noch von Brüderlichkeit
zu reden, war ein grausamer Witz. Wenn es einen Teufel gab, schien
er der Herr der Welt zu sein, und mich hatte er mit Sicherheit in
seiner Gewalt.
Aber nun saß mein Freund vor mir und erklärte mir geradeheraus, daß
Gott für ihn das getan hatte, was er selbst für sich nicht hatte
tun können. Sein menschlicher Wille hatte versagt. Ärzte hatten ihn
für unheilbar erklärt. Die Gesellschaft war drauf und dran, ihn
einzusperren. Wie ich hatte auch er seine totale Niederlage
eingestanden. Dann war er tatsächlich wieder von den Toten
auferstanden, von einem Abfallhaufen in ein Leben, wie er es besser
nie gekannt hatte.
Kam diese Kraft aus ihm selbst? Offensichtlich nicht. In ihm war
nicht mehr Kraft gewesen als in diesem Augenblick in mir war; und
da war gar keine.

Das haute mich um. Es dämmerte mir, religiöse Menschen könnten
trotz allem recht haben. Hier war etwas im Menschenherzen am Werk,
was Unmögliches möglich machte. In dem Moment wurde meine
Vorstellung von Wundern drastisch verändert: Weg mit dem alten Hut.
Hier saß mir ein Wunder am Küchentisch gegenüber und verkündete
große, gute Neuigkeiten.
Ich sah, daß mein Freund mehr als eine innerliche Wandlung durch
gemacht hatte. Er hatte eine andere Basis. Er wurzelte in neuem
Boden.
Trotz des lebenden Beispiels meines Freundes blieben in mir Reste
meines alten Vorurteils. Das Wort Gott erweckte in mir immer noch
eine Art Antipathie. Dieses Gefühl verstärkte sich bei dem Gedan-
ken, daß es einen mir nahestehenden Gott geben sollte. Mir lag
dieser Gedanke nicht. Für Begriffe wie schöpferische Intelligenz,
allumfassender Geist oder Naturgeist konnte ich mich begeistern,
aber ich widersetzte mich dem Gedanken an einen Herrscher im
Himmel, wie liebevoll seine Herrschaft auch immer sein mochte. Ich
habe seither mit einer Menge von Leuten gesprochen, die früher
genauso empfunden hatten.
Mein Freund machte einen Vorschlag, der mir damals als ein neuer
Gedanke erschien. Er sagte: "Warum suchst du dir nicht deinen
eigenen Begriff von Gott?"

Diese Aufforderung überzeugte mich. Sie ließ den geistigen Eisberg
schmelzen, in dessen Schatten ich viele Jahre gelebt und gezittert
hatte. Schließlich stand ich im Sonnenlicht.
Es kam nur darauf an, bereit zu sein, an eine Macht, größer als ich
selbst, zu glauben. Mehr wurde von mir für meinen Anfang nicht
gefordert. Ich erkannte, daß von hier aus das Wachstum beginnen
konnte. Auf dem Fundament vollständiger Bereitschaft könnte ich das
aufbauen, was ich in meinem Freund sah. Würde ich die Bereitschaft
haben? Selbstverständlich würde ich.
So wurde ich davon überzeugt, daß Gott für uns Menschen da ist,
wenn wir ihn wirklich wollen. Endlich sah ich, fühlte ich, glaubte
ich. Stolz und Vorurteile fielen wie Schuppen von meinen Augen.
Eine neue Welt tat sich auf.
Die wirkliche Bedeutung meines Erlebnisses in der Kathedrale ging
mir plötzlich auf. Für einen kurzen Augenblick hatte ich Gott
gebraucht und gewollt. In mir war eine demütige Bereitschaft, Ihn
bei mir zu haben, und Er kam. Aber bald wurde das Gefühl für
Seine Gegenwart überdeckt durch laute Geschäftigkeit, vor allem in
mir selbst. Und so war es seitdem immer. Wie blind war ich! Den
letzten Alkoholentzug machte ich im Krankenhaus. Die Behandlung
erschien ratsam, denn ich hatte Anzeichen von Delirium tremens.
Dort empfahl ich mich demütig Gott, so wie ich ihn damals verstand,
und bat ihn, mit mir zu tun, was er wolle. Ich vertraute mich
uneingeschränkt seiner Fürsorge und Leitung an. Zum ersten Mal gab
ich zu, daß ich von mir aus nichts war; ohne Ihn war ich
verloren. Schonungslos bekannte ich mich zu meinen Sünden und war
bereit, sie von diesem neugewonnenen Freund mit Stumpf und Stiel
von mir nehmen zu lassen. Seitdem habe ich keinen Alkohol mehr
getrunken.
Mein Schulfreund besuchte mich, und ich vertraute ihm voll meine
Probleme und Mängel an. Wir machten eine Liste von Menschen, die
ich verletzt hatte und gegen die ich Groll hegte. Ich erklärte
meine völlige Bereitwilligkeit, diesen Leuten meine Fehler einzu-
gestehen. Niemals mehr wollte ich sie kritisieren. All diese Dinge
mußte ich nach besten Kräften in Ordnung bringen.
Ich mußte mein Denken im Licht meiner neuen Gotteserkenntnis
überprüfen. Was mir früher als "gesunder Menschenverstand"
erschien, war mir jetzt gar nicht mehr so selbstverständlich. Im
Zweifel würde ich mich ruhig hinsetzen, Ihn nur um Leitung und
Kraft bitten, mich meinen Problemen in Seinem Sinn stellen zu
können. Niemals wollte ich etwas für mich selbst erbitten, es sei
denn, ich könnte damit anderen nützlich sein. Nur so konnte ich
erwarten, etwas zu erhalten. Und das würde in hohem Maße sein. Mein
Freund versprach, ich würde in eine neue Beziehung zu meinem
Schöpfer treten, wenn diese Dinge getan wären. Ich würde die
Grundlagen für eine neue Lebensform erhalten und Antworten auf alle
meine Probleme. Die wesentlichen Voraussetzungen waren: Glaube an
die Macht Gottes, dazu genug Bereitwilligkeit, Ehrlichkeit und
Demut, den Dingen einen neuen Stellenwert zu geben und zu erhalten.
Einfach, aber nicht leicht: Ein Preis mußte bezahlt werden. Das
bedeutete Zerstörung der Ichbezogenheit. Ich muß mich in allem an
den Vater des Lichts wenden, der über uns allen steht.
Das waren revolutionäre und einschneidende Vorschläge, aber in dem
Augenblick, in dem ich sie voll annahm, hatten sie eine
elektrisierende Wirkung. Da war in mir Siegesgefühl, dem Frieden
und Gelassenheit folgten, wie ich es vorher nie gekannt habe. Das
gab mir unendliches Vertrauen. Ich fühlte mich emporgehoben, wie
von einem starken, frischen Bergwind durchweht. Gott offenbart sich
den meisten Menschen zögernd. Aber auf mich war sein Wirken
schlagartig und tiefgreifend.
Für einen Augenblick war ich stark beunruhigt und rief meinen
Freund, den Arzt, um ihn zu fragen, ob ich noch bei Verstand sei.
Er hörte mir erstaunt zu. Schließlich schüttelte er seinen Kopf und
sagte: "Mit dir ist etwas geschehen, was ich nicht verstehe. Aber
bleib nur dabei. Besser so als vorher." - Der gute Doktor hat
später noch viele Menschen erlebt, die solche Erfahrungen gemacht
haben, und er wußte dann, daß es so etwas wirklich gibt. Während
ich im Krankenhaus lag, kam mir der Gedanke, daß es Tausende von
hoffnungslosen Alkoholikern gab, die glücklich darüber wären, das
zu erhalten, was mir so großmütig gegeben worden war. Vielleicht
könnte ich einigen von ihnen helfen. Sie wiederum könnten es
anderen weitergeben.
Mein Freund verwies darauf, wie notwendig es sei, diese Prinzipien
allen meinen persönlichen Angelegenheiten zugrunde zu legen. Dazu
gehörte vorrangig, mit anderen so zusammenzuarbeiten, wie er es mit
mir getan hatte. Glaube ohne Taten sei leblos, sagte er. Wie
einleuchtend und wahr für den Alkoholiker! Wenn ein Alkoholiker es
versäumte, sein geistiges Leben durch Arbeit und selbstlose Hilfe
für andere zu vervollkommnen und zu erweitern, konnte er nicht die
mit Sicherheit vor ihm liegenden Versuchungen und Tiefschläge
überleben. Wenn er nicht in diesem Sinn arbeitet,
wird er bestimmt wieder trinken, und wenn er wieder trinkt, wird er
bestimmt sterben. Deshalb ist der Glaube ohne Taten wirklich tot.
Und das trifft auf uns ganz sicherlich zu.
Meine Frau und ich widmeten uns mit Begeisterung der Aufgabe,
anderen Alkoholikern bei der Lösung ihrer Probleme zu helfen. Das
traf sich gut. Meine alten Geschäftsfreunde blieben nämlich skep-
tisch, so daß ich anderthalb Jahre lang kaum Arbeit fand. Damals
ging es mir nicht besonders gut, Wellen von Selbstmitleid und Groll
überschwemmten mich. Das trieb mich manchmal fast zum Glas zurück.
Bald fand ich heraus: Wenn alle anderen Mittel versagten, konnte
ich den Tag retten, indem ich mich um einen anderen Alkoholiker
kümmerte.
 

Oft bin ich verzweifelt zu meinem alten Krankenhaus gegangen. Wenn
ich mich
dort mit jemanden unterhielt, war ich verblüfft, wie schnell ich
wieder aufgerichtet und auf die Füße gestellt war. Das ist ein
Lebensrezept, das in schwierigen Fällen hilft.
Schnell fanden wir viele Freunde. Es bildete sich eine Gemein-
schaft, und es ist eine wunderbare Sache, daran teilzuhaben. Wir
können uns des Lebens freuen, selbst unter Druck und
Schwierigkeiten. Ich habe Hunderte von Familien gesehen, die ihre
Füße auf diesen Weg gesetzt haben, der wirklich zu einem Ziel
führt. Wir haben gesehen, daß die unmöglichsten häuslichen
Verhältnisse wieder in Ordnung kamen. Streit und Verbitterung aller
Art verschwanden. Ich habe Menschen gesehen, die aus Anstalten
kamen und ihren wichtigen Platz im Leben der Familien und Gemeinden
wieder einnahmen. Geschäftsleute und Akademiker haben ihr Ansehen
wiedergewonnen. Es gibt kaum eine Form von Ärger und Elend, die
wir nicht bewältigt haben. In einer Stadt im Westen und in deren
Umgebung gibt es tausend von uns und unseren Familien. Wir treffen
uns häufig,
so daß Neulinge die Gemeinschaft finden können, die sie suchen. An
diesen zwanglosen Zusammenkünften nehmen oft zwischen fünfzig und
zweihundert Personen teil. An Zahl und Kraft nehmen wir ständig
zu.
Ein Alkoholiker, der noch am Glas hängt, ist kein liebenswertes
Geschöpf. Unser Ringen um sie ist unterschiedlich anstrengend, oft
komisch und manchmal tragisch. Ein armer Kerl beging bei uns zu
Haus Selbstmord. Er konnte oder wollte unsere Art zu leben nicht
begreifen.
Dennoch haben wir viel Freude an allem. Ich vermute, daß mancher
schockiert ist über unsere scheinbare Frivolität und Weltlichkeit.
Dahinter aber verbirgt sich tödlicher Ernst. Der Glaube muß 24
Stunden am Tag in uns und durch uns arbeiten, oder wir kommen um.
Die meisten von uns erkennen, daß wir nicht weiter nach Utopia
suchen müssen. Wir haben es jetzt und hier. Täglich wird aus dem
einfachen Gespräch mit meinem Freund in unserer Küche ein sich
erweiternder Kreis von Friede auf Erden und den Menschen ein
Wohlgefallen.

(Bill W., Mitbegründer der AA-Gemeinschaft,
ist am 24. Januar 1971 gestorben.)

Kapitel 2

Es gibt eine Lösung

Wir Anonymen Alkoholiker kennen Tausende von Männern und Frauen,
die einst genauso hoffnungslos waren wie Bill. Fast alle haben ihre
Gesundheit wieder erlangt. Sie haben das Trinkproblem gelöst.
Wir sind Durchschnitts-Amerikaner. Alle Schichten und viele Berufe
sind bei uns ebenso vertreten wie politische, wirtschaftliche,
soziale und religiöse Richtungen. Wir sind Menschen, die
normalerweise keinen Umgang miteinander hätten. Jedoch besteht
zwischen uns eine Kameradschaft, ein gegenseitiges Wohlwollen und
Verständnis. Das ist unbeschreiblich schön. Wir fühlen uns wie
Passagiere eines Ozeanriesen nach der Rettung aus Seenot, wenn
Verbrüderung, Lebensfreude und Gemeinschaftsgefühl das Schiff
erfüllen, vom Maschinenraum bis zur Kommandobrücke. Im Gegensatz zu
den Schiffspassagieren hört unsere Freude über das Entkommen aus
der Katastrophe nicht auf, wenn wir nachher wieder unsere eigenen
Wege gehen. Das Gefühl, gemeinsam eine Gefahr durchstanden zu
haben, ist ein Teil der Kraft, die uns verbindet. Doch das allein
würde uns nie so zusammengehalten haben, wie wir heute
zusammenstehen .
Für jeden von uns ist es eine unvorstellbare Tatsache, daß wir eine
gemeinsame Lösung gefunden haben. Wir haben einen Weg gefunden,
über den wir uns einig sind und auf dem wir brüderlich vereint und
in voller Harmonie weitergehen. Das ist die gute Nachricht, die
dieses Buch den Menschen bringt, die noch unter Alkoholismus
leiden.
Eine Krankheit dieser Art -wir sind zu der Überzeugung gekommen,
daß es eine Krankheit ist- bezieht unsere Umgebung so mit ein wie
keine andere Krankheit. Hat jemand Krebs, wird er von allen
bemitleidet, und keiner ist verärgert oder verletzt. Nicht so aber
bei der Alkoholkrankheit, denn mit ihr geht eine Vernichtung aller
Dinge einher, die den Wert des Lebens ausmachen. Sie zieht alle mit
herunter, deren Leben mit dem Leidenden verbunden ist. Diese
Krankheit hat in ihrem Gefolge: Mißverständnisse, tiefe
Verärgerung, finanzielle Unsicherheit, angewiderte Freunde und
verärgerte Arbeitgeber. Mitbetroffen sind auch unschuldige Kinder,
unglückliche Frauen und Eltern. Diese Liste läßt sich beliebig
fortsetzen.
Wir hoffen, daß dieses Buch diejenigen informiert und tröstet, die
betroffen sind oder jemals betroffen sein könnten. Davon gibt es
viele.
Hochqualifizierte Psychiater, die mit uns zu tun hatten, waren
manchmal nicht in der Lage, einen Alkoholiker dazu zu bringen,
rückhaltlos über seinen Zustand zu sprechen. Seltsamerweise finden
Ehefrauen, Eltern und nahe Freunde uns Alkoholiker gewöhnlich noch
unzugänglicher als der Psychiater und der Arzt. Der ehemals
süchtige Trinker, der den Ausweg gefunden hat und der gewappnet ist
mit Erkenntnissen über sich selbst, kann im allgemeinen das volle
Vertrauen eines anderen Alkoholikers in wenigen Stunden gewinnen.
Ehe es aber zu einem solchen gegenseitigen Verstehen kommt, ist nur
wenig oder nichts zu erreichen. Derjenige, der auf den Alkoholiker
zugeht, hatte die gleichen Schwierigkeiten und weiß, wovon er
spricht. Aus der ganzen Haltung seines Gesprächspartners erkennt
der Betroffene, daß das der Mann mit der richtigen Antwort ist.
Dieser Mann hat nicht die Einstellung: "Ich bin besser als du!" Er
hat nur den aufrichtigen Wunsch zu helfen. Es sind keine Beiträge
zu zahlen, es werden keine eigennützigen Zwecke verfolgt, es wird
niemandem schön getan, es müssen keine Moralpredigten ertragen
werden. Das sind die wirksamsten Voraussetzungen dafür, daß jemand
aufstehen und wieder leben kann.
Niemand von uns empfindet diese Arbeit als einzige Berufung. Wir
glauben auch nicht, daß wir erfolgreicher wären, wenn wir es täten.
Wir glauben, daß das Aufhören mit dem Trinken nur ein Anfang ist.
Wichtiger ist es, die neuen Grundsätze zu Haus, im Beruf und im
Geschäftsleben anzuwenden. Wir alle verbringen viel
von unserer freien Zeit im Bemühen um andere Alkoholiker, was wir
noch näher beschreiben werden. Nur wenigen ist es möglich, nahezu
ihre gesamte Zeit dieser Aufgabe zu widmen.
Wenn wir auf dem Weg bleiben, den wir beschritten haben, wird
zweifellos viel Gutes erreicht; dennoch ist damit kaum mehr als die
Oberfläche des Problems angekratzt. Diejenigen von uns, die in
großen Städten leben, sind betroffen bei dem Gedanken, daß täglich
Hunderte von Alkoholikern in Vergessenheit geraten. Viele könnten
genesen, wenn sie die Gelegenheit hätten, wie wir sie gehabt haben.
Wie können wir das weitergeben, was uns so bereitwillig gegeben
wurde?
Wir haben beschlossen, anonym ein Buch zu veröffentlichen, in
welchem wir das Problem so darstellen, wie wir es sehen. In diese
Arbeit werden wir unsere gesammelten Erfahrungen und Kenntnisse
einbringen. Wir empfehlen damit ein brauchbares Programm für jeden,
der ein Problem mit dem Trinken hat.
Es ist notwendig, daß medizinische, psychiatrische, gesellschaft
liche und religiöse Fragen diskutiert werden. Dabei sind wir uns
bewußt, daß diese Themen von ihrer Substanz her oft strittig sind.
Nichts würde uns mehr Freude bereiten, als ein Buch zu schreiben,
das keinen Anlaß für Streit und Auseinandersetzungen gibt. Wir
werden unser Bestes tun, dieses Ideal zu verwirklichen. Die meisten
von uns spüren, daß echte Toleranz gegenüber Fehlern und Ansichten
anderer Menschen und die Achtung vor ihren Meinungen eine
Einstellung ist, die uns für andere nützlicher macht. Für uns
Alkoholiker hängt das Leben im wahrsten Sinne des Wortes davon ab,
daß wir ständig an andere Alkoholiker denken und nach Wegen suchen,
ihnen aus der Not zu helfen.
Sie werden sich sicher schon gefragt haben, warum wir alle vom
Trinken schwer krank wurden. Sie sind ohne Zweifel neugierig, wie
und warum wir, trotz gegenteiliger Ansicht von Fachleuten aus einer
hoffnungslosen Erkrankung von Geist und Körper genesen konnten.
Wenn Sie Alkoholiker sind und mit dem Trinkproblem fertig werden
wollen, werden Sie vielleicht fragen: "Was muß ich tun?"
Dieses Buch soll diese Fragen eingehend beantworten. Wir werden
Ihnen erzählen, was wir getan haben. Bevor wir darauf im einzelnen
zu sprechen kommen, wird es gut sein, einige Punkte
zusammenzufassen, so wie wir sie sehen.
Wie oft hat man uns gesagt: "Ich kann Alkohol trinken oder stehen
lassen. Warum kann er es nicht?" "Warum trinkst du nicht wie ein
normaler Mensch oder läßt es ganz?" "Dieser Bursche kann mit
Schnaps nicht umgehen." "Warum versuchst du es nicht mit Bier oder
Wein?" "Laß die Finger von harten Sachen!" "Er muß willensschwach
sein." "Er könnte aufhören, wenn er nur wollte." "Sie ist so ein
nettes Mädchen, ich könnte mir vorstellen, daß er ihretwegen
aufhört." "Der Arzt hat ihm gesagt, wenn er je wieder trinken
würde, wäre das sein Tod, trotzdem ist er schon wieder voll."
Das sind die üblichen Bemerkungen über Trinker, wie wir sie ständig
hören. Hinter solchen Worten steht eine ganze Welt von Unwissenheit
und Unverständnis. Solche Äußerungen können nur von Leuten stammen,
die auf das Problem ganz anders reagieren als wir.

Normal trinkende Menschen haben kaum Schwierigkeiten, den Alkohol
völlig aufzugeben, wenn sie einen guten Grund dafür haben. Sie
können trinken oder es jederzeit lassen.
Dann gibt es noch den bestimmten Typ des harten Trinkers. Seine
Trinkgewohn-
heit kann unter Umständen seine körperliche und geistige Gesundheit
beeinträchtigen. Dadurch kann er ein paar Jahre früher sterben.
Schlechte Gesundheit, große Liebe, eine neue Umgebung oder ein
strenger Arzt können ihn veranlassen, ganz aufzuhören oder nur noch
mäßig zu trinken. Das kann mühsam und schwierig für ihn sein,
vielleicht braucht er dafür sogar ärztliche Hilfe.

Wie aber ist es mit dem echten Alkoholiker? Er mag am Anfang mäßig
trinken. Er kann oder kann auch nicht ein schwerer
Gewohnheitstrinker werden. An einem Punkt seiner Trinkerlaufbahn
jedoch fängt er an, jede Kontrolle über seinen Alkoholkonsum zu
verlieren, sobald er zu trinken beginnt.
Das ist der Bursche, der Ihnen durch seinen Kontrollverlust Rätsel
aufgibt. In seinem Rausch treibt er alberne, unglaubliche und
tragische Dinge. Einen leichten Schwips hat er selten, meistens ist
er mehr oder weniger sinnlos betrunken. Wenn er trinkt, ist er
nicht mehr er selbst. Er mag einer der feinsten Kerle der Welt
sein, doch wenn er nur einen Tag trinkt, wird er oft widerlich oder
gemeingefährlich. Er hat die seltene Gabe, sich genau im falschen
Moment zu betrinken, besonders dann, wenn eine wichtige
Entscheidung getroffen oder eine Verabredung eingehalten werden
muß. Er ist oft sehr vernünftig und in allen Dingen ausgeglichen,
nur nicht, wenn es um Alkohol geht. In dieser Beziehung ist er
unglaublich unehrlich und selbstsüchtig. Er besitzt oft besondere
Fähigkeiten, Fertigkeiten und Begabungen und hat eine
vielversprechende Karriere vor sich. Er benutzt seine Gaben, um
sich und seiner Familie eine vielversprechende Zukunft aufzubauen,
die er dann wieder kaputtmacht durch eine sinnlose Serie von
Besäufnissen. Er geht so betrunken zu Bett, daß er normalerweise
rund um die Uhr schlafen müßte. Aber bereits früh am nächsten
Morgen sucht er wie wild nach der Flasche, die er die Nacht zuvor
irgendwo versteckt hatte. Wenn er es sich leisten kann, hat er im
ganzen Haus Alkoholdepots angelegt, um sicher zu sein, daß ihm
keiner seinen ganzen Vorrat wegnimmt, um ihn in den Ausguß zu
schütten. Wenn sein Zustand schlimmer wird, fängt er an, starke
Beruhigungsmittel zusammen mit Alkohol zu schlucken, um seine
Nerven soweit zu beruhigen, damit er zur Arbeit gehen kann. Dann
kommt der Tag, an dem er es so nicht mehr schafft und an dem er
rund um die Uhr trinkt. Vielleicht geht er zu einem Arzt, der ihm
Morphium oder irgendwelche Beruhigungsmittel gibt, damit er langsam
wieder zu sich finden kann. Von da an taucht er immer wieder in
Krankenhäusern und Sanatorien auf.
Das ist keineswegs ein vollständiges Bild des Alkoholikers. Die
Erscheinungsformen unserer Krankheit sind sehr unterschiedlich. Im
allgemeinen kann man nach dieser Beschreibung einen Alkoholiker
erkennen.
Warum benimmt er sich so? Warum trinkt er dann den ersten Schluck,
wenn hundertfache Erfahrung ihm gezeigt hat, daß ein Glas wieder
einen erneuten Zusammenbruch mit all den begleitenden Leiden und
Erniedrigungen bedeutet? Warum kann er nicht trocken bleiben? Was
ist aus dem gesunden Menschenverstand und der Willenskraft
geworden, die in anderen Dingen manchmal ja noch funktionieren?
Wahrscheinlich wird es auf diese Frage nie eine erschöpfende
Antwort geben. Die Meinungen darüber, warum ein Alkoholiker anders
reagiert als andere Menschen, gehen weit auseinander. Wir wissen
nicht, warum so wenig für ihn getan werden kann, wenn einmal ein
gewisser Punkt erreicht ist. Wir können dieses Rätsel nicht lösen.
Wir wissen, daß der Alkoholiker oft genau wie andere Menschen
reagiert, wenn er nicht trinkt - was er manchmal über Monate oder
Jahre schafft. Wir wissen aber auch, daß in dem Augenblick, in dem
er Alkohol in irgendeiner Form zu sich nimmt, in körperlicher und
geistiger Hinsicht etwas geschieht, das es ihm unmöglich macht
aufzuhören. Die Erfahrungen aller Alkoholiker werden das zur Genüge
bestätigen.
Diese Beobachtungen wären graue Theorie und überflüssig, wenn unser
Freund nie wieder den ersten Schluck trinken würde, mit dem er
diesen schrecklichen Kreislauf in Bewegung setzt. Deshalb sitzt das
Hauptproblem des Alkoholikers in seinem Kopf und weniger in seinem
Körper. Wenn Sie ihn fragen, warum er mit dem letzten Besäufnis
angefangen hat, wird er Ihnen wahrscheinlich
eines seiner hundert Alibis anbieten. Manchmal haben diese
Entschuldigungen eine gewisse Glaubwürdigkeit, aber keine von ihnen
hält wirklich stand, wenn man die Verwüstung betrachtet, die das
Besäufnis eines Alkoholikers anrichtet. Diese Entschuldigungen
hören sich an wie die Philosophie eines Mannes, der sich bei
Kopfweh mit dem Hammer auf den Kopf schlägt, um seine Schmerzen
nicht mehr zu spüren. Wenn Sie einen Alkoholiker auf diese
wackeligen Ausreden aufmerksam machen, wird er entweder alles ins
Lächerliche ziehen oder den Beleidigten spielen und sich weigern,
darüber zu reden.
Hin und wieder wird er die Wahrheit erzählen. So seltsam es klingt,
wahr ist: Er weiß meist genausowenig wie Sie, warum er den ersten
Schluck getrunken hat. Einige Trinker sind mit ihren
Entschuldigungen eine Zeitlang zufrieden. Aber in Wirklichkeit
wissen sie nicht, warum sie wieder trinken. Von dieser Krankheit
gepackt, wissen sie nicht mehr ein noch aus. Besessen glauben sie,
irgendwie, irgendwann das Spiel doch noch zu gewinnen. Oft aber
ahnen sie schon, daß sie am Boden liegen und darauf warten,
ausgezählt zu werden.
Wie wahr das ist, begreifen wenige. Irgendwie spüren ihre Familien
und ihre Freunde, daß diese Trinker abnorm sind, aber jeder wartet
voller Hoffnung auf
den Tag, an dem der Leidende sich aus seiner Lethargie befreit und
seine Willenskraft einsetzt.
Die traurige Wahrheit ist, daß dieser Tag nie kommt, wenn der
Betroffene wirklich Alkoholiker ist. Er hat die Kontrolle verloren.
Jeder Alkoholiker überschreitet irgendwann die Grenze und kommt in
ein Stadium, wo auch der sehnlichste Wunsch, mit dem Trinken
aufzuhören, nichts mehr nützt. Dieser tragische Zustand ist
meistens schon früher erreicht, als allgemein vermutet wird. Es ist
eine Tatsache, daß die meisten Alkoholiker aus noch unbekannten
Gründen keine andere Wahl haben, als zu trinken. Unsere sogenannte
Willenskraft existiert praktisch nicht mehr. Wir sind zu bestimmten
Zeiten beim besten Willen nicht in der Lage, uns die Erinnerung an
Leiden und Demütigungen ins Bewußtsein zurückzurufen, selbst wenn
sie nur eine Woche oder einen Monat zurückliegen. Wir sind ohne
Abwehrkraft gegen das erste Glas. Die Konsequenzen, die auch nur
ein Glas Bier nach sich zieht, lassen uns nicht davor
zurückschrecken, es zu trinken. Wenn solche Gedanken auftauchen,
sind sie nebelhaft und werden nur zu gern von der fadenscheinigen
Vorstellung verdrängt, daß wir uns diesmal so wie andere Leute im
Griff haben werden. Der Instinkt, der uns beispielsweise davon
abhält, unsere Hand auf einen heißen Ofen zu legen, versagt hier
vollkommen.
Der Alkoholiker sagt vielleicht ein bißchen leichtsinnig: "Diesmal
werde ich mich nicht verbrennen - was soll's!" Vielleicht denkt er
sich auch garnichts dabei. Wie oft haben einige von uns auf die
lässige Art angefangen zu trinken und nach dem dritten oder vierten
Glas auf die Theke geklopft und zu sich selbst gesagt: "Mein Gott,
wie konnte ich nur wieder anfangen?" Dieser Gedanke wird sofort
wieder verdrängt durch: "Na gut, nach dem sechsten Glas werde ich
aufhören." oder "Was hat das überhaupt für einen Sinn?" Wenn sich
diese Denkweise in einem Menschen festsetzt, der zum Alkoholiker
veranlagt ist, kann menschliche Hilfe bei ihm kaum noch etwas
ausrichten. Wenn er dann nicht eingesperrt wird, kann er sterben
oder wahnsinnig werden. Legionen von Alkoholikern haben diese
unumstößlichen und häßlichen Tatsachen im Laufe der Geschichte
bestätigt. Ohne die Gnade Gottes, durch die Alkoholiker eine Lösung
ihrer Probleme gefunden haben, wären es noch Tausende solcher
Beispiele mehr, denn viele wollen aufhören, schaffen es aber nicht
allein.
Es gibt eine Lösung. Keinem von uns fiel die Selbsterforschung, der
Abbau unseres Hochmuts, das Bekennen unserer Unzulänglichkeiten
leicht. Aber all das ist nötig, um das Ziel zu erreichen. Wir
sahen, daß diese Methode bei anderen wirkte, und erkannten, daß
unser Leben, wie wir es bisher gelebt hatten, hoffnungslos und
leer war. Wenn wir Menschen trafen, die ihr Problem gelöst hatten,
blieb uns garnichts anderes übrig, als dieses spirituelle
Handwerkszeug aufzuheben, das sie uns vor die Füße gelegt hatten.
Wir haben ein Stück Himmel gefunden und sind in eine neue Dimension
unserer Existzenz gelangt, von der wir noch nicht einmal geträumt
hatten. Es ist doch eine Tatsache, daß wir tiefe und wirkungsvolle
seelische, innerliche Erfahrungen* gemacht haben, die unsere ganze
Einstellung zum Leben, zu unseren Mitmenschen und zu Gottes Weltall
völlig geändert haben. Unser heutiges Dasein basiert auf der
absoluten Gewißheit, daß unser Schöpfer auf eine wunderbare Art den
Weg zu unseren Herzen gefunden hat und in unser Leben eingetreten
ist. Er hat für uns Dinge vollendet, die wir allein nie zustande
gebracht hätten. Wenn Sie ein so schwerkranker Alkoholiker sind,
wie wir es waren, gibt es nach unserer Überzeugung für Sie keine
halbe Lösung mehr. Wir waren da angekommen, wo unser Leben sinnlos
geworden war. Wir hatten den Zustand erreicht, in dem es durch
menschliche Hilfe kein Zurück mehr gab. Uns blieben nur zwei
Möglichkeiten: entweder bis zum bitteren Ende zu gehen und das
Bewußtsein unserer unerträglichen Lage auszulöschen - oder wir
mußten seelische Hilfe annehmen. Das taten wir, weil wir es ehrlich
wünschten und bereit waren, dafür etwas zu tun.
Ein amerikanischer Geschäftsmann - fähig, vernünftig und mit gutem
Charakter - zog jahrelang von einem Sanatorium ins andere. Er hatte
die bekanntesten amerikanischen Psychiater konsultiert. Dann war er
nach Europa gegangen und hatte sich in die Behandlung eines
bekannten Arztes (des Psychiaters Dr. Jung) begeben. Obwohl
Erfahrung den Geschäftsmann skeptisch gemacht hatte, brachte er die
Behandlung voll Vertrauen zu Ende. Sein körperlicher und geistiger
Zustand wurde ungewöhnlich gut. Überdies glaubte er, jetzt ein so
gründliches Wissen über die Vorgänge in seinem Geist zu haben und
die darin verborgenen Quellen zu kennen, daß er einen Rückfall für
undenkbar hielt. Trotzdem war er nach kurzer Zeit wieder betrunken.
Er war wie vor den Kopf gestoßen, daß er sich keine einleuchtende
Erklärung über seinen Rückfall geben konnte.
Er ging wieder zu diesem Arzt zurück, den er bewunderte, und fragte
geradeheraus, warum er nicht gesund werden könne. Vor allem wünsche
er sich, seine Selbstkontrolle wiederzuerlangen. In bezug auf
andere Probleme schien er recht vernünftig und ausgeglichen zu
sein. Über Alkohol jedoch hatte er keinerlei Kontrolle. Wie kam
das?
Er bat den Arzt, ihm die ganze Wahrheit zu sagen. Die Bitte wurde
erfüllt. Nach dem Urteil des Arztes war der Geschäftsmann ein
absolut hoffnungsloser Fall. Er könne seine gesellschaftliche
Stellung nie wieder erlangen. Und wenn er lange leben wolle, müßte
er sich hinter Schloß und Riegel begeben oder einen Leibwächter
engagieren. Das war die Meinung eines großen Arztes. Doch dieser
Mann lebt noch und ist ein freier Mann. Weder braucht er einen
Leibwächter, noch ist er eingesperrt. Er kann überall auf dieser
Welt hingehen, wo andere freie Menschen hingehen, ohne ins Unglück
zu laufen, vorausgesetzt, er ist bereit, ein paar einfache
Lebensregeln zu befolgen.
Einige unserer alkoholkranken Leser mögen der Ansicht sein, daß sie
ohne seelische Hilfe auskommen. Laßt uns den Fortgang der
Unterhaltung erzählen, die unser Freund mit seinem Arzt hatte. Der
Arzt sagte ihm: "Sie haben die Geisteshaltung eines chronischen
Alkoholikers. Ich habe noch keinen genesen sehen, bei dem diese
Geisteshaltung schon so weit fortgeschritten war wie bei Ihnen."
Unser Freund hatte das Gefühl, als hätten sich die Tore der Hölle
mit einem Knall hinter ihm geschlossen.

*Vgl. den Anhang "Die seelische Erfahrung."
Er sagte zum Arzt: "Gibt es da keine Ausnahme?"
"Doch", antwortete der Arzt, "auch in Fällen, wie dem Ihren, hat es
seit jeher Ausnahmen gegeben. Hier und dort, ab und zu, hatten
Alkoholiker das, was man eine lebenswichtige, seelisch-innerliche
Erfahrung nennt. Solche Ereignisse waren für mich eine Art Wunder.
Sie treten als gewaltige Gefühlsbewegung und eine Art
Neuorientierung auf. Ideen, Gefühle und Haltungen, die einst die
bestimmenden Kräfte im Leben dieser Menschen waren, werden
plötzlich über Bord geworfen, und völlig neue Vorstellungen und
Beweggründe treten bei ihnen in den Vordergrund. Tatsächlich habe
ich versucht, in Ihnen etwas von solch einer gefühlsmäßigen
Neuorientierung auszulösen. Bei vielen sind die Methoden, die ich
angewandt habe, erfolgreich, aber ich hatte nie Erfolg bei einem
Alkoholiker Ihres Schlages.
Als unser Freund das gehört hatte, war er etwas erleichtert. Er
überlegte sich, daß er immerhin ein gutes Mitglied der Kirche war.
Die darauf gegründete Hoffnung zerstörte ihm der Arzt jedoch, indem
er ihm sagte, daß seine religiösen Überzeugungen zwar gut seien,
sie ihm in diesem Falle aber nicht die nötige, lebenswichtige
seelische Erfahrung vermittelten.
Das war das schreckliche Dilemma, in dem sich unser Freund befand,
als er die außergewöhnliche Erfahrung machte, die wir bereits
geschildert haben und die aus ihm einen freien Mann machte.
Wir selbst suchten mit der Verzweiflung Ertrinkender den gleichen
Ausweg. Was zuerst nur wie ein schwacher Strohhalm aussah, das
erwies sich als liebende und starke Hand Gottes. Ein neues Leben
wurde uns gegeben, oder, wenn Sie so
wollen, "eine neue Lebensperspektive", nach der sich tatsächlich
leben läßt.
Der angesehene amerikanische Psychologe William James beschreibt in
seinem Buch "Vielfalt der religiösen Erfahrungen" eine Anzahl von
Wegen, auf denen Menschen Gott entdeckt haben. Wir wollen niemanden
davon überzeugen, daß nur ein Weg zum Glauben führt. Wenn das, was
wir gelernt, gefühlt und gesehen haben, überhaupt eine Bedeutung
hat, dann diese: Wir alle, gleich welcher Rasse, welchen Glaubens
oder welcher Hautfarbe, sind Kinder eines lebendigen Schöpfers, und
wir können zu ihm auf einfache und leicht verständliche Weise in
Beziehung treten, wenn wir nur bereit und ehrlich genug sind, es zu
versuchen. Jene Menschen, die religiöse Bindungen haben, werden
dabei nichts finden, was ihren Glauben oder ihre Glaubensausübung
stört. Darüber gibt es bei uns keine Meinungsverschiedenheiten.
Wir sind der Meinung, daß es uns nichts angeht, zu welcher Glau
bensrichtung sich jeder einzelne zugehörig fühlt. Das sollte eine
ganz persönliche Angelegenheit sein, die jeder für sich selbst im
Hinblick auf seine früheren Bindungen oder nach seiner heutigen
Wahl entscheidet. Nicht jeder von uns schließt sich einer
Glaubensgemeinschaft an, aber die meisten neigen dazu.
Im folgenden Kapitel wird erklärt, was wir unter Alkoholismus
verstehen. Danach wendet sich ein Kapitel an Agnostiker, von denen
jetzt viele zu uns gehören. Erstaunlicherweise zeigt es sich, daß
eine solche Überzeugung kein großes Hindernis für eine seelische
Erfahrung ist.
Weiter geht es mit klaren Empfehlungen, wie wir gesund wurden.
Später folgen Lebensgeschichten von Alkoholikern. In den
persönlichen Berichten beschreibt jeder einzelne in seiner Sprache
und aus seiner Sicht, wie er seine Verbindung zu Gott fand. Diese
Geschichten ergeben einen Querschnitt unserer Gemeinschaft und
lassen ganz klar erkennen, was sich im Leben jedes einzelnen
ereignete. Wir hoffen, daß niemand an diesen offenherzigen
Selbstbekenntnissen Anstoß nimmt. Wir hoffen, daß viele
alkoholkranke Männer und Frauen, die es dringend brauchen, diese
Seiten in die Hand bekommen. Wir glauben, daß nur eine rückhaltlose
Darstellung unserer selbst und unserer Probleme sie dazu bringt zu
sagen: "Ja, ich bin auch einer von ihnen; das brauche ich."
 
 

Kapitel 3
Mehr über Alkoholismus
Die meisten von uns wollten nicht zugeben, Alkoholiker zu sein.
Keiner mag den Gedanken, sich körperlich und geistig von anderen zu
unterscheiden. Deshalb überrascht es nicht, daß Trinkerkarrieren
von zahllosen vergeblichen Versuchen gekennzeichnet sind, so zu
trinken wie andere Leute. Der Gedanke, irgendwie, irgendwann sein
Trinken kontrollieren und genießen zu können, ist eine fixe Idee
jedes anormalen Trinkers. Es ist erstaunlich, mit welcher
Hartnäckigkeit an dieser Illusion festgehalten wird. Viele bleiben
dabei, bis sie die Schwelle des Irrsinns überschritten oder den Tod
vor Augen haben.
Wir haben gelernt, daß wir in unserem tiefsten Inneren rückhaltlos
zugeben mußten, Alkoholiker zu sein. Das ist der erste Schritt zur
Genesung. Der Wahn, daß wir wie andere sind oder je wieder werden
könnten, muß zerschlagen werden.
Wir Alkoholiker sind Männer und Frauen, die die Fähigkeit verloren
haben, kontrolliert zu trinken. Wir wissen, daß kein Alkoholiker
jemals wieder kontrolliert trinken kann. Wir alle durchlebten
Zeiten, in denen wir meinten, die Kontrolle wieder erlangt zu
haben. Auf solche, meistens kurzen Intervalle folgte unweigerlich
ein noch größerer Kontrollverlust, der nach einiger Zeit zu einem
erbärmlichen, unfaßbaren Verfall führte. Bei uns gibt es keinen
Zweifel, daß Alkoholiker wie wir in der Gewalt einer
fortschreitenden Krankheit sind, die immer schlimmer wird, aber
niemals besser.
Wir sind wie Menschen, die ihre Beine verloren haben; ihnen wachsen
niemals neue. Genausowenig scheint es irgendeine Art der Behandlung
zu geben, die aus Alkoholikern "Normalverbraucher" macht. Wir haben
jede Möglichkeit der Heilung erprobt, die man sich nur vorstellen
kann. In einigen Fällen gab es eine kurzzeitige Besserung, der
immer ein noch schlimmerer Rückfall folgte.
Ärzte, die sich mit dem Alkoholismus auskennen, stimmen in der
Ansicht überein, daß es keine Möglichkeit gibt, aus einem Alkoho
liker einen normalen Trinker zu machen. Vielleicht wird die Wis
senschaft das eines Tages fertigbringen, aber soweit ist es noch
nicht.
Trotz allem, was wir sagen, wollen viele Alkoholiker nicht glauben,
daß es auch auf sie zutrifft. Sie versuchen auf jede nur mögliche
Art der Selbsttäuschung und des Herumexperimentierens sich selbst
zu beweisen, daß sie die Ausnahme von der Regel - und somit keine
Alkoholiker sind. Wenn jemand, der früher nicht kontrolliert
trinken konnte, plötzlich eine Kehrtwendung zustandebringt, und wie
ein Gentleman trinken kann, dann ziehen wir unseren Hut vor ihm.
Der Himmel weiß, wie lange und wie angestrengt wir versucht haben,
so wie andere Leute zu trinken!
Nachfolgend einige der Methoden, die wir ausprobiert haben: Nur
Bier trinken, eine begrenzte Menge trinken, nie allein trinken, nie
frühmorgens trinken, nur zu Hause trinken, nie Alkohol im Haus
haben, nie während der Dienstzeit trinken, nur auf Partys trinken,
von Whisky auf Cognac übergehen, nur Naturwein trinken, bei
Trunkenheit am Arbeitsplatz mit der Kündigung einverstanden sein,
eine Reise unternehmen, keine Reise unternehmen, für immer
abschwören (mit und ohne heiligem Eid), mehr Sport treiben,
spannende Bücher lesen, in ein Entziehungsheim oder in ein
Sanatorium gehen, freiwillig in eine geschlossene Anstalt gehen -
die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.
Wir möchten keinen zum Alkoholiker abstempeln, aber Sie können sich
sehr schnell selbst die Diagnose stellen. Gehen Sie in die nächste
Kneipe und versuchen Sie, kontrolliert zu trinken. Versuchen Sie zu
trinken und ganz plötzlich aufzuhören. Versuchen Sie
es mehr als einmal. Wenn Sie ehrlich zu sich selbst sind, brauchen
Sie nicht lange, um zu wissen, was mit Ihnen los ist. Genaue
Kenntnis Ihres Zustands mag durchaus ein großes Zittern wert sein.
Obwohl es nicht zu beweisen ist, glauben wir, daß die meisten von
uns am Anfang ihrer Trinkerlaufbahn mit dem Trinken hätten aufhören
können. Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, daß bei wenigen
Alkoholikern der Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören, stark genug
ist, wenn es noch Zeit wäre. Wir haben von einigen wenigen Fällen
gehört, in denen Leute, die deutliche Anzeichen von Alkoholismus
zeigten, aufgrund eines übermächtigen Wunsches für eine lange Zeit
mit dem Trinken aufhören konnten. Hier ist so ein Fall:
Ein Mann von dreißig Jahren ging häufig auf Zechtour. Nach solchen
Gelagen war er morgens sehr nervös und beruhigte sich wieder mit
Alkohol. Er war ehrgeizig im Beruf, aber er sah, daß er nichts
erreichen würde, solange er überhaupt noch trank. Wenn er einmal
anfing, verlor er jede Kontrolle. Er beschloß, keinen Tropfen mehr
anzurühren, bis er nach erfolgreichem Geschäftsleben sich zur Ruhe
setzen würde. Ein außergewöhnlicher Mann. Er blieb fünfundzwanzig
Jahre lang knochentrocken und setzte sich im Alter von
fünfundfünfzig nach einer erfolgreichen und befriedigenden Karriere
zur Ruhe. Dann wurde er das Opfer eines Irrglaubens, dem fast jeder
Alkoholiker unterliegt: Eine lange Zeit der Nüchternheit und
Selbstdisziplin würde ihn qualifizieren, wie andere zu trinken. Er
zog die Pantoffeln an und die Flaschen hervor. Nach zwei Monaten
fand er sich im Krankenhaus wieder - verwirrt und gedemütigt.
Danach versuchte er für eine Weile, mit dem Trinken maßzuhalten,
kam aber um einige Krankenhausaufenthalte nicht herum. Mit aller
Kraft versuchte er schließlich, ganz aufzuhören, und stellte fest,
daß er es nicht konnte. Er hatte zur Lösung seines Problems jede
Möglichkeit, die mit Geld zu kaufen war. Jeder Versuch schlug fehl.
Obwohl er zu Beginn seines Ruhestandes ein robuster Mann war,
verfiel er dann schnell und starb nach vier Jahren.
Dieser Fall enthält eine eindringliche Lehre. Die meisten von uns
haben geglaubt, sie könnten wieder normal trinken, wenn sie eine
lange Zeit nüchtern blieben. Aber hier ist ein Mann, der mit
fünfundfünfzig Jahren erfahren mußte, daß er genau dort war, wo er
mit dreißig aufgehört hatte. Immer und immer wieder sehen wir:
Einmal Alkoholiker - immer Alkoholiker! Wenn wir nach einer Zeit
der Nüchternheit wieder mit dem Trinken anfangen, sind wir in
kurzer Zeit wieder so übel dran wie vorher. Wenn wir uns vornehmen,
mit dem Trinken aufzuhören, darf es keinen Vorbehalt geben, und in
keinem Winkel unseres Hinterkopfes darf die Hoffnung lauern, eines
Tages normal trinken zu können.
Die Lebensgeschichte dieses Mannes bringt junge Menschen vielleicht
auf die Idee, daß sie wie er aus eigener Willenskraft aufhören
könnten. Wir zweifeln daran, daß das viele fertigbringen, denn
keiner will wirklich aufhören. Kaum einer wird den Zeitpunkt
erleben, an dem er herausfindet, ob er es geschafft hat, weil er
schon das dem Alkoholiker eigentümliche, verdrehte Denken erworben
hat. In unserer Gruppe gibt es einige, die dreißig Jahre oder noch
jünger sind. Sie hatten nur ein paar Jahre getrunken und waren
trotzdem genauso hilflos wie jene, die zwanzig Jahre lang getrunken
hatten.
Um Alkoholiker zu sein, muß man nicht unbedingt lange und solche
Mengen getrunken haben wie viele von uns. Das trifft vor allem auf
Frauen zu. Oft steigen Frauen mit einer Veranlagung zum
Alkoholismus gleich voll ein und sind in wenigen Jahren in einem
Zustand, aus dem es kein Zurück mehr gibt. Manche Trinker wären
beleidigt, würde man sie als Alkoholiker bezeichnen, und sind
trotzdem erstaunt, wenn sie merken, daß sie mit dem Trinken nicht
aufhören können. Wir erkennen unter den Jugendlichen eine große
Zahl potentieller Alkoholiker, weil wir mit den Symptomen vertraut
sind. Aber versuchen Sie einmal, sie zur Einsicht zu
bringen. *
*Diese Aussage fußt auf den beim Erstdruck des Buches vorliegenden
Erkenntnissen. Nach einer 1977 in den Vereinigten Staaten und in
Kanada durchgeführten Umfrage waren elf Prozent der AA-Mitglieder
unter dreißig Jahre alt.
Wenn wir zurückblicken wird uns klar, daß wir viele Jahre weiter
getrunken hatten, als wir schon über den Punkt hinaus waren, an dem
wir aus eigener Willenskraft hätten aufhören können. Wenn
irgendeiner daran zweifelt, ob er über diesen gefährlichen Punkt
schon hinaus ist, dann lassen Sie ihn versuchen, ein Jahr ohne
Alkohol auszukommen. Sollte er Alkoholiker und seine Krankheit
schon sehr fortgeschritten sein, gibt es kaum eine Erfolgschance.
In den Anfängen unseres Trinkens blieben wir gelegentlich ein Jahr
oder länger nüchtern und wurden danach wieder harte Trinker. Selbst
wenn Sie in der Lage sind, für eine längere Zeit mit dem Trinken
aufzuhören, können Sie ein potentieller Alkoholiker sein. Wir
meinen, daß wenige, an die dieses Buch gerichtet
ist, überhaupt ein Jahr lang trocken bleiben können. Einige werden
noch am selben Tag betrunken sein, an dem sie sich vorgenommen
hatten, nichts zu trinken; die meisten schaffen es vielleicht ein
paar Wochen.
Diejenigen, die nicht kontrolliert trinken können, stehen vor der
Frage, wie man überhaupt aufhört. Wir nehmen selbstverständlich an,
daß der betroffene Leser mit dem Trinken aufhören will. Ob jemand
ohne tiefgreifenden, innerlichen Wandel aufhören kann, hängt davon
ab, wie weit er seine Entscheidungsfähigkeit schon verloren hat.
Vielleicht kann er noch wählen, ob er noch trinken will oder nicht.
Viele von uns glauben, einen starken Charakter zu haben. Da war ein
ungeheuer großes Verlangen, für immer mit dem Trinken aufzuhören.
Es war uns jedoch nicht möglich. Wir kennen dieses rätselhafte
Kennzeichen des Alkoholismus - diese absolute Unfähigkeit, allein
davon loszukommen, wie groß die Notwendigkeit und der Wunsch
aufzuhören auch sein mögen.
Wie können wir unseren Lesern helfen, aus eigener Überzeugung die
Entscheidung zu treffen, ob sie zu uns gehören oder nicht? Der
Versuch, eine gewisse Zeit mit dem Trinken aufzuhören, kann dabei
helfen. Aber wir glauben, daß wir den leidenden Alkoholikern und
vielleicht auch der ganzen medizinischen Zunft eine noch größere
Hilfe anbieten können. Deshalb werden wir einige der geistigen
Zustände beschreiben, die dem Abgleiten ins Trinken vorausgehen,
denn dort scheint offensichtlich die Wurzel des Problems zu liegen.
Was geht in einem Alkoholiker vor, der immer wieder das
hoffnungslose Experiment mit dem ersten Glas wiederholt? Freunde,
die ihn zur Vernunft bringen wollen, sind verblüfft, wenn er
geradewegs in eine Kneipe marschiert, obwohl ihn das letzte
Besäufnis an den Rand der Scheidung oder des Bankrotts gebracht
hatte. Warum macht er das? Was denkt er sich dabei?
Unser erstes Beispiel ist ein Freund, den wir Jim nennen wollen.
Dieser Mann hat eine liebenswerte Frau und eine Familie. Er hatte
eine gutgehende Automobilvertretung geerbt. Er wurde im Ersten
Weltkrieg ausgezeichnet. Er ist ein guter Verkäufer. Jeder mag ihn.
Er ist intelligent und - soweit wir es beurteilen können - normal,
abgesehen von einer nervösen Veranlagung. Bis zu seinem 35.
Lebensjahr trank er keinen Alkohol. Dann begann er zu trinken.
Innerhalb weniger Jahre wurde er, wenn er betrunken war, so
gewalttätig, daß er eingewiesen werden mußte. Als er die Anstalt
verließ, kam er mit uns in Kontakt.
Wir sagten ihm, was wir vom Alkoholismus wußten und welche Lösung
wir gefunden hatten. Er machte einen Anfang. Seine Familie wurde
wieder zusammengeführt, und er fing an, als Verkäufer in dem
Geschäft zu arbeiten, das er durch seine Trinkerei verloren hatte.
Eine Zeitlang ging alles gut. Aber er vernachlässigte sein
seelisches Leben. Zu seiner eigenen Bestürzung war er einige Male
hintereinander wieder betrunken. Jedes Mal arbeiteten wir mit ihm
und untersuchten genau, was sich ereignet hatte. Er gab zu, daß
er wirklich Alkoholiker war und sich in besorgniserregendem Zustand
befand. Er war sich darüber im klaren, daß ihm ein neuer Gang in
die Anstalt bevorstand, wenn er so weiter
machte. Dazu kam, daß er seine Familie verlieren würde, die er
aufrichtig liebte.
Trotzdem betrank er sich wieder. Wir baten ihn, uns genau zu
erzählen, was passiert war. Hier ist die Geschichte: "Am
Dienstagmorgen kam ich zur Arbeit. Ich erinnere mich, daß es mich
störte, für ein Unternehmen Verkäufer sein zu müssen, das mir
einmal gehört hatte. Ich hatte eine kleine Auseinandersetzung mit
dem Chef, es war aber nichts Ernstes. Daraufhin entschloß ich mich,
einen Interessenten für ein Auto zu besuchen. Unterwegs wurde ich
hungrig, also hielt ich an einer Gaststätte. Ich hatte nicht die
Absicht zu trinken. Ich wollte nur ein Sandwich essen. Ich hoffte
auch, hier vielleicht einen Kunden für ein Auto zu finden. Dieses
Lokal war mir seit Jahren bekannt. Während der Monate, in denen ich
nüchtern war, hatte ich dort oft gegessen. Ich setzte mich an einen
Tisch, bestellte einen Sandwich und ein Glas Milch. Immer noch kein
Gedanke an Trinken. Ich bestellte noch einen Sandwich und entschied
mich für ein weiteres Glas Milch.
Plötzlich kam mir der Gedanke, ein Whisky in meiner Milch könnte
mir bei meinem vollen Magen nicht schaden. Ich bestellte einen
Whisky und schüttete ihn in die Milch. Ich hatte das dumpfe Gefühl,
nicht sehr klug zu handeln, beruhigte mich aber damit, daß ich ja
den Whisky auf vollen Magen trank. Der Versuch lief so gut, daß
ich noch einen Whisky bestellte und ihn wieder in die Milch
schüttete. Das schien mir nichts auszumachen, und so versuchte ich
noch einen."
So fing für Jim wieder eine Reise in die Anstalt an. Hier drohte
die Verwahrung und damit der Verlust der Familie und der Stellung.
Ganz zu schweigen davon, wie schlecht es ihm geistig und körperlich
immer nach dem Trinken ging. Er wußte viel über sich selbst als
Alkoholiker. Dennoch wurden alle Gründe für das Nichttrinken
einfach beiseite geschoben zugunsten der verrückten Idee, Whisky
trinken zu können, wenn er ihn nur mit Milch mischte!
Wie man das auch immer definieren will, wir nennen es reinen
Wahnsinn. Wie kann ein solcher Mangel an Selbsteinschätzung, an
Fähigkeit, logisch zu denken, anders genannt werden?
Vielleicht meinen Sie, dies sei ein extremer Fall. Für uns ist das
nicht weit hergeholt, denn diese Art zu denken ist für jeden
einzelnen von uns charakteristisch gewesen. Wir haben manchmal mehr
als Jim über die Konsequenzen nachgedacht. Immer war da dieses
eigenartige, geistige Phänomen: Unser vernünftiges Denken war
automatisch begleitet von einer irrsinnig lächerlichen Ent
schuldigung für den ersten Schluck. Vernunft konnte uns nicht im
Zaume halten. Der Irrsinn siegte. Am nächsten Tag fragten wir uns
ehrlich und allen Ernstes, wie das hatte passieren können.

Bei manchen Gelegenheiten haben wir uns absichtlich betrunken, was
wir mit Nervosität, Ärger, Kummer, Depression, Eifersucht oder
ähnlichen Gründen rechtfertigten. Aber selbst, wenn es so
angefangen hatte, mußten wir nachher zugeben, daß unsere
Rechtfertigung für den Rausch sinnlos und unzureichend war im Licht
dessen, was nachher immer eintrat. Auch wenn wir vorsätzlich und
nicht zufällig zu trinken anfingen - so sehen wir es heute -, fehlt
bei uns jede ernsthafte und nützliche Einsicht in die schrecklichen
Konsequenzen unseres Handelns.
 

Wir verhalten uns beim ersten Schluck so absurd und unverständlich,
wie jemand, der den Tick hat, achtlos über die Straße zu gehen. Für
ihn ist es ein Nervenkitzel, kurz vor einem schnellfahrenden
Fahrzeug beiseite zu springen. Trotz gutgemeinter Warnungen macht
ihm das einige Jahre Freude. Bis zu
diesem Zeitpunkt würde man ihn als Narren bezeichnen, der eine
merkwürdige Auffassung von Spaß hat. Dann verläßt ihn das Glück,
und er wird mehrmals hintereinander leicht verletzt. Wenn er normal
wäre, würde man erwarten, daß er es bleiben läßt. Kurz darauf wird
er wieder angefahren und erleidet diesmal einen Schädelbruch. Kaum
aus dem Krankenhaus, wird er von einer Straßenbahn angefahren und
bricht sich den Arm. Er verspricht, mit seinem irrsinnigen
Verhalten auf der Straße für immer aufzuhören, bricht sich nach ein
paar Wochen beide Beine.
So geht dieser Unsinn jahrelang weiter, begleitet von seinem
Versprechen, vorsichtig zu sein oder die Straße ganz zu meiden.
Schließlich kann er nicht mehr arbeiten, seine Frau läßt sich von
ihm scheiden, und er ist der Lächerlichkeit preisgegeben. Er
versucht alles, um sein irrsinniges Zwangsverhalten auf der Straße
aus dem Kopf zu bekommen. Er läßt sich in eine Anstalt einweisen in
der Hoffnung, dort Besserung zu finden. Am Tag der Entlassung rennt
er vor ein Feuerwehrauto und bricht sich das Kreuz. So ein Mann
wäre verrückt, nicht wahr?
Dieses Beispiel klingt vielleicht zu lächerlich. Aber ist es das
wirklich? Wir, die wir durch die Mangel gedreht worden sind, müssen
zugeben, daß dieses Bild genau auf uns zuträfe, würden wir das oben
beschriebene, irrsinnige Verhalten im Straßenverkehr durch
Alkoholismus ersetzen. So intelligent wir vielleicht in anderer
Beziehung waren - wenn es um Alkohol ging, waren wir auf eine
seltsame Weise verrückt. Das ist eine harte Sprache. Aber ist es
nicht die Wahrheit?
Manche werden denken: "Ja, was Ihr sagt ist wahr, aber es stimmt
nicht ganz. Zugegeben, einige Symptome sind bei uns vorhanden, aber
so extrem weit gegangen wie Ihr sind wir nicht. Wir werden auch
kaum so weit gehen. Nachdem, was Ihr uns gesagt habt, kennen wir
uns so gut, daß solche Dinge nicht wieder vorkommen können. Wir
haben durch unser Trinken nicht alles in unserem Leben verloren.
Wir haben es auch bestimmt nicht vor. Vielen Dank für die
Information!"

Auf einige Nichtalkoholiker mag das alles zutreffen. Die können ihr
Trinken einschränken oder ganz aufhören, auch wenn sie im
Augenblick leichtsinnig und stark trinken. Sie haben geistig und
körperlich noch keinen solchen Schaden erlitten wie wir. Aber der
Alkoholiker oder derjenige, der die Veranlagung dazu hat, wird nie
in der Lage sein, aufgrund von Selbsterkenntnis mit dem Trinken
aufzuhören. Von dieser Regel gibt es kaum eine Ausnahme. Das ist
der Kernpunkt, den wir immer und immer wieder herausstreichen
möchten, um den Alkoholikern unter unseren Lesern einzutrichtern,
was wir durch bittere Erfahrung lernen mußten. Nehmen wir ein
anderes Beispiel.
Fred ist Teilhaber eines Wirtschaftsprüfers. Er hat ein gutes
Einkommen, ein schönes Heim, ist glücklich verheiratet und Vater
von vielversprechenden Kindern im Oberschulalter. Er hat eine solch
gewinnende Persönlichkeit, daß er sich überall Freunde macht. Wenn
es je einen erfolgreichen Geschäftsmann gab, so ist es Fred.
Offensichtlich ist er eine beständige, ausgeglichene
Persönlichkeit. Doch er ist Alkoholiker. Zum ersten Mal sahen wir
Fred vor etwa einem Jahr im Krankenhaus, wo er sich vom "großen
Zittern" erholte. Es war seine erste Erfahrung dieser Art, und er
schämte sich sehr. Er war weit davon entfernt zuzugeben, daß er
Alkoholiker war. Er redete sich ein, ins Krankenhaus gekommen zu
sein, um seine Nerven zu beruhigen. Der Arzt gab ihm ernsthaft zu
verstehen, daß es möglicherweise schlimmer um ihn stand, als er
sich vorstellte. Einige Tage lang war er wegen seines Zustandes
bedrückt. Er entschloß sich, ganz mit dem Trinken aufzuhören. Der
Gedanke, das vielleicht nicht zu schaffen, kam ihm angesichts
seines Charakters und seiner Stellung gar nicht in den Sinn. Fred
wollte es nicht wahrhaben, Alkoholiker zu sein, noch weniger wollte
er zugeben, daß zur Lösung seines Problems ein seelisches
Heilmittel nötig war. Wir erzählten, was wir über Alkoholismus
wußten. Er war interessiert und gab zu, einige dieser Symptome zu
haben. Aber er war weit davon entfernt, sich einzugestehen, daß er
sich nicht selbst helfen konnte. Er war davon überzeugt, daß diese
erniedrigende Erfahrung und sein neuerworbenes Wissen ihn für den
Rest seines Lebens nüchtern halten würden. Selbsterkenntnis würde
alles in Ordnung bringen.
Eine Zeitlang hörten wir nichts mehr von Fred. Eines Tages erzählte
man uns, daß er wieder im Krankenhaus sei. Diesmal war er ganz
schön wacklig. Er ließ uns wissen, daß er uns dringend sehen
wollte. Die Geschichte, die er uns erzählte, war sehr
aufschlußreich. Hier war jemand, der absolut davon überzeugt war,
daß er mit dem Trinken aufhören müsse, jemand, der keine
Entschuldigung für sein Trinken hatte, der glänzendes
Urteilsvermögen und Entschlußkraft in allen sonstigen Dingen an den
Tag legte und der trotzdem wieder flach lag.
Lassen wir ihn selbst erzählen: "Ich war sehr beeindruckt von dem,
was Ihr mir über Alkoholismus gesagt habt, und habe wirklich nicht
daran geglaubt, daß ich jemals wieder trinken würde. Ich konnte
schon Euren Gedanken über diesen spitzfindigen Irrsinn folgen, die
dem ersten Schluck vorausgehen. Ich vertraute aber darauf, daß mir
so etwas nicht passieren könnte nach allem, was ich gelernt hatte.
Ich nahm für mich in Anspruch, noch nicht so weit zu sein, wie die
meisten von Euch. Normalerweise konnte ich meine anderen Probleme
bewältigen. Und deshalb wollte ich auch da erfolgreich sein, wo Ihr
versagt habt. Ich meinte, einen berechtigten Anspruch auf
Selbstvertrauen zu haben, und daß es lediglich eine Frage des
Trainings meiner Willenskraft und meiner Wachsamkeit sei, nicht zu
trinken.
Mit dieser Einstellung ging ich meinen Geschäften nach, und eine
Zeitlang ging alles gut. Ich hatte keine Schwierigkeiten, alkoho
lische Getränke abzulehnen, und machte mir Gedanken darüber, ob ich
nicht einer einfachen Sache zuviel Gewicht beigemessen hatte. Eines
Tages reiste ich nach Washington, um einem Regierungsbüro einen
Rechnungsbericht vorzulegen. Während dieser Zeit der Trockenheit
war ich vorher schon einmal unterwegs gewesen, so daß dies nichts
Neues für mich war. Körperlich fühlte ich mich prima. Ich hatte
auch keine schwerwiegenden Probleme oder Sorgen. Mein Geschäft ging
gut, ich war zufrieden, und meine Partner waren es auch. Der Tag
ging zu Ende ohne Wolke am Horizont.
Ich ging in mein Hotel und zog mich gemächlich zum Essen um. Als
ich die Schwelle des Speisesaals betrat, kam mir der Gedanke, daß
es doch ganz nett wäre, ein paar Cocktails zum Essen zu trinken.
Das war alles. Nichts weiter. Ich bestellte einen Cocktail und mein
Essen. Dann bestellte ich noch einen Cocktail. Nach dem Essen
entschloß ich mich zu einem Spaziergang. Als ich zum Hotel
zurückkehrte, kam mir der Gedanke, daß ein Whisky-Soda vor dem
Zubettgehen nicht schlecht wäre. Also ging ich in die Bar und trank
einen. Ich erinnere mich, in dieser Nacht noch einige mehr
getrunken zu haben und viele mehr am nächsten Morgen. Ich erinnere
mich dunkel, in einem FLugzeug nach New York gesessen und bei der
Landung anstelle meiner Frau einen freundlichen Taxifahrer gefunden
zu haben. Mit dem fuhr ich ein paar Tage herum. Ich weiß kaum,
wohin wir fuhren, was ich sagte und was ich tat. Das nächste, woran
ich mich erinnere, war das Krankenhaus, mit unerträglichen
geistigen und körperlichen Qualen.
Als ich wieder klar denken konnte, rekonstruierte ich den Abend in
Washington sorgfältig. Ich war weder auf der Hut gewesen, noch
hatte ich versucht, gegen das erste Glas anzukämpfen. Diesmal hatte
ich überhaupt nicht an die Konsequenzen gedacht. Ich hatte so
sorglos mit dem Trinken angefangen, als wären die Cocktails
Limonade gewesen. Auf einmal erinnerte ich mich, was meine
Alkoholiker-Freunde mir gesagt und wie sie mir prophezeit hatten,
daß für mich - befangen im alkoholischen Denken - Stunde und Ort
kämen, da ich wieder trinken würde. Man hatte mir gesagt, daß die
Barriere, die ich mir aufgebaut hatte, eines Tages einem unbedeu
tendem Anlaß zum Trinken nicht standhalten würde. Gut, genau das
war passiert; mehr noch, alles, was ich über Alkoholismus gelernt
hatte, war mir überhaupt nicht in den Sinn gekommen. Von diesem
Augenblick an wurde mir mein alkoholisches Denken bewußt. Ich sah
ein, daß Willenskraft und Selbsterkenntnis gegen ein solch merk
würdiges geistiges Vakuum nicht helfen konnten. Ich hatte nie
Verständnis für Leute, die sagten, ein Problem hätte sie hoff
nungslos überwältigt. Jetzt kannte ich das. Es war wie ein Schlag
mit dem Hammer.
Zwei Anonyme Alkoholiker besuchten mich. Sie grinsten, was mir
nicht besonders gefiel, und fragten mich, ob ich mich als Alkoho
liker betrachte und ob es mir dieses Mal wirklich reiche. Ich mußte
beidem zustimmen. Sie überhäuften mich mit Beweisen, daß das
alkoholische Denken, das ich in Washington gezeigt hatte, ein
hoffnungsloser Zustand war. Sie zählten Dutzende von Fällen aus
eigener Erfahrung auf. Der letzte Funke Hoffnung, aus eigener Kraft
nüchtern zu bleiben, wurde dadurch erstickt.
In groben Zügen erläuterten sie mir die spirituelle Lösung und das
praktische Programm, mit dem Hunderte ihr Problem mit Erfolg
angegangen waren. Obgleich ich nur auf dem Papier zu einer Kirche
gehörte, waren ihre Vorschläge vom Verstand her nicht schwer zu
fassen. Das Programm war vernünftig, in der Durchführung aber
ziemlich drastisch. Das hieß, daß ich einige lebenslang gehegte
Auffassungen über Bord werfen mußte. Das war nicht leicht. Als ich
mich entschlossen hatte, das durchzustehen, hatte ich im gleichen
Augenblick das seltsame Gefühl, daß ich nicht mehr so schwer an
meinem Alkoholismus zu tragen hatte. Das hat sich tatsächlich
bewahrheitet.
Genauso wichtig war die Entdeckung, daß die tiefgreifenden spiri
tuellen Grundsätze alle meine Probleme lösen würden. Seitdem bin
ich zu einer zufriedeneren und - wie ich hoffe - auch nützlicheren
Lebensweise gelangt. Meine frühere Lebensart war auf keinen Fall
schlecht, aber die schönsten Augenblicke von damals würde ich nicht
gegen die schlechtesten von heute eintauschen. Ich möchte nicht
dahin zurück, selbst wenn ich könnte.
Die Geschichte von Fred spricht für sich selbst. Wir hoffen, daß
sie bei Tausenden ankommt, denen es so ging wie ihm. Er hatte nur
den Anfang der Talfahrt erlebt. Die meisten Alkoholiker müssen viel
tiefer, bevor sie wirklich anfangen, ihre Probleme zu lösen. Viele
Ärzte und Psychiater stimmen mit unserer Ansicht überein. Einer von
ihnen, Mitarbeiter eines weltbekannten Krankenhauses, gab einigen
von uns folgende Stellungnahme: "Was Ihr über die hoffnungslose
Lage des Durchschnittsalkoholikers sagt, ist meiner Meinung nach
richtig. Was die zwei von Euch betrifft, deren Geschichte ich
gehört habe, so besteht bei mir kein Zweifel, daß es sich
hundertprozentig um hoffnungslose Fälle handelte. Da konnte nur
noch Gott helfen. Wäret Ihr freiwillig zu mir als Patienten in
dieses Krankenhaus gekommen, hätte ich Euch nicht aufgenommen, wenn
ich es hätte verhindern können. Die Lage von Leuten wie Ihr ist
erschütternd. Obwohl ich nicht religiös bin, habe ich größten
Respekt vor der Art, in der Ihr Zugang zu seelischen Dingen
gefunden habt. In den meisten Fällen gibt es tatsächlich keine
andere Lösung."
Um es noch mal zu sagen: Zu gewissen Zeiten hat der Alkoholiker

keinen wirksamen geistigen Schutz gegen das erste Glas. Von wenigen

Fällen abgesehen, kann weder er selbst noch irgendein anderes

menschliches Wesen ihm dazu verhelfen. Dieser Schutz muß von einer

höheren Macht kommen.
 
 
 
 
 
 
 
 

Kapitel 4
Wir Agnostiker
In den vorhergehenden Kapiteln haben Sie einiges über Alkoholismus
erfahren. Wir hoffen, daß wir den Unterschied zwischen einem
Alkoholiker und einem Nichtalkoholiker klargemacht haben. Wenn Sie
feststellen, daß Sie nicht mit dem Trinken aufhören können, obwohl
Sie es aufrichtig wünschen, oder wenn Sie beim Trinken kaum
Kontrolle über die Menge haben, so sind Sie wahrscheinlich
Alkoholiker. Wenn das der Fall ist, leiden Sie möglicherweise unter
einer Krankheit, die nur durch seelische Erfahrung überwunden
werden kann.
Für einen, der sich als Atheist oder Agnostiker fühlt, scheint eine
solche Erfahrung unmöglich zu sein. Wenn er bei dieser Meinung
bleibt, bedeutet das seinen Untergang, besonders wenn er ein
hoffnungsloser Alkoholiker ist. Die Entscheidung zwischen dem
sicheren Tod durch Alkohol und einem Leben auf seelischer Grundlage
ist nicht immer leicht zu treffen.
Aber so schwierig ist das gar nicht. Zu Anfang gehörte etwa die
Hälfte unserer Freunde zu eben dieser Gruppierung. Einige von uns
versuchten zunächst, die Entscheidung zu umgehen. Wider besseres
Wissen hofften wir, keine echten Alkoholiker zu sein. Nach einiger
Zeit mußten wir eine seelische Grundlage finden - oder es war aus.
Wahrscheinlich wird es Ihnen auch so gehen. Kopf hoch. Ungefähr die
Hälfte von uns glaubt, Atheist oder Agnostiker zu sein. Unsere
Erfahrung zeigt, daß Sie nicht zu verzagen brauchen. Wenn lediglich
moralische Richtlinien oder eine bessere Lebensphilosophie genügen
würden, mit dem Alkoholismus fertig zu werden, wären viele von uns
schon lange wieder in Ordnung. Aber wir mußten erkennen, daß solche
Richtlinien und Philosophien uns nicht retten konnten, gleich wie
auch immer wir es versuchten. Wir konnten uns noch so sehr
wünschen, moralisch zu sein und in der Philosophie Trost zu finden,
Tatsache war, wir konnten das mit ganzer Macht wollen, aber die
benötigte Kraft war nicht da. Unsere menschlichen Kraftquellen, vom
Willen beherrscht, reichten nicht aus, sie versagten vollkommen.
Mangel an Kraft, das war unser Dilemma. Wir mußten eine Kraft
finden, durch die wir leben konnten, und es mußte eine Kraft,
größer als wir selbst, sein. Genau das war es. Aber wo und wie
sollten wir diese höhere Macht finden?
Darum geht es in diesem Buch. Sein wichtigstes Anliegen ist, Sie
eine Kraft finden zu lassen, die größer ist als Sie selbst und die
Ihnen hilft, Ihre Probleme zu lösen. Das heißt, wir haben ein Buch
geschrieben, von dem wir annehmen, daß es sowohl einen geistig-
seelischen wie auch einen moralischen Anspruch hat. Und das
bedeutet selbstverständlich auch, daß wir über Gott sprechen
werden. Dabei ergeben sich für die Agnostiker Schwierigkeiten. Oft
sprechen wir mit einem neuen Freund und erleben, wie seine Hoffnung
wächst, während wir über sein Alkoholproblem sprechen und ihm von
unserer Gemeinschaft erzählen. Aber sein Gesicht wird lang, wenn
wir von seelischen Angelegenheiten reden, besonders wenn wir Gott
erwähnen. Wir haben etwas auf den Tisch gebracht, von dem unser
Freund glaubt, er hätte es geschickt umgangen oder völlig
ignoriert.
Wir können es ihm nachfühlen. Auch wir hatten diese ehrlichen
Zweifel und Vorurteile. Einige von uns waren ausgesprochen
antireligiös. In anderen rief das Wort "Gott" eine Vorstellung
wach, mit der jemand versucht hatte, sie während ihrer Kindheit zu
beeindrucken. Vielleicht lehnten wir diese bestimmte Vorstellung
deshalb ab, weil sie uns unzulänglich schien. Wir bildeten uns ein,
daß wir mit dieser Zurückweisung den Gottesgedanken völlig
aufgegeben hätten. Uns beunruhigte die Idee, daß der Glaube und die
Abhängigkeit von einer Macht, größer als wir selbst, etwas
Schwaches, oder gar Feiges wäre. Wir schauten mit tiefem Mißtrauen
auf diese Welt voller streitender
Menschen, sich bekämpfender Glaubensrichtungen und unerklärlichen
Elends. Argwöhnisch betrachteten wir jene, die von sich
behaupteten, gläubig zu sein. Wie konnte ein höheres Wesen
überhaupt mit all dem etwas zu tun haben? Und wer konnte überhaupt
die Existenz eines höheren Wesens begreifen? Aber in bestimmten
Augenblicken, etwa wenn wir von einer sternklaren Nacht beeindruckt
waren, kam uns der Gedanke: "Wer hat das alles geschaffen?" Ein
Gefühl von Ehrfurcht und Staunen überkam uns, aber das war flüchtig
und bald vergessen.
Ja, das waren die Gedanken und Erfahrungen von uns Agnostikern.
Doch wir können Sie schnell beruhigen. Sobald wir die Vorurteile
überwinden und unseren Glauben an eine Macht, größer als wir
selbst, bekennen konnten, kamen wir vorwärts, obwohl es uns allen
unmöglich war, diese Macht, die Gott ist, umfassend zu erklären
oder zu verstehen.
Sehr zu unserer Beruhigung entdeckten wir, daß wir die Vorstellung,
die andere von Gott hatten, nicht zu teilen brauchten. Unsere
eigene Vorstellung, so unzureichend sie auch war, genügte, Ihm
näher zu kommen und eine Verbindung zu Ihm herzustellen. Sobald wir
die mögliche Existenz einer schöpferischen Intelligenz, den Geist
des Universums - als Grundlage aller Dinge - anerkannten,
bemächtigte sich unser ein neues Gefühl der Kraft und Führung,
vorausgesetzt, daß wir auch sonst noch andere einfache Schritte
machten. Wir spürten, daß Gott es denen, die Ihn suchen, nicht zu
schwer macht. Für uns ist die geistige Sphäre weit, unermeßlich,
allumfassend; nicht verboten und nie verschlossen denen, die
aufrichtig danach suchen. Sie ist offen für alle, wie wir glauben.
Wenn wir also mit Ihnen über Gott sprechen, meinen wir Ihre eigene
Vorstellung von Gott. Das trifft auch auf andere religiöse
Ausdrücke in diesem Buch zu. Auch wenn Sie Vorurteile gegen
religiöse Formulierungen haben, lassen Sie sich dadurch nicht davon
abhalten, sich ehrlich zu fragen, was die Begriffe für Sie bedeuten
könnten. Zunächst genügte uns das, um mit dem seelischen Wachstum
zu beginnen. Damit konnten wir unsere erste bewußte Verbindung zu
Gott, wie wir Ihn verstanden, herstellen. Später konnten wir viele
Dinge akzeptieren, die vorher außerhalb unserer Reichweite zu sein
schienen. Das war Wachstum; denn wenn wir wachsen wollten, mußten
wir irgendwo anfangen. So gebrauchten wir unser eigenes Konzept,
wie unvollkommen es auch war.

Wir mußten uns nur eine kurze Frage stellen: "Glaube ich oder bin
ich wenigstens bereit zu glauben, daß es eine Macht gibt, die
größer ist als ich selbst?" Sobald einer von sich sagen kann, daß
er glaubt oder willens ist zu glauben, versichern wir ihm nach
drücklich, daß er auf dem richtigen Weg ist. Es hat sich bei uns
wiederholt erwiesen, daß auf diesem einfachen Grundstein ein
wunderbarer seelischer Aufbau errichtet werden kann.

Das waren großartige Neuigkeiten für uns, denn wir hatten gemeint,
wir könnten uns keine seelischen Grundsätze zu eigen machen, ehe
wir nicht viele Glaubensdinge akzeptierten, die uns unannehmbar
erschienen. Wenn andere uns ihre seelische Entwicklung vorlebten,
wie oft sagten wir dann: "Hätte ich nur das, was dieser Mensch
hat!" Ich bin sicher, es würde klappen, wenn ich so glauben könnte
wie er. Aber ich kann die vielen Glaubensdinge, die für ihn so klar
sind, nicht als volle Wahrheit annehmen. Es war tröstlich zu
erfahren, daß wir auf einer viel einfacheren Ebene anfangen
konnten.
Abgesehen davon, daß wir scheinbar unfähig waren, Glaubensdinge
einfach anzunehmen, standen uns oft Eigensinn, Empfindlichkeit und
unbedachtes Vorurteil im Weg. Viele von uns waren so empfindlich,
daß sogar eine beiläufige Erwähnung religiöser Dinge sie in
Harnisch brachte. Diese Denkweise mußten wir aufgeben. Obwohl sich
einige von uns sträubten, gab es keine großen Schwierigkeiten,
solche Gefühle über Bord zu werfen. Angesichts
dessen, was der Alkohol angerichtet hatte, waren wir bald geistig-
seelischen Dingen gegenüber so aufgeschlossen, wie wir es anderen
Dingen gegenüber schon sein konnten. In dieser Hinsicht war Alkohol
von großer Überzeugungskraft. Er zwang uns schließlich zu
vernünftigem Denken. Manchmal war das ein langwieriger Vorgang; wir
hofften nur, daß kein anderer so lange voller Vorurteile ist, wie
es einige von uns waren.
Der Leser mag immer noch fragen, warum er an eine Macht, größer als
er selbst, glauben soll. Wir meinen, daß es gute Gründe dafür gibt.
Einige davon wollen wir uns mal ansehen.
Der praktische Mensch von heute schwört auf Tatsachen und Ergeb
nisse. Gleichwohl akzeptiert das zwanzigste Jahrhundert
bereitwillig alle möglichen Theorien, wenn sie nur auf Tatsachen
begründet sind. Beispielsweise gibt es zahlreiche Theorien über die
Elektrizität, an denen niemand zweifelt. Warum diese
Bereitwilligkeit? Weil wir nicht erklären können, was geschieht,
wenn wir am Schalter drehen, obwohl wir wahrnehmen, was damit
veranlaßt wird.
Heutzutage vertraut jeder in vieler Hinsicht dem Augenschein, ohne
daß es für alles eines sichtbaren Beweises bedarf. Und zeigt die
Wissenschaft nicht, daß der sichtbare Beweis der schwächste ist?
Ständig zeigt sich bei Erforschung der materiellen Welt, daß der
äußere Anschein nicht der inneren Wirklichkeit entspricht. Dafür
ein Beispiel:
Der einfache Stahlträger besteht aus einer großen Anzahl von
Elektronen, die mit unheimlicher Geschwindigkeit umeinanderwirbeln.
Diese winzigen Körper gehorchen genauen Gesetzen, die für die ganze
materielle Welt gültig sind. Die Wissenschaft lehrt es uns. Wir
haben keinen Grund zu zweifeln. Wenn uns jedoch die vollkommen
logische Annahme präsentiert wird, daß es hinter der materiellen
Welt und dem materiellen Leben, so wie wir es sehen, eine
allmächtige, führende, schöpferische Kraft gibt, meldet sich in uns
sofort Widerspruch. Wir gehen emsig daran, uns zu beweisen, daß es
nicht so ist. Wir lesen dicke Bücher und ergehen uns in windigen
Streitereien in der Annahme, das Universum brauche keinen Gott zu
seiner Erklärung. Wären unsere Behauptungen wahr, würde sich daraus
ergeben, daß das Leben aus dem Nichts entstanden ist, keine
Bedeutung hat und nirgendwohin führt.

Anstatt uns selbst als intelligente Helfer und Mitstreiter von
Gottes nicht endender Schöpfung zu betrachten, wollten wir Agno
stiker und Atheisten glauben, daß unsere menschliche Intelligenz
die Krönung, das A und O, Anfang und Ende von allem war. Ziemlich
großspurig, nicht wahr?
Wir, die wir diesen unsicheren Pfad gegangen sind, bitten Sie, alle
Vorurteile beiseite zu lassen, sogar die gegen die bestehenden
Religionen. Wie auch immer die menschlichen Unzulänglichkeiten der
verschiedenen Religionen sein mögen, aus Erfahrung wissen wir, daß
der Glaube Millionen von Menschen Lebensinhalt gegeben hat.
Gläubige Menschen haben eine schlüssige Vorstellung, worum es im
Leben geht. Wir hatten überhaupt keine. Wir machten uns einen Spaß
daraus, innere Überzeugungen anderer und darauf fußendes Handeln in
spöttischer und höhnischer Weise zu zerpflücken. Dabei haben wir
nicht zur Kenntnis genommen, daß viele seelisch-orientierte
Menschen aller Rassen, Farbe und Bekenntnisse einen Grad von
Stabilität, Zufriedenheit und Nützlichkeit zeigten, den wir selbst
hätten anstreben sollen. Statt dessen sahen wir die menschlichen
Schwächen dieser Leute, und manchmal benutzten wir ihre
Unzulänglichkeiten als Grund zur Pauschalverurteilung. Wir sprachen
von Intoleranz, waren aber selbst intolerant. Uns entging die
Wirklichkeit und Schönheit des Waldes, weil wir uns von der
Häßlichkeit einiger seiner Bäume ablenken ließen. Nie schenkten wir
der seelischen Seite des Lebens ein offenes Ohr.
Wenn wir unsere Lebensgeschichte erzählen, ergibt es sich, daß
wir uns auf unterschiedlichen Wegen dem Glauben an die Macht
genähert haben, die größer ist als wir selbst. Ob uns ein gewisser
Weg oder eine Vorstellung zusagt, macht kaum einen Unterschied. Die
Erfahrung hat uns gelehrt, daß wir nur das Ziel im Auge behalten.
Das sind Fragen, die jeder einzelne für sich selbst
beantworten muß.
In einem jedoch sind sich diese Männer und Frauen auffallend einig.
Jeder einzelne hat Zugang gefunden zu einer Macht, größer als er
selbst, und glaubt an sie. Diese Macht hat in jedem Fall das
Wunderbare, das menschlich Unmögliche vollbracht. Wie es ein
berühmter amerikanischer Staatsmann ausdrückte: "Das Ergebnis
zählt."
Hier ist die Rede von tausenden von Männern und Frauen, die mitten
im Leben stehen. Sie bekennen freimütig, daß sich, seit sie
begonnen haben, an eine höhere Macht zu glauben, seit sie eine
bestimmte Einstellung zu dieser Macht haben und einige ganz
einfache Dinge tun, in ihrer Art zu leben und zu denken ein
grundlegender Wandel vollzogen hat. Zusammenbruch und Verzweiflung
vor Augen und angesichts totalen Verfalls ihres Menschseins fanden
sie eine neue Macht, fanden Frieden, Glück und einen neuen
Lebenssinn. Das geschah bald, nachdem sie ganzen Herzens einige
einfache Bedingungen erfüllt haben. Einst durcheinander und
verwirrt durch die scheinbare Sinnlosigkeit ihrer Existenz, sind
sie heute ein Beweis für die tieferliegenden Gründe, warum sie sich
im Leben so schwer taten. Sie erzählen, warum ihr Leben so
unbefriedigend war, ganz abgesehen vom Trinkproblem. Sie zeigen
auf, wie die Verwandlung über sie gekommen ist. Wenn viele Hunderte
sagen können, daß das Bewußtsein der Gegenwart Gottes heute die
wichtigste Tatsache in ihrem Leben ist, sind sie ein überzeugender
Grund, daß man Glauben haben sollte.
Unsere Welt hat in den letzten hundert Jahren mehr materiellen
Fortschritt gemacht als in den Tausenden von Jahren davor. Die
Gründe dafür sind allgemein bekannt. Historiker, die sich mit der
Geschichte des Altertums beschäftigen, sagen uns, daß die Menschen
jener Tage so intelligent waren wie die Besten von heute. Trotzdem
war der materielle Fortschritt in früherer Zeit äußerst langsam.
Der Geist moderner, wissenschaftlicher Untersuchungen, Forschung
und Erfindung war nahezu unbekannt. Im materiellen Bereich war der
menschliche Geist gefesselt durch Aberglauben, Tradition und
vielerlei fixe Ideen. Zeitgenossen von Columbus war die Vorstellung
einer runden Erde geradezu absurd. Andere wieder hätten Galilei
fast hingerichtet wegen seiner astronomischen Ketzerei.
Wir fragten uns folgendes: Sind nicht einige von uns genauso
voreingenommen und unvernünftig in geistig-seelischen Dingen, wie
es unsere Vorfahren in materiellen Dingen waren? Selbst in diesem
Jahrhundert hatten amerikanische Zeitungen Angst, den Bericht über
den ersten erfolgreichen Flug der Gebrüder Wright bei Kittyhawk zu
drucken. Waren denn nicht alle Flugversuche zuvor fehlgeschlagen?
Landete nicht Professor Langleys Flugmaschine auf dem Grunde des
Potomac-Flusses? War es nicht so, daß die besten mathematischen
Gehirne bewiesen hatten, daß der Mensch niemals würde fliegen
können? Hatten die Menschen nicht gesagt, daß Gott dieses Vorrecht
den Vögeln vorbehalten hätte? Nur dreißig Jahre später war die
Eroberung der Luft fast eine alte Geschichte und waren Flugreisen
eine Selbstverständlichkeit.
Auf den meisten Gebieten hat unsere Generation eine totale
Befreiung des Denkens miterlebt. Zeige einem Hafenarbeiter in der
Sonntagsbeilage einer Zeitung den Artikel über Pläne, den Mond mit
einer Rakete zu erforschen, und er wird sagen: "Ich wette, sie
schaffen es - und vielleicht dauert es auch gar nicht mehr so
lange." Ist es nicht bezeichnend für unser Zeitalter, mit welcher
Leichtigkeit wir alte Ideen gegen neue austauschen, wie schnell wir
bereit sind, unbrauchbar gewordene Theorien und Erfindungen
auszuwechseln gegen neue, die funktionieren?
Wir mußten uns fragen, warum wir bei unseren menschlichen Problemen
nicht die gleiche Bereitschaft aufbringen konnten, unsere Ansicht
zu ändern. Wir hatten Probleme mit zwischenmenschlichen
Beziehungen, wir konnten unsere Gefühlswelt nicht kontrollieren.
Wir waren eine Beute für Trübsal und Depressionen, wir waren nicht
lebenstüchtig, wir hatten ein Gefühl der Nutzlosigkeit, wir waren
voller Furcht, wir waren unglücklich. Es schien, daß wir keine
echte Hilfe für andere Leute sein konnten. War nicht eine
grundsätzliche Lösung dieser heillosen Verwirrungen wichtiger als
ein Filmbericht über den Mondflug? Selbstverständlich.
Als wir sahen, wie andere ihre Probleme durch einfaches Vertrauen
auf den Geist des Universums lösten, mußten wir aufhören, die
Allmacht Gottes zu bezweifeln. Unsere Gedanken versagten, der
Gottesgedanke jedoch nicht.
Der fast kindliche Glaube der Wright-Brüder, eine Maschine bauen zu
können, die fliegt, war die Antriebskraft für das Gelingen. Ohne
diesen Glauben wäre nichts erfolgt. Wir Agnostiker und Atheisten
hielten an dem Gedanken fest, daß wir aus eigener Kraft unsere
Probleme lösen könnten. Als uns andere zeigten, daß die Kraft
Gottes in ihnen wirkte, kamen wir uns wie die Leute vor, die darauf
bestanden hatten, daß die Wrights nie fliegen würden. Logik ist
eine große Sache, uns gefiel sie und gefällt sie noch. Nicht
zufällig wurde uns die Kraft gegegben, logisch zu denken, die
Kraft, die Wahrnehmung unserer Sinne zu überprüfen und Schlüsse zu
ziehen. Das ist eine der großartigsten menschlichen Eigenschaften.
Wir agnostisch Orientierten waren nicht zufrieden mit einer Lehre,
die sich nicht vernünftig begreifen und deuten läßt. Wir haben
deshalb Schwierigkeiten zu erklären, warum wir unseren jetzigen
Glauben für vernünftig halten, warum wir es für vernunftgemäßer und
logischer ansehen, zu glauben als nicht zu glauben, warum wir
sagen, daß unser früheres Denken unklar und verwaschen war, als wir
unsere Hände im Zweifel erhoben und riefen: "Wir wissen es nicht."
Als wir zu Alkoholikern wurden, am Boden zerstört durch eine selbst
herbeigeführte Krise, die wir nicht hinauszögern und der wir nicht
ausweichen konnten, mußten wir uns furchtlos der Frage stellen, ob
Gott alles ist oder ob Er nichts ist. Es gibt einen Gott, oder es
gibt keinen. Welche Entscheidung sollten wir treffen?
An diesem Punkt angekommen, wurden wir unausweichlich vor die
Glaubensfrage gestellt. Wir konnten uns an der Frage nicht mehr
vorbeimogeln. Einige von uns waren bereits auf der Brücke der
Vernunft weit zu dem ersehnten Ufer des Glaubens gegangen. Die
Umrisse und die Verheißung des Neulands brachten Glanz in müde
Augen und frischen Mut in erlahmte Seelen. Freundliche Hände
streckten sich zum Willkommen entgegen. Wir waren dankbar, daß uns
die Vernunft so weit geführt hatte. Aber irgendwie zögerten wir
noch, das Ufer zu betreten. Wahrscheinlich hatten wir uns auf
dieser letzten Meile zu sehr auf die Vernunft verlassen und wollten
nur ungern diese Stütze aufgeben.
Das war nur natürlich. Wir wollten etwas genauer darüber nachden
ken. Waren wir nicht unbewußt durch eine bestimmte Art von Glauben
dorthin gebracht worden, wo wir jetzt standen? Glaubten wir denn
nicht an unsere eigene Urteilskraft? Hatten wir kein Vertrauen in
unsere Fähigkeit zu denken? War das nicht eine Art Glauben? Ja, wir
waren gläubig, kniefällig vor dem Götzen der Vernunft. Wie auch
immer, wir entdeckten, daß der Glaube zu allen Zeiten Bestandteil
unseres Lebens gewesen war.
Wir entdeckten auch, daß wir Götzendiener gewesen waren. Und was
für eine geistige Gänsehaut uns das beschert hatte! Hatten wir
nicht so oder so Menschen, Gefühle, Dinge, Geld und uns selbst
angebetet? Und dann aus edlerem Beweggrund heraus den
Sonnenuntergang, die See oder eine Blume andächtig betrachtet? Wer
von uns hatte nicht irgend etwas oder irgend jemanden geliebt? Was
hatten diese Gefühle, diese Liebe, diese Anbetung
mit reiner Vernunft zu tun? Wenig oder nichts, wie wir endlich
einsahen. War das alles nicht der Stoff, aus dem unser Leben
geschneidert war? Bestimmten diese Gefühle schließlich nicht die
Richtung unseres Daseins? Man konnte unmöglich sagen, wir hätten
keine Fähigkeit zum Glauben, zur Liebe und zur Verehrung. In dieser
oder jener Form war unser Leben stets auf Vertrauen begründet.
Stellen Sie sich ein Leben ohne Glauben vor! Gäbe es nur die reine
Vernunft, wäre das kein Leben. Aber natürlich glaubten wir an das
Leben. Es war da, obgleich wir es nicht in dem Sinn beweisen
konnten, wie man beweisen kann, daß die kürzeste Entfernung
zwischen zwei Punkten die Gerade ist. Konnten wir immer noch sagen,
daß alles nichts war als eine Anhäufung von Elektronen, aus dem
Nichts entstanden, ohne Bdeutung, auf dem Weg ins Nichts? Natürlich
konnten wir das nicht sagen. Sebst die Elektronen scheinen es
besser zu wissen, jedenfalls nach Meinung der Chemiker.

Also sahen wir, daß die Vernunft nicht alles ist. Außerdem ist der
Verstand, wie er von den meisten von uns benutzt wird, nicht
unbedingt zuverlässig, auch wenn er in den besten Köpfen steckt.
Wie war das noch mit den Menschen, die bewiesen hatten, daß der
Mensch nie fliegen kann?
Wir jedoch sahen eine andere Art Flug, eine seelische Befreiung von
dieser Welt. Wir sahen Menschen, die über ihre Probleme hin
auswuchsen. Sie sagten, Gott habe diese Dinge möglich gemacht, und
wir lächelten nur. Wir hatten seelische Befreiung gesehen, wollten
uns aber einreden, es wäre nicht wahr.
In Wirklichkeit hielten wir uns selbst zum Narren, denn tief im
Inneren eines jeden Mannes, einer jeden Frau und eines jeden Kindes
steckt ein Gottesbewußtsein. Es mag durch Elend, Prunk oder
Anbetung anderer Dinge verdeckt sein, aber in irgendeiner Form ist
es vorhanden. Denn der Glaube an eine Macht, größer als wir selbst,
und das wunderbare Wirken dieser Macht im menschlichen Leben sind
Tatsachen, die so alt sind wie die Menschheit selbst.
Schließlich sahen wir ein, daß der Glaube an irgendeine Art von
Gott ein Teil von uns selbst war, genauso wie das Gefühl, das wir
einem Freund entgegenbringen. Manchmal mußten wir furchtlos nach
Gott suchen, aber Er war da. Er war eine Realität wie wir. Wir
fanden die große Wahrheit tief in uns selbst. Letzten Endes kann Er
nur dort gefunden werden. So war das mit uns.
Wir können den Boden nur ein wenig ebnen. Wenn unsere Aussage
hilft, Vorurteile zu beseitigen, Sie in die Lage versetzt, ehrlich
zu denken, und Sie darin bestärkt, in Ihrem Inneren eifrig zu
suchen, dann können Sie, wenn Sie wollen, uns auf der breiten
Straße begleiten. Mit dieser Einstellung können Sie nicht
fehlgehen. Sie werden sich sicher Ihres Glaubens bewußt.
In diesem Buch werden Sie über Erfahrungen eines Mannes lesen, der
glaubte, er wäre ein Atheist. Seine Geschichte ist so interessant,
daß einiges davon jetzt erzählt werden sollte. Sein Sinneswandel
war dramatisch, überzeugend und bewegend.
Unser Freund war der Sohn eines Geistlichen. Er besuchte eine
konfessionelle Schule, wo er gegen das, was er als Übermaß an
religiöser Erziehung empfand, rebellierte. Jahre danach wurde er
von Kummer und Enttäuschung verfolgt. Bankrott, Irrsinn, tödliche
Krankheit, Selbstmord - diese Katastrophen in seiner engsten
Familie verbitterten und bedrückten ihn. Nachkriegsernüchterung,
immer schwererer Alkoholismus, drohender geistiger und körperlicher
Zusammenbruch brachten ihn an den Rand der Selbstzerstörung. Eines
Nachts während eines Krankenhausaufenthaltes kam ein Alkoholiker
auf ihn zu, der ein seelisches Erlebnis gehabt hatte. Aus unserem
Freund brach es erbittert hervor: "Wenn es einen Gott gibt, so hat
er bestimmt nichts für mich getan!" Aber später, als der Patient
wieder allein in seinem Zimmer war, stellte er sich die Frage: "Ist
es möglich, daß all die gläubigen Menschen, die
ich kannte, Unrecht haben?" Während er über die Antwort nachgrü
belte, fühlte er sich, als sei er in der Hölle. Dann, wie ein
Donnerschlag, kam ihm ein großartiger Gedanke. Er verdrängte alles
andere.
"Wer bist du, daß du zu behaupten wagst, es gibt keinen Gott?"
Dieser Mann erzählt, daß er aus dem Bett taumelte und auf die Knie
fiel. Unmittelbar darauf war er von der Überzeugung überwältigt,
daß Gott gegenwärtig ist. Mit der Gewalt einer großen Flutwelle
strömte es über ihn und durch ihn hindurch. Die Barrieren, die er
im Laufe der Jahre aufgebaut hatte, wurden hinweggeschwemmt. Er
fühlte die Gegenwart unendlicher Kraft und Liebe, er hatte das Ufer
betreten. Zum ersten Mal lebte er in der bewußten Gemeinschaft mit
seinem Schöpfer.
Damit war der Grundstein für unseren Freund gelegt. Auch spätere
Erschütterungen konnten ihm nichts anhaben. Sein Alkoholproblem war
von ihm genommen. Es verschwand eben in dieser Nacht vor vielen
Jahren. Von wenigen Augenblicken
der Versuchung abgesehen, ist bei ihm der Gedanke an Alkohol nie
wieder aufgetaucht, und dann überkam ihn jedesmal ein großer
Widerwille. Offensichtlich konnte er nicht trinken, auch wenn er
gewollt hätte. Gott hatte ihm seine geistige Gesundheit wiederge
geben.
Wenn das nicht eine Wunderheilung ist! Eigentlich war es ganz
einfach. Die Umstände hatten ihn zum Glauben gebracht. Demütig
vertraute er sich seinem Schöpfer an - er hatte seinen Weg gefun
den. Genauso hat Gott auch uns allen geistige Gesundheit
wiedergegeben. Diesem Mann kam die Erleuchtung plötzlich. Bei
einigen von uns geht es langsamer. Aber Er ist zu allen gekommen,
die Ihn ehrlich suchten.
Als wir uns Ihm näherten, offenbarte Er sich uns.
 
 

Kapitel 5

Wie es funktioniert

Selten haben wir jemanden gesehen, der gescheitert ist, obwohl er
unseren Weg gewissenhaft gegangen war.
Nicht zur Genesung gelangen diejenigen, die sich nicht ganz in
dieses einfache Programm einbringen können oder wollen. Meistens
sind es Männer und Frauen, die aus ihrer Veranlagung heraus sich
selbst gegenüber nicht ehrlich sein können. Solche Unglücklichen
gibt es. Es ist nicht ihre Schuld. Es scheint, als seien sie so
geboren. Sie sind von Natur aus nicht in der Lage, eine Lebensweise
anzunehmen und für sich zu entwickeln, die eine absolute
Ehrlichkeit verlangt. Ihre Genesungschancen liegen unter dem
Durchschnitt. Darüber hinaus gibt es auch Menschen, die unter
ernsten Störungen in ihrem Denken und Fühlen leiden. Dennoch
genesen viele von ihnen, wenn sie die Fähigkeit haben, ehrlich zu
sein.

Unsere Lebensgeschichten offenbaren, wie wir waren, was geschah und
wie wir heute sind. Wenn Sie sich darüber klar geworden sind, daß
Sie das haben wollen, was wir heute besitzen, und wenn Sie willens
sind, den ganzen Weg zu gehen, um es zu bekommen, dann sind Sie
auch bereit, dafür gewisse Schritte zu tun.
Vor manchen Schritten scheuten wir zurück. Wir dachten, wir könnten
einen bequemeren Weg finden. Aber das ging nicht. Ernsthaft und
eindringlich bitten wir Sie, von Anfang an furchtlos und gründlich
zu sein. Einige von uns hatten versucht, an alten Vorstellungen
festzuhalten: Das Resultat war gleich Null, bis wir kapitulierten.
Denken Sie daran, daß wir es mit Alkohol zu tun haben. Er ist
verschlagen, trügerisch, mächtig! Ohne Hilfe ist es viel zu schwer
für uns. Aber es gibt einen, der alle Kraft hat - und das
ist Gott. Mögen Sie ihn jetzt finden!
Halbe Sachen nützen nichts. Wir standen am Wendepunkt.
Hingebungsvoll baten wir Ihn um seinen Schutz und seine Hilfe. Hier
sind die Schritte, die wir gegangen sind und die als Programm zur
Genesung empfohlen werden.

1. Wir gaben zu, daß wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind - und
unser Leben nicht mehr meistern konnten.

2. Wir kamen zu dem Glauben, daß eine Macht, größer als wir selbst,
uns unsere
geistige Gesundheit wiedergeben kann.

3. Wir faßten den Entschluß, unseren Willen und unser Leben der
Sorge Gottes - wie wir Ihn verstanden - anzuvertrauen.

4. Wir machten eine gründliche und furchtlose Inventur in unserem
Inneren.

5. Wir gaben Gott, uns selbst und einem anderen Menschen gegenüber
unverhüllt unsere Fehler zu.

6. Wir waren völlig bereit, all diese Charakterfehler von Gott
beseitigen zu lassen.

7. Demütig baten wir Ihn, unsere Mängel von uns zu nehmen.

8. Wir machten eine Liste aller Personen, denen wir Schaden zuge
fügt hatten, und wurden willig, ihn bei allen wieder gutzumachen.
 
 

9. Wir machten bei diesen Menschen alles wieder gut - wo immer es
möglich war -, es sei denn, wir hätten dadurch sie oder andere
verletzt.

10. Wir setzten die Inventur bei uns fort, und wenn wir Unrecht
hatten, gaben wir es sofort zu.

11. Wir suchten durch Gebet und Besinnung die bewußte Verbindung zu
Gott - wie wir Ihn verstanden - zu vertiefen. Wir baten Ihn nur,
uns Seinen Willen erkennbar werden zu lassen und uns die Kraft zu
geben, ihn auszuführen.

12. Nachdem wir durch diese Schritte ein seelisches Erwachen erlebt
hatten, versuchten wir, diese Botschaft an Alkoholiker
weiterzugeben und unser tägliches Leben nach diesen Grundsätzen
auszurichten.

Viele von uns riefen aus: "Was sind das für Vorschriften! Das
schaffe ich nie." Seien Sie nicht mutlos. Keiner von uns war in der
Lage, diese Prinzipien auch nur annähernd zu befolgen. Wir sind
keine Heiligen. Es kommt darauf an, daß wir willens sind, anhand
geistig-seelischer Grundsätze zu wachsen. Die Prinzipien, die wir
aufstellten, sind Empfehlungen, die zum Fortschritt führen. Uns ist
innerlicher Fortschritt wichtiger als innerliche Vollkommenheit.
Unsere Auffassung vom Alkoholismus, das Kapitel "Wir Agnostiker"
und unsere Lebensgeschichten offenbaren drei wesentliche Erkennt
nisse:

a) ... daß wir Alkoholiker sind und unser Leben nicht mehr meistern
konnten;

b) ... daß wahrscheinlich keine menschliche Macht uns vom Alkoho
lismus befrei-
en konnte;
c) ... daß aber Gott es konnte und es wollte, wenn wir Ihn suchten.
Als wir das begriffen hatten, waren wir beim Dritten Schritt
angelangt. Darin steht, daß wir entschlossen waren, unseren Willen
und unser Leben der Sorge Gottes, wie wir Ihn verstanden,
anzuvertrauen. Was meinen wir damit und wie gehen wir vor? Zunächst
müssen wir davon überzeugt sein, daß ein Leben, das von Eigenwillen
gesteuert wird, kaum Erfolg haben kann. Mit dieser Einstellung
kommen wir fast immer mit irgend etwas oder irgend jemandem in
Konflikt, selbst wenn unsere Beweggründe gut sind. Die meisten
Menschen versuchen, durch ihre eigene Antriebskraft zu leben. Jeder
ist wie ein Schauspieler, der die ganze Vorstellung allein
bestreiten will. Er versucht ständig, die Beleuchtung, das Ballett
und die Szenerie sowie den Rest der Schauspieler nach seinem Kopf
zu arrangieren. Wenn man seine Arrangements nur so lassen würde,
wenn die Leute nur das täten, was er wollte, wäre die Vorstellung
ein Erfolg. Jeder, er selbst eingeschlossen, wäre zufrieden. Das
Leben wäre wunderbar. Beim Versuch, dieses alles zu arrangieren,
mag der Schauspieler manchmal gute Eigenschaften zeigen. Vielleicht
ist er freundlich, rücksichtsvoll, geduldig und großzügig,
vielleicht sogar bescheiden und uneigennützig. Er kann aber auch
gemein, egoistisch, eigennützig und unehrlich sein. Er wird aber,
wie die meisten Menschen, wahrscheinlich unterschiedliche
Charakterzüge haben.
 

Was aber geschieht gewöhnlich? Die Aufführung läuft nicht sehr gut.
Er fängt an zu glauben, daß er vom Schicksal nicht richtig
behandelt wird. Er beschließt, sich noch mehr anzustrengen. Bei
nächster Gelegenheit wird er noch anspruchsvoller oder nachgiebiger
- je nachdem. Die Darstellung gefällt ihm immer noch nicht. Selbst
wenn er zugibt, daß es auch ein wenig an ihm liegen könnte, ist er
dennoch davon überzeugt, daß die anderen mehr Schuld daran haben.
Er wird ärgerlich, entrüstet und bedauert sich selbst. Was ist sein
Grundproblem? Ist er nicht in Wirklichkeit gerade dann
selbstsüchtig, wenn er versucht, freundlich zu sein? Ist er nicht
das Opfer von Selbsttäuschung, wenn er meint, der Welt Befriedigung
und Glück für sich abzuringen, wenn er es nur richtig anstellt? Ist
es für alle anderen Mitspieler klar, welches seine wahren Ziele
sind? Führt sein Vorgehen nicht dazu, daß es ihm die anderen
heimzahlen wollen, indem sie ihm die Show stehlen? Stiftet er nicht
auch in seinen besten Augenblicken eher Unruhe als Frieden?
Unser Schauspieler ist extrem ichbezogen. Er benimmt sich wie ein
wohlhabender Ruheständler, der im Winter im Sonnenschein FLoridas
über die schlechte Lage der Nation klagt; wie der Geistliche, der
die Sünden des 20. Jahrhunderts bejammert; wie Politiker und
Weltverbesserer, die sicher sind, daß sich eine ideale Gesellschaft
verwirklichen ließe, wenn nur der Rest der Welt mitmachen würde;
wie der gesetzlose Geldschrankknacker, der meint, die Gesellschaft
habe ihm Unrecht getan. Und nicht anders benimmt sich der
Alkoholiker, der alles verloren hat und eingesperrt worden ist.
Wenn wir auch noch so widersprechen, sind nicht die meisten von uns
mit sich selbst, mit ihrem Groll und ihrem Selbstmitleid befaßt?
Egoismus - Ichbezogenheit! Das, glauben wir, ist die Wurzel allen
Übels. Getrieben von allen möglichen Formen von Furcht,
Selbsttäuschung, Egoismus und Selbstmitleid treten wir unseren
Mitmenschen auf die Füße, und sie schlagen zurück. Hin und wieder
verletzen sie uns, ohne das wir es anscheinend provoziert haben.
Aber unweigerlich stellt sich heraus, daß wir irgendwann in der
Vergangenheit egoistische Entscheidungen getroffen haben, die uns
später verwundbar machten.
Wir glauben, daß wir uns unsere Schwierigkeiten im wesentlichen
selbst geschaffen haben. Sie erwachsen aus uns selbst, und der
Alkoholiker ist ein Musterbeispiel für einen Menschen, der sich
eigensinnig über alle Schranken hinwegsetzt, obwohl er das meistens
nicht zugibt. Vor allem müssen wir Alkoholiker uns von dieser
Selbstsucht befreien. Wir müssen es - oder sie bringt uns um! Mit
Gott wird es gelingen. Ohne seine Hilfe scheint es meist unmöglich,
von dieser Ichbezogenheit wegzukommen. Viele von uns hatten
moralische oder philosophische Überzeugungen in Hülle und Fülle,
aber wir konnten nicht danach leben, obwohl wir es gern wollten.
Ebensowenig konnten wir unsere Selbstsucht wesentlich reduzieren,
wie sehr wir es auch wünschten oder aus eigener Kraft versuchten.
Wir waren auf Gottes Hilfe angewiesen.
Das ist das Wie und Warum. Zu allererst mußten wir aufhören, den
lieben Gott zu spielen. Es funktionierte nicht. Als nächstes
beschlossen wir, daß von jetzt an Gott in diesem Drama des Lebens
unser Regisseur sein sollte. Er ist der Chef, und wir handeln in
Seinem Auftrag. Er ist der Vater, und wir sind Seine Kinder. Die
meisten guten Ideen sind einfach. Und diese Auffassung war der
Schlußstein des neuen Triumpfbogens, durch den hindurch wir zur
Freiheit gelangten.
Als wir uns ernsthaft zu dieser Lebenseinstellung bekannt hatten,
folgten alle möglichen bemerkenswerten Dinge. Wir hatten einen
neuen "Chef"; Er war allmächtig. Er gab uns das, was wir brauchten,
wenn wir zu Ihm standen und Seine Arbeit gut ausführten. Auf dieser
Grundlage ließ das Interesse an uns selbst, unseren kleinen Plänen
und Vorhaben immer mehr nach. Zunehmend interessierten wir uns
dafür, was wir dem Leben beisteuern konnten. Sobald wir neue Kraft
in uns spürten, sobald wir uns an unserem Seelenfrieden erfreuten,
sobald wir entdeckten, daß wir dem Leben erfolgreich entgegentreten
konnten, sobald wir uns Seiner Gegenwart bewußt wurden, verloren
wir unsere Furcht vor dem Heute, dem Morgen und der Zukunft. Wir
waren wiedergeboren. Jetzt waren wir mitten im Dritten Schritt.
Viele von uns sagten zu unserem Schöpfer, wie wir Ihn verstanden:
"Gott, ich bin Dein, verfüge über mich,
Dein Wille geschehe. Erlöse mich von den Fesseln meines Ichs, damit
ich Deinen Willen besser ausführen kann. Nimm meine Schwierigkeiten
hinweg, damit der Sieg über sie Zeugnis ablegen möge von Deiner
Macht, Deiner Liebe, Deiner Führung gegenüber den Menschen, denen
ich helfen möchte. Möge ich immer Deinen Willen ausführen!" Bevor
wir diesen Schritt taten, haben wir gut nachgedacht und uns
geprüft, ob wir dazu bereit waren, so daß wir uns schließlich ohne
Einschränkung in Gottes Hand geben konnten. Wir fanden es
wünschenswert, diesen seelischen Schritt mit einem
verständnisvollen Menschen zu tun, vielleicht unserer Frau, dem
besten Freund oder einem geistlichen Berater. Allerdings ist es
besser, Gott allein gegenüberzutreten als mit jemandem, der nicht
das richtige Verständnis dafür aufbringt. Natürlich war die Wahl
der Worte jedem selbst überlassen, solange zum Ausdruck kam, daß
wir uns Ihm rückhaltlos anvertrauten. Das war erst ein Anfang: Wenn
er aber ehrlich und demütig gemacht wurde, war eine starke Wirkung
manchmal sofort spürbar.
Zunächst stürzten wir uns voller Eifer in die Arbeit. Wir begannen
mit einem inneren Hausputz, etwas, das viele von uns bis dahin noch
nie versucht hatten. Unser Entschluß, uns Gott anzuvertrauen, war
ein lebenswichtiger und entscheidender Schritt. Er konnte jedoch
nur dann wirksam werden, wenn darauf eine echte Anstrengung folgte,
den Dingen, die uns den Weg versperrten, ins Auge zu sehen und uns
von ihnen zu lösen. Wir mußten also bis zu den Ursachen und inneren
Voraussetzungen vordringen.
Aus diesem Grund begannen wir mit einer persönlichen Inventur.
Das war der
Vierte Schritt. Ein Geschäft, das nicht regelmäßig Inventur
macht, geht ge- wöhnlich pleite. Die Inventur im Geschäftsleben ist
ein Prozeß, bei dem Tatbestände festgestellt werden, mit denen man
sich auseinandersetzen muß. Es geht um eine Bestandsaufnahme. Ein
Ziel dabei ist, beschädigte und unverkäufliche Ware festzustellen
und sich ohne Bedauern schnell davon zu trennen. Wenn ein
Geschäftsinhaber erfolgreich sein will, darf er sich über den
wirklichen Wert seiner Ware nichts vormachen.
Genau das gleiche taten wir mit unserem Leben. Wir machten ehrlich
Inventur, Zuerst suchten wir die Fehler in unserem Verhalten, die
unserem Versagen zugrunde lagen. Überzeugt davon, daß unser Ich in
seinen verschiedenen Erscheinungsformen uns immer wieder
Niederlagen beigebracht hatte, untersuchten wir nun, wo und wie
sich das Ich gewöhnlich äußert.
Groll ist der Missetäter Nummer eins. Er zerstört mehr Alkoholiker,
als es andere Dinge tun. Er ist der Ursprung aller seelischen
Erkrankungen. Wir waren ja nicht nur geistig und körperlich,
sondern auch seelisch krank. Wenn wir die seelische Krankheit
überwunden haben, werden wir auch geistig und körperlich wieder
gesund. Bei der Auseinandersetzung mit unserem Groll machten wir
eine Liste von Leuten, Institutionen und Prinzipien, über die wir
uns geärgert hatten. Wir fragten uns, warum wir uns geärgert
hatten. Meistens fanden wir heraus, daß unsere Selbstachtung,
unsere Brieftaschen, unser Ehrgeiz, unsere Erwartungen, unsere
persönlichen Beziehungen (einschließlich Sex) verletzt oder bedroht
waren. Wir waren verletzt. Wir waren "fuchsteufelswild".

Auf unsere "Groll-Liste" schreiben wir neben jeden Namen die uns
zugefügten Kränkungen. Waren es unsere Selbstachtung, unsere
Sicherheit, unsere Ambitionen, unsere persönlichen oder sexuellen
Beziehungen, die beeinträchtigt waren?
Wir machten es, wenn möglich, so klar wie in folgendem Beispiel:

Ich bin verärgert Grund: Verletzt bei
mir:
über:

Herrn Meier Sein Interesse an meiner Sexualbezie-
hung
Frau. Selbstachtung
(Angst)

Erzählte meiner Frau von Sexualbezie-
hung
meiner Geliebten. Selbstachtung
(Angst)

Meier könnte meine Stel- Sicherheit
lung im Büro bekommen. Selbstachtung
(Angst)

Frau Müller Ist eine dumme Gans. Sie Persönliche
hat mich von oben herab Beziehungen
behandelt. Ließ ihren Selbstachtung
(Angst)
Mann wegen des Trinkens
einsperren. Er ist mein Freund. Sie ist
eine Klatschbase.

Meinen Arbeitgeber Ist unberechenbar unge- Selbstachtung
(Angst)
recht. Ein Sklaventrei- Sicherheit
ber, droht mich hinauszu-
werfen, weil ich trinke
und zu hohe Spesen ab-
rechne.

Meine Frau Versteht mich nicht und Stolz - per-
sönliche
nörgelt. Mag Meier gern. sexuelle
Beziehungen
Will das Haus auf ihren Sicherheit
(Angst)
Namen überschrieben ha-
ben.

Wir blickten auf unser Leben zurück. Nichts zählte außer Gründ
lichkeit und Ehrlichkeit. Wir betrachteten uns das Ergebnis sorg
fältig. Das erste, was uns auffiel, war, daß diese Welt und ihre
Menschen oft Unrecht hatten. Bis zu diesem Ergebnis kamen die
meisten, weiter nicht. Wir schlossen daraus, daß die Menschen uns
weiterhin Unrecht taten, und wir blieben gekränkt. Manchmal hatten
wir Gewissensbisse, und dann waren wir mit uns selbst böse. Je mehr
wir kämpften und versuchten, unseren eigenen Willen durchzusetzen,
um so schlimmer wurde es. Es war wie im Krieg, der Sieger gewann
nur scheinbar. Unser Triumph war nur kurzlebig. Ein Leben, daß so
von tiefem Groll geprägt ist, muß leer und unglücklich sein. So
vergeuden wir die Stunden, die wir besser hätten nützen können.
Beim Alkoholiker aber, dessen Hoffnung in der Erhaltung und im
Wachsen einer seelischen Erfahrung liegt, ist die Sache mit dem
Groll besonders schwerwiegend. Wir erkannten, daß das
lebensgefährlich ist. Wenn wir solchen Gefühlen nachgeben,
verschließen wir uns dem Licht der Erkenntnis. Der Alkohol mit all
seinem Wahnsinn kehrt zurück, und wir trinken wieder. Und Trinken
bedeutet für uns sterben.
Wenn wir leben wollen, müssen wir uns von Zorn befreien. Groll und
Wutanfälle sind nichts für uns. Andere Menschen können sich diesen
zweifelhaften Luxus leisten, für Alkoholiker aber ist das Gift.
Wir wandten uns wieder der Liste zu, denn dort war der Schlüssel
für die Zukunft. Jetzt waren wir bereit, diese Liste aus einem ganz
anderen Blickwinkel zu sehen. Wir begannen zu begreifen, daß die
Welt und ihre Menschen uns wirklich beherrschten. In diesem Stadium
hatte das Fehlverhalten anderer - ob eingebildet oder wirklich
vorhanden - die Kraft, tatsächlich zu töten. Wie konnten wir dem
entkommen? Wir sahen ein, daß wir die Grollgefühle in den Griff
bekommen mußten, aber wie? Wir konnten sie uns genausowenig
wegwünschen wie den Alkohol.
Das war unser Weg: Wir hielten uns vor Augen, daß die Menschen, die
uns Unrecht taten, vielleicht seelisch krank waren. Wenngleich wir
ihr Wesen und die Art, wie sie uns beeinträchtigten, nicht mochten,
mußten wir einsehen, daß sie auch krank waren. Wir baten Gott, Er
möge uns dabei helfen, ihnen gegenüber die gleiche Toleranz, das
gleiche Mitleid und die Geduld aufzubringen, wie wir sie gern einem
kranken Freund gewähren würden. Wenn uns jemand beleidigt hatte,
sagten wir uns: "Das ist ein kranker Mensch. Wie kann ich ihm
helfen?
Gott bewahre mich davor, ärgerlich zu werden. Dein Wille
geschehe."
Wir vermeiden Vergeltung oder Streit, denn auch kranke Menschen
würden wir nicht so behandeln. Wenn wir es tun, nehmen wir uns die
Chance, ihnen zu helfen. Wir können nicht jedem helfen, aber
wenigstens wird Gott uns dahin führen, gegenüber jedem einzelnen
eine freundliche und tolerante Haltung einzunehmen.
Wir kommen wieder auf unsere Liste zurück. Wir beschäftigten uns
nicht mehr mit dem, was andere falsch gemacht hatten, sondern
suchten beherzt nach unseren eigenen Fehlern. Wo waren wir
selbstsüchtig, unehrlich, egoistisch und feige gewesen? Obwohl wir
nicht immer allein an allem Schuld gewesen waren, versuchten wir,
die Fehler der anderen Beteiligten außer acht zu lassen. Wo
lag unsere Schuld? Es ging um unsere Inventur, nicht um die des
anderen.
Wenn wir bei uns Fehler erkannten, schrieben wir sie auf. Schwarz
auf weiß hielten wir sie uns vor Augen. Wir gaben ehrlich unsere
Fehler zu und waren willig, diese Angelegenheiten in Ordnung zu
bringen.
Beachten Sie, daß in unserer Tabelle das Wort "Angst" in
Zusammenhang mit den Schwierigkeiten mit Herrn Meier, Frau Müller,
dem Arbeitgeber und der Ehefrau in Klammern gesetzt ist. Dieses
kleine Wort berührt fast jeden Lebensbereich.
Angst ist ein schlechter und brüchiger Faden; das Gewebe unserer
Existenz war damit durchgezogen. Angst löste eine Kettenreaktion
aus, die uns ins Unglück stürzte, das wir unserer Meinung nach
nicht verdient hatten. Aber hatten wir die Kugel nicht selbst ins
Rollen gebracht? Manchmal meinen wir, Angst sollte auf dieselbe
Stufe gestellt werden wie Diebstahl. Es scheint sogar, daß sie noch
mehr Unheil anrichtet.
Wir durchleuchteten unsere Ängste gründlich. Wir brachten sie zu
Papier, auch wenn wir in Verbindung mit ihnen keinen Groll hegten.
Wir fragten uns, warum wir überhaupt Ängste hatten. Hatte uns unser
Selbstvertrauen im Stich gelassen? Selbstvertrauen ist eine gute
Sache, soweit es tragfähig ist, aber damit war es nicht weit her.
Einige von uns hatten einst große Selbstsicherheit, aber sie löste
weder das Angstproblem noch ein anderes. Wenn sie uns überheblich
machte, wurde alles noch schlimmer.
Wir können uns vorstellen, daß es einen besseren Weg gibt. Denn wir
haben jetzt eine andere Grundlage; die Grundlage ist, daß wir auf
Gott vertrauen und uns auf Ihn verlassen. Wir trauen dem
unendlichen Gott mehr als unserem endlichen Ich. Wir sind auf der
Welt, um die Rolle zu spielen, die Er uns zuweist. In dem Maße wir
uns so verhalten, wie wir glauben, daß Er uns haben möchte, und uns
demütig auf Ihn verlassen, in dem Maße befähigt Er uns, Unglück mit
Gelassenheit zu begegnen.
Wir entschuldigen uns nicht für unser Gottvertrauen. Wir belächeln
jene, die meinen, daß Gottvertrauen der Weg der Schwäche ist. Im
Gegenteil: Es ist der Weg der Stärke. Glaube bedeutet nach
jahrhundertealten Erkenntnissen Mut. Alle Menschen, die glauben,
haben Mut. Sie vertrauen auf ihren Gott. Wir entschuldigen uns
niemals für Gott. Statt dessen lassen wir Ihn durch uns zeigen, was
Er tun kann. Wir bitten Ihn, unsere Angst von uns zu nehmen, und
richten unsere Aufmerksamkeit darauf, so zu sein, wie Er uns haben
will. Plötzlich beginnen wir, aus der Angst herauszuwachsen.
Hier ein Wort zum Thema Sexualität: Viele von uns mußten hier
einiges in Ordnung bringen. Vor allem versuchten wir, diese Frage
vernünftig anzugehen und nicht in Extreme zu verfallen. Bekanntlich
gehen die Meinungen weit auseinander. Die einen beharren darauf,
daß Sex eine Begierde niederer Natur sei, eine notwendige
Voraussetzung zur Fortpflanzung. Dann gibt es Stimmen, die nach Sex
und noch mehr Sex rufen, die die Institution der Ehe beklagen, die
glauben, daß die meisten menschlichen Schwierigkeiten auf das
Sexuelle zurückzuführen sind. Sie glauben, wir hätten nicht genug
oder nicht die richtige Art von Sex. Sie messen ihm in allem
Bedeutung zu. Die eine Richtung will dem Menschen keine Würze bei
seiner Kost erlauben, die andere möchte uns mit reinem Pfeffer
ernähren. Aus diesem Streit möchten wir uns heraushalten. Wir
möchten nicht Schiedsrichter für Sexualverhalten sein. Jeder von
uns hat Sexprobleme. Das ist menschlich. Was können wir in dieser
Sache tun?
Wir betrachten unser eigenes Verhalten der vergangenen Jahre. Wo
waren wir selbstsüchtig, unehrlich oder rücksichtslos gewesen? Wem
hattten wir weh getan? Hatten wir auf unverantwortliche Weise
Eifersucht, Argwohn oder Verbitterung erweckt? Wo hatten wir etwas
falsch gemacht, was hätten wir statt dessen tun sollen? Wir
schrieben alles auf, um darüber nachzudenken.

Auf diese Weise trachteten wir, ein gesundes und normales Ideal für
unser zukünftiges Sexualleben zu formen. Wir fragten uns bei jeder
Beziehung, ob sie eigennützig ist oder nicht. Wir baten Gott,
unseren Vorstellungen Form zu geben und uns zu helfen, nach ihnen
zu leben. Wir erinnerten uns immer daran, daß unser Sexualtrieb
gottgegeben und daher gut ist. Er sollte weder leichtfertig oder
selbstsüchtig genutzt werden, noch sollte er verachtet und
verabscheut werden.
Wie auch immer unser Ideal aussehen mag, wir müssen bereit sein,
ihm entgegenzuwachsen. Dort, wo wir Schaden angerichtet haben,
müssen wir willens sein, ihn wiedergutzumachen, vorausgesetzt, daß
wir dabei nicht noch mehr Schaden verursachen. Mit anderen Worten,
wir behandeln Sex wie jedes andere Problem. In der Meditation
fragen wir Ihn, wie wir uns in jedem einzelnen Fall verhalten
sollen. Er gibt uns die richtige Antwort, wenn wir sie wollen.
Gott allein kann unsere Sexualangelegenheiten beurteilen. Rat von
anderen ist oft wünschenswert, aber Gott sollte die letzte Instanz
sein. Halten wir fest, daß einige puritanisch über Sex denken,
andere eher freizügig. Vermeiden wir deshalb überzogene Urteile
oder Ratschläge.
Angenommen, wir erreichen das erstrebte Ideal nicht und stolpern?
Bedeutet das, daß wir uns wieder betrinken werden? Einige meinen,
dem wäre so. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Es hängt von uns
und unseren Beweggründen ab. Wenn wir bereuen, was wir getan haben,
und den ehrlichen Wunsch haben, daß Gott uns hilft, es besser zu
machen, glauben wir, daß uns vergeben wird und wir daraus gelernt
haben. Wenn wir nicht bereuen und wir mit unserem Verhalten
weiterhin anderen weh tun, können wir ganz sicher sein, wieder zu
trinken. Das sind keine Theorien, sondern Tatsachen aus unserer
Erfahrung.
Zusammenfassend zum Thema Sexualität: Wir beten ernsthaft um ein
richtiges Ideal, um Führung in jeder fragwürdigen Situation, um
geistige Gesundheit und um die Kraft, das Richtige zu tun. Wenn Sex
eine zu große Belastung wird, bemühen wir uns um so mehr, anderen
zu helfen. Wir kümmern uns um ihre Nöte und tun etwas für sie.
Dabei wachsen wir über uns selbst hinaus. Es beruhigt den
übersteigerten Drang. Diesem nachzugeben, würde ein gebrochenes
Herz bedeuten.
Wenn wir bei unserer Inventur sorgfältig waren, haben wir eine
Menge niedergeschrieben. Wir haben unseren Groll aufgeschrieben und
gründlich untersucht. Nach und nach sahen wir ein, wie nutzlos
verhängsnisvoll er ist. Wir begannen seine furchtbare
Zerstörungskraft zu begreifen. Wir lernten Schritt für Schritt,
Toleranz, Geduld und guten Willen gegenüber allen Menschen zu üben,
sogar gegenüber unseren Feinden, denn wir betrachteten sie als
Kranke. Wir machten eine Liste der Menschen, die wir durch unser
Verhalten verletzt haben, und wurden willens, die Vergangenheit in
Ordnung zu bringen, soweit wir es konnten.
In diesem Buch lesen Sie immer wieder, daß der Glaube das für uns
getan hat, was wir selbst nicht für uns tun konnten. Wir hoffen,
Sie sind jetzt davon überzeugt, daß Gott alles das beseitigen kann,
was Sie durch Ihren Eigenwillen vom Ihm getrennt hat. Wenn Sie
schon eine Entscheidung getroffen und über Ihre größeren
Schwierigkeiten nachgedacht haben, ist ein guter Anfang gemacht.
Wenn das so ist, haben Sie einige große Brocken der Wahrheit über
sich selbst geschluckt und verdaut.

Kapitel 6

In die Tat umgesetzt
Nachdem wir unsere Inventur gemacht haben, fragen wir uns, wie es
nun weitergeht? Wir haben versucht, eine neue Lebenseinstellung zu
finden und ein neues Verhältnis zu unserem Schöpfer. Wir versuchen
auch, die Hindernisse auf unserem Weg zu entdecken. Wir
haben gewisse Fehler zugegeben; in groben Zügen haben wir
festgestellt, wo unsere Schwierigkeiten liegen, und haben unseren
Finger auf die schwachen Stellen in unserer persönlichen Inventur
gelegt. Nun müssen diese ausgemerzt werden. Das erfordert
Aktivitäten von unserer Seite. An diesem Punkt können wir Gott, uns
selbst und einem anderen Menschen unverhüllt unsere Fehler zugeben.
Damit sind wir beim Fünften Schritt in unserem Genesungsprogramm.
Das alles ist schon schwierig genug, es wird noch schwieriger, wenn
wir unsere Fehler mit einem anderen Menschen besprechen. Wir
meinen, es sei genug, diese Dinge uns selbst einzugestehen. Das
ist zu bezweifeln. In der Praxis ist es üblicherweise so, daß
unsere einsame Selbstbewertung nicht ausreicht. Viele von uns
hielten es für notwendig, noch viel weiter zu gehen. Wir können uns
eher mit dem Gedanken befreunden, unsere innersten Angelegenheiten
mit jemand anderem zu besprechen, wenn wir gute Gründe dafür haben.
Der wichtigste Grund zuerst: Wenn wir diesen lebenswichtigen
Schritt überspringen, besteht die Gefahr, daß wir stolpern und
wieder trinken. Immer wieder haben Neue versucht, gewisse Dinge aus
ihrem Leben für sich zu behalten. Um sich diese demütigende
Erfahrung zu ersparen, wandten sie sich einfacheren Methoden zu.
Mit ziemlicher Sicherheit betranken sie sich wieder. Da sie im
übrigen Programm weitergearbeitet hatten, wunderten sie sich, warum
sie rückfällig geworden waren. Nach unserer Meinung liegt es daran,
daß sie ihr Großreinemachen niemals zu Ende geführt haben. Sie
machten zwar eine gute Inventur, aber konnten sich von einigen der
übelsten Artikel am Lager nicht trennen. Sie meinten, sie hätten
ihren Egoismus und ihre Ängste verloren; sie meinten, sie wären
demütig geworden. In diesem Sinne jedoch, wie wir es für nötig
halten, haben sie erst dann genug über Demut, Furchtlosigkeit und
Ehrlichkeit gelernt, wenn sie einem anderen ihre ganze
Lebensgeschichte erzählt haben.
Mehr als andere Menschen führt der Alkoholiker ein Doppelleben. Er
hat sehr viel von einem Schauspieler. Der Umwelt zeigt er sich in
seiner Bühnenrolle.
So sollen ihn seine Mitmenschen sehen. Er möchte ein gewisses
Ansehen genießen, aber weiß in seinem Inneren, daß er es nicht
verdient.

Dieser Zwiespalt wird noch verstärkt durch das, was er bei seinen
Sauftouren anstellt. Gewisse Episoden, an die er sich schwach
erinnert, ekeln ihn an, wenn er wieder zu Besinnung kommt. Diese
Erinnerungen sind ein Alpdruck. Er zittert bei dem Gedanken,
jemand könnte ihn beobachtet haben. So gut er kann, vergräbt er
diese Erinnerungen in sein Unterbewußtsein. Er hofft, daß sie nie
wieder ans Tageslicht kommen. Er steht unter ständiger Angst und
Spannung. Das treibt ihn zum Nochmehrtrinken.
Die Psychologen sind geneigt, uns zuzustimmen. Wir haben viel Geld
für Untersuchungen ausgegeben. Nur in wenigen Fällen haben wir uns
den Ärzten gegenüber fair verhalten. Weder haben wir ihnen die
ganze Wahrheit erzählt, noch sind wir ihrem Rat gefolgt. Wir waren
nicht bereit, diesen uns wohlgesinnten Menschen gegenüber ehrlich
zu sein, und schon gar nicht gegenüber anderen. Kein Wunder, daß
die Mediziner eine so geringe Meinung von Alkoholikern und ihren
Genesungsaussichten haben!
Wenn wir auf dieser Welt lange glücklich leben wollen, müssen wir
gegenüber irgendeinem Menschen vollkommen ehrlich sein. Es ist nur
von Vorteil, wenn wir gut überlegen, bevor wir den oder die
Menschen auswählen, mit denen wir diesen sehr persönlichen und
vertraulichen Schritt tun. Wer von uns zu einer Religion gehört,
bei der die Beichte vorgeschrieben ist, muß und will natürlich zu
dem Geistlichen gehen, dessen Pflicht es ist, die Beichte
abzunehmen. Auch wenn wir keine religiöse Bindung haben, tun wir
gut daran, mit jemanden zu reden, der von einer der bestehenden
Religionen eingesetzt ist. Solche Menschen erfassen und verstehen
unser Problem oft sehr schnell. Natürlich treffen wir auch dort
manchmal jemanden, der den Alkoholiker nicht versteht.
Wenn wir das nicht können oder nicht möchten, suchen wir in unserem
Bekanntenkreis einen verschwiegenen, verständnisvollen Freund.
Vielleicht ist unser Arzt oder Psychologe der richtige Mann. Es
kann jemand aus unserer eigenen Familie sein, aber wir können
unseren Ehepartnern oder unseren Eltern nicht Dinge enthüllen, die
sie verletzen oder unglücklich machen würden. Wir haben kein Recht,
unsere eigene Haut auf Kosten anderer zu retten. Diesen Teil
unserer Geschichte erzählen wir jemandem, der ihn verstehen wird,
der aber nicht davon betroffen ist. Grundsätzlich müssen wir immer
hart gegen uns selbst sein und immer rücksichtsvoll gegenüber
anderen.
Ungeachtet der Notwendigkeit, sich jemandem mitzuteilen, ist es
möglich, daß man sich in einer Lage befindet, in der man keinen
passenden Gesprächspartner hat. Wenn das der Fall ist, kann dieser
Schritt aufgeschoben werden, jedoch nur dann, wenn wir absolut
bereit sind, ihn bei der ersten Gelegenheit nachzuholen. Wir sagen
das, weil wir sehr darauf bedacht sind, mit dem richtigen Menschen
zu sprechen. Es ist wichtig, daß er etwas vertraulich behandeln
kann; daß er das, was wir vorhaben, versteht und billigt und nicht
versucht, unseren Plan zu ändern. Aber wir sollten das nicht als
Entschuldigung dafür benutzen, das Gespräch auf die lange Bank zu
schieben.
Wenn wir uns entschieden haben, wer unsere Geschichte anhören soll,
vergeuden wir keine Zeit. Wir haben unsere geschriebene Inventur
und sind auf ein langes Gespräch vorbereitet. Wir erklären unserem
Gesprächspartner, was wir vorhaben und warum wir es tun müssen. Er
sollte wissen, daß es für uns um Leben und Tod geht. Die meisten
Menschen, auf die man mit diesem Anliegen zugeht, werden gern
helfen; unser Vertrauen ehrt sie.
Wir legen unseren Stolz ab und gehen daran, jeden Winkel unseres
Charakters und jede dunkle Ecke unserer Vergangenheit auszuleuch
ten. Wenn wir einmal diesen Schritt getan und dabei nichts
unterschlagen haben, sind wir froh. Wir können unseren Mitmenschen
wieder in die Augen schauen. Wir können mit uns selber Ruhe und
Frieden finden. Unsere Ängste fallen von uns ab. Wir beginnen, die
Nähe unseres Schöpfers zu spüren. Es mag sein, daß wir eine
bestimmte Glaubensvorstellung hatten, aber jetzt fangen wir an,
eine seelische Erfahrung zu machen. Das Verschwinden des
Trinkproblems löst oft ein überwältigendes Gefühl aus. Wir fühlen
uns auf einer breiten Straße, geführt von einer Höheren Macht.
Nach Hause zurückgekehrt, ziehen wir uns für eine Stunde an einen
ruhigen Ort zurück und denken über alles noch einmal sorgfältig
nach. Wir danken Gott von ganzem Herzen, daß wir ihn jetzt besser
kennen. Wir nehmen dieses Buch zur Hand und schlagen die Seite mit
den Zwölf Schritten auf. Sorgfältig lesen wir die ersten fünf der
Empfehlungen und fragen uns, ob wir irgendwas ausgelassen haben.
Denn wir bauen ein Tor, durch das wir schließlich als freie
Menschen gehen werden. Haben wir bis jetzt solide Arbeit geleistet?
Sind die Steine richtig gesetzt? Haben wir beim Fundament an Zement
gespart? Haben wir versucht, Mörtel ohne Sand zu mischen?
Wenn wir mit den Antworten zufrieden sind, können wir zum Sechsten
Schritt übergehen. Wir haben immer betont, wie wichtig Bereitschaft
ist. Sind wir jetzt bereit, von Gott alle Dinge beseitigen zu
lassen, von denen wir zugegeben haben, daß sie schlecht sind? Kann
Er sie jetzt alle von uns nehmen, jedes einzelne? Wenn wir uns aber
immer noch an etwas klammern und es nicht loslassen wollen, bitten
wir Gott, daß er uns zur Bereitschaft verhilft.
Wenn wir schließlich bereit sind, sagen wir etwa folgendes: "Mein
Schöpfer, ich bin nun willig, mich Dir ganz auszuliefern mit allen
meinen guten und schlechten Seiten. Ich bitte, die Charaktermängel
jetzt von mir zu nehmen, die mich daran hindern, Dir und meinen
Mitmenschen gegenüber nützlich zu sein. Gib mir
Kraft, von jetzt an Deinen Willen auszuführen. Amen." Damit haben
wir Schritt Sieben vollzogen.
Jetzt muß noch mehr getan werden, denn "Glaube ohne Taten ist tot".
Betrachten wir Schritt Acht und Neun. Wir haben jetzt eine Liste
aller Personen, die wir
gekränkt hatten, und sind willig, es wiedergutzumachen. Wir hatten
diese Liste schon bei der Inventur gemacht. Wir unterzogen uns
einer gründlichen Selbsteinschätzung. Nun gehen wir zu unseren
Mitmenschen und machen den Schaden wieder gut, den wir in der
Vergangenheit angerichtet haben. Wir versuchen, die Trümmer
wegzuschaffen, die sich angehäuft haben, als wir noch nach unserem
eigenen Willen lebten und alles allein dirigieren wollten. Wenn uns
die Bereitwilligkeit dazu noch fehlt, bitten wir solange, bis sie
sich einstellt. Erinnern wir uns daran, daß wir am Anfang
übereinstimmten, alles auf uns zu nehmen, um den Alkohol zu
besiegen.
Wahrscheinlich kommen uns noch einige Bedenken. Wenn wir auf die
Liste unserer Kollegen und Freunde schauen, die wir verletzt haben,
zögern wir vielleicht, uns mit einigen auf der Grundlage unserer
seelischen Erneuerung zu unterhalten. Nur mit der Ruhe: Manchen
Leuten gegenüber brauchen und sollten wir uns nicht gleich mit den
neuen seelischen Erkenntnissen aufspielen. Wir würden sie nur
voreingenommen machen. Im Augenblick geht es nur darum, unser Leben
in Ordnung zu bringen. Aber das allein ist noch kein Ziel. Unser
wirkliches Ziel ist, Gott und unseren Mitmenschen in höchstem Maße
dienlich zu sein. Es ist selten klug, jemand anzusprechen, der noch
unter dem Unrecht leidet, das wir ihm angetan haben, und ihm
mitzuteilen, daß wir gläubig geworden sind. Das hieße mit der Tür
ins Haus fallen. Warum sollen wir uns der Gefahr aussetzen, als
Fanatiker oder frömmelnde Langweiler abgestempelt zu werden? Damit
zerschlagen wir uns vielleicht die Möglichkeit, zu späterer Zeit
eine nützliche Botschaft weiterzugeben. Aber unser Gegenüber ist
sicher beeindruckt von unserem aufrichtigen Wunsch, Unrecht in
Ordnung zu bringen. Er wird mehr an einem Beweis des guten Willens
interessiert sein, als an unserem Gespräch über seelische
Entdeckungen.
Das soll uns aber nicht als Entschuldigung dienen, um uns vor dem
Thema Gott zu drücken. Wenn es einem guten Zweck dient, sind wir
bereit, unsere Überzeugung taktvoll und vernünftig zu vertreten.
Hier stellt sich die Frage, wie wir dem Menschen gegenüber
auftreten, den wir gehaßt haben. Es kann sein, daß er uns mehr
verletzt hat, als wir ihn. Obwohl wir eine bessere Einstellung ihm
gegenüber gefunden haben, sind wir immer noch nicht gerade erpicht
darauf, ihm unsere Fehler einzugestehen. Bei einem Menschen, den
wir nicht mögen, beißen wir eben die Zähne zusammen. Es ist
schwerer, zu einem Feind hinzugehen als zu einem Freund, aber es
bringt mehr. Wir gehen zu ihm, im Geiste der Hilfsbereitschaft und
der Vergebung. Wir gestehen ihm unsere frühere Abneigung ein und
drücken unser Bedauern darüber aus.
In solchen Fällen kritisieren oder streiten wir unter keinen
Umständen. Wir sagen einfach, daß wir nie vom Alkohol loskommen,
bevor wir nicht unser Möglichstes getan haben, unsere Vergangenheit
in Ordnung zu bringen. Wir sind dort, um vor unser eigenen Tür zu
fegen, und sind uns darüber klar, daß wir sonst nicht weiterkommen.
Nie sollten wir versuchen, dem anderen zu sagen, was er zu tun hat.
Seine Fehler stehen nicht zur Diskussion. Wir bleiben bei unseren
eigenen. Wenn wir ruhig, offen und ehrlich sind, werden wir mit dem
Ergebnis zufrieden sein.
In neun von zehn Fällen geschieht das Unerwartete. Manchmal gibt
derjenige, mit dem wir uns unterhalten, seine eigene Schuld zu. So
werden jahrelange Fehden in einer Stunde beigelegt. Nur selten sind
all unsere Bemühungen erfolglos. Oft erkennen unsere früheren
Feinde das, was wir tun, hoch an und wünschen uns Glück.
Gelegentlich werden sie uns sogar ihre Hilfe anbieten. Jedoch
sollte es uns auch nichts ausmachen, wenn uns jemand hinauswirft.
Wir haben unseren guten Willen gezeigt und unseren Teil getan. Da
ist dann eben nichts zu machen.
Die meisten Alkoholiker haben Schulden. Wir gehen unseren Gläubi
gern nicht aus dem Wege. Wir sagen ihnen, was wir im Augenblick zu
erreichen versuchen. Wir verheimlichen nicht, daß wir getrunken
haben. Meistens wissen sie es ja ohnehin, ob wir es nun wahrhaben
wollen oder nicht. Wir scheuen uns auch nicht, aus Furcht vor
finanziellen Nachteilen unser Alkoholproblem zuzugeben. Wenn wir so
vorgehen, kann uns selbst ein unbarmherziger Gläubiger überraschen.
Indem wir einen Rückzahlungsmodus vereinbaren, zeigen wir diesen
Leuten, daß es uns leid tut. Unser Trinken hat uns zu langsamen
Zahlern gemacht. Wir müssen unsere Angst vor Gläubigern verlieren,
egal wie, denn wenn wir uns fürchten, ihnen gegenüberzutreten, sind
wir in Gefahr, wieder zu trinken.
Vielleicht haben wir eine Straftat begangen, die uns ins Gefängnis
bringen würde, sollte sie bekannt werden. Vielleicht haben wir Geld
unterschlagen und sind nicht in der Lage, es zu ersetzen. Im
Vertrauen haben wir das bereits einem anderen Menschen mitgeteilt.
Wir sind aber sicher, ins Gefängnis zu müssen oder unsere Stelle zu
verlieren, wenn es bekannt würde. Vielleicht handelt es sich auch
nur um ein kleineres Vergehen wie eine gefälschte Spesenabrechnung.
Die meisten von uns haben so etwas schon getan. Vielleicht sind
wir geschieden und haben wieder geheiratet, sind aber den
Unterhaltsverpflichtungen an die erste Frau nicht nachgekommen. Sie
ist empört und droht uns mit Rechtsmitteln. Auch solchen Ärger kann
es geben.
Obwohl Wiedergutmachung in vielerlei Formen möglich ist, gibt es
einige allgemeine Grundsätze, nach denen wir uns richten sollten.
Erinnern wir uns an die Entscheidung, alles zu tun, um eine
seelische Erfahrung zu machen. Jetzt bitten wir um Kraft und
Führung, das Richtige zu tun, ohne Rücksicht auf die persönlichen
Folgen. Vielleicht verlieren wir unsere Stellung oder unseren Ruf,
vielleicht droht uns Gefängnis. Dennoch sind wir guten Willens. Wir
müssen es sein. Wir dürfen vor nichts zurückschrecken.
Häufig sind jedoch auch andere Menschen in unsere Geschichte
verwickelt. Deshalb dürfen wir nicht übereilt den törichten
Märtyrer spielen, der unnötig andere ofpert, um sich selbst vom
Alkohol zu retten. Ein Mann, den wir kennen, hatte wieder
geheiratet. Als er noch getrunken hatte, war er aus Verdruß seiner
ersten Frau den Unterhalt schuldig geblieben. Darüber war sie
wütend. Vor Gericht erwirkte sie einen Haftbefehl. Zu diesem
Zeitpunkt hatte er bereits mit unserer Lebensführung begonnen, war
in einer sicheren Position und hatte wieder Boden unter den Füßen.
Es wäre beeindruckend mutig gewesen, wenn er zum Richter gegangen
wäre und gesagt hätte: "Hier bin ich."
Wir meinten zwar, er müsse notfalls auch dazu bereit sein. Wenn er
aber im Gefängnis säße, könnte er für keine der beiden Familien
sorgen. Wir schlugen ihm vor, seiner ersten Frau zu schreiben,
seine Fehler zuzugeben und sie um Verzeihung zu bitten. Das tat er
und schickte auch einen kleinen Geldbetrag. Er erklärte ihr, was er
versuchen würde, in Zukunft für sie zu tun. Er sei auch bereit, ins
Gefängnis zu gehen, wenn sie darauf bestehe. Natürlich bestand sie
nicht darauf, und die ganze Angelegenheit ist seit langem geregelt.
Bevor wir etwas Schwerwiegendes unternehmen, von dem andere mit
betroffen würden, müssen wir deren Zustimmung einholen. Wenn wir
das Einverständnis haben, wenn wir uns auch mit anderen beraten und
Gott um Hilfe gebeten haben und der drastische Schritt angezeigt
ist, dürfen wir nicht davor zurückschrecken.

Das bringt uns die Geschichte eines anderen Freundes in Erinnerung.
In seiner Trinkerzeit nahm er von einem verhaßten Geschäftsrivalen
eine größere Summe an, ohne dafür eine Quittung auszustellen.
Später leugnete er, das Geld erhalten zu haben, und
nutzte den Vorfall, um den anderen in Mißkredit zu bringen. So
zerstörte er durch seine Gemeinheit auch noch den Ruf des anderen.
Tatsächlich war sein Rivale ruiniert.
Unser Freund merkte, daß er ein Unrecht getan hatte, das er nicht
wiedergutmachen konnte. Wenn er die alte Geschichte wieder auf
wärmte, mußte er befürchten, damit den Ruf seines jetzigen Ge
schäftspartners mit zu ruinieren. Er mußte darüber hinaus
befürchten, seine eigene Familie in Verruf zu bringen und ihr die
Mittel für den Lebensunterhalt zu entziehen. Welches Recht hatte
er, Menschen mit hineinzuziehen, die von ihm abhängig waren? Wie
konnte er möglicherweise durch eine öffentliche Erklärung seinen
einstigen Rivalen entlasten?
Nachdem er sich mit seiner Frau und seinem Geschäftspartner beraten
hatte, kam er zu dem Schluß, daß es besser sei, dieses Risiko zu
wagen, als vor seinem Schöpfer zu stehen mit der Schuld, einen
anderen durch eine Verleumdung ruiniert zu haben. Er erkannte, daß
er alle Folgen, die daraus entstehen würden, in Gottes Hand legen
müsse; sonst würde er bald wieder mit dem Trinken anfangen und dann
wäre alles sowieso verloren. Seit langen Jahren besuchte er
erstmals wieder einen Gottesdienst. Nach der Predigt stand er ruhig
auf und gab eine Erklärung ab. Sein Tun fand allgemeine Zustimmung
und heute ist er einer der geachteten Bürger seiner Stadt. Das
alles liegt nun Jahre zurück.
Es ist durchaus möglich, daß wir auch zu Hause Ärger haben. Viel
leicht geben wir uns mit Frauen ab und haben Verhältnisse, die wir
nicht gerne an die große Glocke gehängt wissen möchten. Wir
bezweifeln, daß Alkoholiker in dieser Hinsicht wesentlich schlimmer
sind als andere Leute. Aber das Trinken kompliziert die sexuellen
Beziehungen zu Hause. Nach ein paar Jahren an der Seite eines
Alkoholikers ist eine Ehefrau verbraucht, verbittert und
verschlossen. Wie könnte sie auch anders sein? Der Ehemann fängt
an, sich einsam zu fühlen und sich zu bemitleiden. Er beginnt, in
Nachtlokalen und anderen zweifelhaften Etablissements zu verkehren,
und das nicht nur wegen des Alkohols. Vielleicht hat er ein
heimliches und aufregendes Verhältnis mit "der Frau, die ihn ver
steht". Vielleicht versteht sie ihn wirklich, aber was ändert das
an der verfahrenen Sache? Ein Mann in einer derartigen Situation
ist oft voller Reue, besonders dann, wenn er mit einer treuen und
tapferen Frau verheiratet ist, die für ihn buchstäblich durch die
Hölle gegangen ist.
Wie auch immer - irgend etwas muß jetzt geschehen. Wenn wir sicher
sind, daß unsere Frau nichts weiß, sollten wir es ihr sagen? Nicht
unbedingt, so glauben wir. Wenn sie eine Ahnung hat, daß wir
fremdgegegangen sind, sollten wir es ihr dann in allen Einzelheiten
erzählen? Auf jeden Fall sollten wir unsere Schuld zugeben. Es ist
möglich, daß sie darauf besteht, alle Einzelheiten zu erfahren. Sie
will wissen, wer jene andere Frau ist und wo diese wohnt. Hier
sollten wir antworten, daß wir nicht das Recht haben, jemand
anderen mit hineinzuziehen. Was wir getan haben, tut uns leid; und
mit Gottes Hilfe soll es nicht wieder geschehen. Mehr können wir
nicht tun. Wir haben kein Recht, weiter zu gehen. Obwohl es
berechtigte Ausnahmen gibt und wir keine allgemeinen Regeln
aufstellen wollen, haben wir erfahren, daß das oft der beste Weg
ist.
Unsere Empfehlungen zielen nicht nur in eine Richtung: sie gelten
gleichermaßen für Mann und Frau. Wenn er vergessen soll, kann sie
es auch. Es ist jedoch immer besser, nicht unnötigerweise jemanden
beim Namen zu nennen, auf den sich dann Eifersucht konzentrieren
könnte.
Vielleicht gibt es Fälle, in denen uneingeschränkte Offenheit
erforderlich ist. Kein Außenstehender kann eine solch vertrauliche
Angelegenheit beurteilen. Es kann wohl sein, daß beide beschließen,
mit Vernunft und Liebe Vergangenes vergangen sein zu lassen. Jeder
sollte daher beten und dabei das Glück des anderen an die erste
Stelle setzen. Dabei müssen wir uns immer vor Augen halten, daß wir
es hier mit der schrecklichsten aller
menschlichen Gefühlsregungen zu tun haben, mit der Eifersucht.
Taktisch klüger ist es vielleicht, das Problem von der Seite
anzugehen, als frontal darauf loszumarschieren.
Auch wenn wir keine solchen Schwierigkeiten haben, gibt es zu Hause
noch genug zu tun. Manchmal hören wir einen Alkoholiker sagen, daß
das einzig Wichtige für ihn ist, nüchtern zu bleiben.
Selbstverständlich muß er nüchtern bleiben, denn wenn er das nicht
tut, wird er überhaupt kein Zuhause mehr haben. Aber er ist noch
weit davon entfernt, an seiner Frau und seinen Eltern, die er
jahrelang schlecht behandelt hat, alles wiedergutgemacht zu haben.
Die Geduld, die Mütter und Ehefrauen für Alkoholiker aufgebracht
haben, ist jenseits aller Vorstellungskraft. Wenn das nicht so
gewesen wäre, hätten viele von uns heute kein Heim mehr und wären
wahrscheinlich tot.
Der Alkoholiker ist wie ein Wirbelsturm, er fegt auf seinem Weg
rücksichtslos durch das Leben anderer. Herzen werden gebrochen.
Innige Beziehungen gehen in die Brüche. Zuneigungen werden zer
stört. Egoistische und rücksichtslose Gewohnheiten halten das
Familienleben in Aufruhr. Wir meinen, ein Mensch ist gedankenlos,
wenn er sagt, daß Nüchternheit genug sei. Er ist wie der Farmer,
der nach einem Wirbelsturm aus dem Keller steigt und sein Haus
zerstört vorfindet. Zu seiner Frau sagte er: "Mama, das ist alles
nicht so wichtig; ist es nicht großartig, daß der Sturm aufgehört
hat?"
Ja, vor uns liegt eine Menge Wiederaufbauarbeit, die viel Zeit
beanspruchen wird. Wir müssen die Sache selbst in die Hand nehmen.
Mit einem reuevollen Murmeln, daß es uns leid tut, ist es nicht
getan. Wir sollten uns mit unserer Familie zusammensetzen und die
Vergangenheit, wie wir sie heute sehen, ganz offen durchleuchten.
Dabei achten wir sorgfältig darauf, die Familienangehörigen nicht
zu kritisieren. Ihre Fehler mögen offenkundig sein. Wahrscheinlich
aber ist unser eigenes Handeln dafür mitverantwortlich. Es ist ein
Großreinemachen mit der Familie. Und wir bitten jeden Morgen in
einer besinnlichen Minute unseren Schöpfer darum, uns den Weg der
Geduld, der Toleranz, der Freundlichkeit und der Liebe zu zeigen.
Leben nach spirituellen, das heißt seelischen Grundsätzen ist keine
Theorie. Wir müssen es leben. Wenn die eigene Familie nicht den
Wunsch hat, nach diesen seelischen Grundsätzen zu leben, sollten
wir sie nicht dazu drängen. Wir sollten auch nicht ständig mit
ihnen über seelische Dinge reden. Unser Verhalten wird sie mehr
überzeugen als unsere Worte. Wir dürfen nicht vergessen, daß zehn
oder zwanzig Jahre an der Seite eines Alkoholikers aus jedem einen
Skeptiker machen.
Es mag Unrecht geben, das wir nie wiedergutmachen können. Wir
sorgen uns darum nicht, solange wir uns ehrlich sagen können, daß
wir wiedergutmachten, wenn wir es könnten. Manchen Leuten, denen
wir nicht persönlich gegenübertreten können, schicken wir einen
aufrichtigen Brief. In einigen Fällen mag es triftige Gründe geben,
die Wiedergutmachung aufzuschieben. Wir schieben aber nichts
grundlos auf die lange Bank. Wir sollten bei der Wiedergutmachung
einfühlsam, taktvoll, rücksichtsvoll und demütig vorgehen, ohne
unterwürfig und kriecherisch zu sein. Als Gottes Kinder stehen wir
aufrecht und kriechen vor niemandem.
Wenn wir in diesem Abschnitt unserer Entwicklung sehr gewissenhaft
sind, werden wir verblüfft sein, noch bevor wir den Weg zur Hälfte
zurückgelegt haben. Wir werden eine neue Freiheit und ein neues
Glück kennenlernen. Wir wollen die Vergangenheit weder beklagen,
noch die Tür hinter ihr zuschlagen. Wir werden verstehen, was das
Wort Gelassenheit bedeutet, und erfahren, was Frieden ist. Wie tief
wir auch gesunken waren, wir werden merken, daß andere aus unseren
Erfahrungen Nutzen ziehen können. Das Gefühl der Nutzlosigkeit und
des Selbstmitleids wird verschwinden. Unsere Ichbezogenheit wird in
den Hintergrund treten, das Interesse an unseren Mitmenschen
wachsen. Unser Egoismus wird dahin schmelzen. Unsere Einstellung
zum Leben und
unsere Erwartungen werden sich ändern. Angst vor den Menschen und
vor wirtschaftlicher Ungewißheit werden schwinden. Ohne lange
nachzudenken, werden wir jetzt mit Situationen fertig, die uns
früher umgeworfen haben. Plötzlich wird uns bewußt, daß Gott für
uns das erledigt, wozu wir allein nicht in der Lage sind.
Sind das alles leere Versprechungen? Wir meinen nicht. Sie werden
uns erfüllt - manchmal schneller, manchmal langsamer. Sie werden
immer Wirklichkeit, wenn wir daran arbeiten!

Diese Gedanken bringen uns zum Zehnten Schritt, der empfiehlt, daß
wir weiterhin Inventur machen und neue Fehler immer wieder
korrigieren. Wir haben diesen Lebensweg mutig beschritten, als wir
mit der Vergangenheit aufgeräumt haben. Wir sind in eine Welt des
Geistes eingetreten. Jetzt ist es an uns, vieles besser zu
verstehen und danach zu leben. Das geht nicht über Nacht, es ist
eine Lebensaufgabe. Hüten Sie sich vor Egoismus, Unehrlichkeit,
Groll und Furcht. Wenn diese Gefühle wieder aufkommen, bitten wir
Gott, sie sofort zu beseitigen. Wir sprechen sofort darüber und
machen es gleich wieder gut, wenn wir jemanden Schaden zugefügt
haben.
Wir wenden uns einem Menschen zu, der Hilfe braucht. Unsere Parole
heißt jetzt Liebe und Toleranz.
Wir haben aufgehört, gegen alles und jeden zu kämpfen - selbst
gegen den Alkohol. Denn inzwischen haben wir unsere geistige
Gesundheit wiedererlangt. Nur noch selten denken wir an Alkohol.
Wenn das Glas in Reichweite ist, schrecken wir davor zurück, wie
vor einer heißen Flamme. Das ist eine gesunde und normale Reaktion.
Dabei stellen wir fest, daß das ganz automatisch geschieht. Unsere
neue Einstellung zum Alkohol ergibt sich ohne großes Nachdenken und
ohne große Anstrengung. Es ist uns in Fleisch und Blut
übergegangen. Es ist ein Wunder. Wer aufhört zu kämpfen, hat
Chancen zu gewinnen. Es ist, als stünden wir auf neutralem Boden -
sicher und geschützt. Und dabei haben wir nicht einmal dem Alkohol
abgeschworen. Das Problem wurde einfach von uns genommen. Es
existiert nicht mehr für uns. Das macht uns nicht überheblich, aber
auch nicht ängstlich. Das ist unsere Erfahrung. So reagieren wir,
solange wir uns innerlich gesund halten.
Die Gefahr ist groß, das seelische Programmm zu vernachlässigen und
uns auf den Lorbeeren auszuruhen. Wenn wir das tun, rennen wir
direkt in unser Unglück, denn Alkohol ist ein heimtückischer Feind.
Wir sind nicht vom Alkoholismus geheilt. Was wir in der Hand haben,
ist eine auf den Tag bemessene Bewährungsfrist. Jeden Tag aufs
neue müssen wir den Gedanken an Gottes Willen in unser Tun
einbeziehen: "Wie kann ich Dir am besten dienen - Dein Wille
geschehe (nicht meiner)!" Das sind Gedanken, die uns immer be
gleiten müssen. In dieser Richtung können wir unsere Willenskraft
trainieren, soviel wir wollen. Das ist der richtige Gebrauch des
Willens.
Viel ist schon darüber gesagt worden, wie wir Stärke, Eingebung und
Führung von Ihm erhalten, der alles Wissen und alle Macht besitzt.
Wenn wir den Anweisungen sorgfältig gefolgt sind, fühlen wir
allmählich, wie Sein Geist in uns hineinströmt. Bis zu einem
gewissen Grad sind wir gottesbewußt geworden. Wir haben angefangen,
diesen lebenswichtigen, sechsten Sinn zu entwickeln. Aber wir
müssen noch weitergehen. Und das bedeutet mehr Arbeit.

Der Elfte Schritt empfiehlt Gebet und Besinnung. Vor dem Beten
sollten wir nicht zurückschrecken. Bessere Menschen als wir machen
ständig Gebrauch davon. Es macht sich bezahlt, wenn wir die
richtige Einstellung dazu haben und daran arbeiten. Es wäre
einfach, sich um dieses Thema herumzumogeln. Wir glauben jedoch,
einige konkrete und wertvolle Vorschläge machen zu können.
Vor dem Einschlafen gehen wir die Ereignisse des Tages in Gedanken
durch. Waren wir wütend, egoistisch, unehrlich oder ängstlich?
Müssen wir uns bei jemandem entschuldigen? Haben wir etwas für uns
behalten, was wir sofort mit jemandem besprechen
sollten? Waren wir allen gegenüber freundlich und liebenswürdig?
Was hätten wir besser machen können? Dachten wir meistens nur an
uns selbst? Oder dachten wir daran, für andere etwas zu tun und
sonstwie nützlich zu sein? Aber wir müssen aufpassen, daß wir nicht
in Verzweiflung, Selbstvorwürfe oder krankhaftes Grübeln verfallen,
denn das würde unser Nützlichsein für andere verringern. Nachdem
wir unseren Rückblick beendet haben, bitten wir Gott um Vergebung
und um Rat, was wir besser machen können. Beim Erwachen wollen wir
über die 24 Stunden nachdenken, die vor uns liegen. Sorgfältig
planen wir den Tag. Vorher bitten wir Gott, unsere Gedanken zu
leiten. Besonders bitten wir darum, daß unser Denken frei bleibt
von Selbstmitleid, Unehrlichkeit und Selbstsucht. Unter diesen
Voraussetzungen können wir unsere geistigen Fähigkeiten
zuversichtlich einsetzen; denn schließlich gab uns Gott den
Verstand, damit wir ihn nutzen. Unser Denken bewegt sich auf einer
höheren Ebene, wenn es frei von falschen Absichten ist.
Beim Nachdenken über unseren Tag kann es möglich sein, daß wir
unentschlossen sind. Es kann sein, daß wir die Richtung nicht
bestimmen können, die wir einschlagen sollen. Hier bitten wir Gott
um Eingebung, um Erkenntnis oder um eine Entscheidung. Wir
entspannen uns und machen es uns nicht schwer. Wir quälen uns
nicht. Oft sind wir erstaunt, wie die richtigen Antworten kommen,
wenn wir es eine Weile so versucht haben. Was vorher nur eine
Ahnung oder eine gelegentliche Eingebung war, wird allmählich ein
wirksamer Bestandteil unseres Bewußtseins. Da wir noch unerfahren
sind und gerade erst bewußt Verbindung zu Gott gefunden haben, ist
es unwahrscheinlich, daß wir jederzeit inspiriert werden. Wenn wir
solche Erwartungen hegen, müssen wir wohl mit allerlei törichten
Ideen und Handlungen bezahlen. Dennoch werden wir es erleben, wie
unser Denken im Laufe der Zeit mehr und mehr in Einklang mit dem
Wollen der Höheren Macht kommt. Allmählich können wir uns darauf
verlassen.
Im allgemeinen beschließen wir die Zeit der Besinnung mit einem
Gebet. Wir bitten, daß uns den ganzen Tag über gezeigt wird, was
unser nächster Schritt sein soll. Wir bitten darum, daß uns gegeben
wird, was wir zur Lösung der Probleme brauchen. Besonders bitten
wir darum, von Dickköpfigkeit frei zu bleiben. Wir hüten uns auch
davor, nur für uns etwas zu erbitten. Das können wir allenfalls,
wenn dadurch anderen geholfen wird. Aber wir sind sehr vorsichtig,
selbstsüchtig für unsere eigenen Ziele zu beten. Viele von uns
haben damit eine Menge Zeit vergeudet. Aber so etwas funktioniert
nie, Sie können leicht sehen warum.

Wenn es geht, bitten wir unsere Frauen oder unsere Freunde, an der
morgendlichen Besinnung teilzunehmen. Wenn wir zu einer
Religionsgemeinschaft gehören, die eine festgelegte Morgenandacht
kennt, nehmen wir auch daran teil. Wenn wir keiner Konfession
angehören, können wir passende Gebete auswählen und lernen. Dafür
gibt es viele hilfreiche Bücher. Vorschläge kann man von seinem
Priester, Geistlichen oder Rabbiner erhalten. Seien Sie tolerant
genug, auch von gläubigen Menschen zu lernen. Machen Sie Gebrauch
von dem, was sie Ihnen zu bieten haben.

Wenn wir tagsüber unruhig sind oder in Zweifel geraten, machen wir
eine Pause und bitten um richtiges Denken und Handeln. Ständig
halten wir uns vor Augen, daß wir nicht mehr diejenigen sind, die
alles bestimmen. Demütig sagen wir uns jeden Tag viele Male: "Dein
Wille geschehe!" Dann sind wir weniger den Gefahren von Erregung,
Furcht, Wut, Sorge, Selbstmitleid oder törichten Entscheidungen
ausgesetzt. So werden wir wesentlich leistungsfähiger. Wir ermüden
nicht so schnell. Wir verbrauchen unsere Energien nicht mehr so
leichtsinnig wie früher, als wir unser Leben so einrichten wollten,
wie es uns gerade paßte.
Es funktioniert - es funktioniert wirklich.
Wir Alkoholiker sind ungezügelt. Deshalb lassen wir uns auf die
einfache Weise, die wir gerade beschrieben haben, von Gott lenken.
Aber das ist nicht alles. Jetzt müssen wir aktiv werden und aktiv

bleiben. "Glaube ohne Werke ist tot." Das nächste Kapitel ist ganz

dem Zwölften Schritt gewidmet.
 
 
 
 
 
 

Kapitel 7

Die Arbeit mit anderen

Praktische Erfahrung zeigt, daß nichts so sehr die Nüchternheit
stabilisiert wie intensive Arbeit mit anderen Alkoholikern. Das
funktioniert auch, wenn alle anderen Aktivitäten versagen. Dies ist
unsere Zwölfte Empfehlung: Geben Sie diese Botschaft an andere
Alkoholiker weiter! Sie können helfen, wenn niemand sonst es kann.
Sie können das Vertrauen von Alkoholikern erwerben, wenn andere
hilflos sind. Denken Sie daran, daß diejenigen, die noch trinken,
sehr krank sind.
Ihr Leben bekommt einen neuen Sinn. Zu sehen, wie Menschen sich
erholen, wie sie wiederum anderen helfen, wie die Einsamkeit
verschwindet, wie die Gemeinschaft um Sie herum wächst und wie Sie
Freunde gewinnen, das sind Erfahrungen, die Sie nicht missen
sollten. Wir sind sicher, daß keiner von Ihnen das missen möchte.
Begegnung mit Neuen und häufiger Kontakt untereinander, das sind
Lichtblicke in unserem Leben.
Vielleicht kennen Sie keine Trinker, die genesen möchten. Sie können
leicht welche finden, indem Sie bei Ärzten, Geistlichen oder in
Krankenhäusern nachfragen. Sie werden Ihnen nur zu gern helfen.
Spielen Sie sich nicht als Evangelist oder Weltverbesserer auf.
Leider gibt es viele Vorurteile. Sie werden sich nur selbst
Hindermisse in den Weg legen, wenn Sie Vorurteile wachrufen.
Geistliche und Ärzte sind kompetent, und wenn Sie wollen, können Sie
viel von ihnen lernen. Arbeiten Sie mit ihnen zusammen, kritisieren
Sie aber nie. Unser einziges Ziel ist, anderen zu helfen. Und gerade
mit Ihrer eigenen Trinkerfahrung können Sie für andere Alkoholiker
außerordentlich nützlich sein. Wenn Sie einen Anwärter für die
Anonymen Alkoholiker entdecken, bringen Sie alles über ihn in
Erfahrung. Wenn er nicht mit dem Trinken aufhören will, vergeuden
Sie keine Zeit damit, ihn überreden zu wollen. Sie machen vielleicht
eine spätere Gelegenheit zunichte. Diesen Vorschlag sollte man auch
seiner Familie machen. Sie sollte geduldig sein und sich klar
machen, daß sie es mit einem kranken Menschen zu tun hat.
Wenn es irgendein Anzeichen gibt, daß er aufhören will, dann führen
Sie ein offenes Gespräch mit dem Menschen, der ihm am nächsten
steht. Meistens ist das seine Frau. Machen Sie sich ein Bild vom
Verhalten des Alkoholikers, seinen Problemen, seiner Vergangenheit,
vom Ernst seines Zustandes und seinen religiösen Neigungen. Sie
brauchen dieses Wissen, um sich an seine Stelle versetzen zu können,
um zu spüren, wie Sie am liebsten von ihm angesprochen würden, wenn
es umgekehrt wäre.
Manchmal ist es klug zu warten, bis der Alkoholiker wieder voll
drinhängt. Die Familie mag dagegen sein. Wenn der Alkoholiker nicht
in einer sehr schlechten körperlichen Verfassung ist, ist es besser,
dieses Risiko einzugehen. Geben Sie sich nicht mit ihm ab, wenn er
sehr betrunken ist, es sei denn, er benimmt sich scheußlich und die
Familie braucht Ihre Hilfe. Warten Sie das Ende des Rausches ab oder
wenigstens einen lichten Augenblick! Dann sollen seine Familie oder
ein Freund ihn fragen, ob er tatsächlich aufhören und alles
unternehmen will, um das zu
erreichen. Wenn er ja sagt, dann sollte man ihn darauf aufmerksam
machen, daß Sie einer sind, der genesen ist. Sie sollen ihm
beschrieben werden als Mitglied einer Gemeinschaft von Männern und
Frauen, die zum Zweck ihrer eigenen Genesung versuchen, anderen zu
helfen. Man sollte ihm sagen, daß Sie gern mit ihm sprechen würden,
wenn er Wert darauf legt.

Wenn er Sie nicht sehen möchte, drängen Sie sich nicht auf. Auch
sollte die Familie ihn nicht hysterisch anflehen, irgend etwas zu
unternehmen, noch sollten Sie ihm viel von sich erzählen. Sie
sollten das Ende seines nächsten Besäufnisses abwarten. Sie können
dafür sorgen, daß er in der Zwischenzeit
einmal auf dieses Buch aufmerksam wird. Für all das gibt es keine
besonderen Regeln. Die Familie sollte darüber entscheiden. Aber
bitten Sie die Familie dringend, nicht überängstlich zu sein, weil
das alles verderben könnte.
Im allgemeinen sollte die Familie nicht versuchen, ihm Ihre Ge
schichte zu erzählen. Es sollte vermieden werden, daß der Kontakt
durch seine Familie hergestellt wird. Es ist besser, wenn er Sie
durch einen Arzt oder eine Institution kennenlernt. Wenn Ihr Patient
Behandlung in einem Krankenhaus braucht, soll er sie haben, aber
nicht mit dem Zwang, außer wenn er gewalttätig ist. Der Arzt soll
dem Patienten sagen, daß es einen Ausweg aus den Schwierigkeiten
gibt.
Wenn es Ihrem Schützling besser geht, mag der Arzt Ihren Besuch
vorschlagen. Obgleich Sie mit der Familie gesprochen haben, sollten
die Angehörigen aus dem ersten Gespräch herausgehalten werden. Unter
diesen Voraussetzungen wird der Betroffene merken, daß er nicht
unter Zwang steht. Er wird merken, daß er sich mit Ihnen
verständigen kann, ohne daß seine Familie an ihm herumnörgelt.
Besuchen Sie ihn, solange er noch zittert. Wahrscheinlich ist er
zugänglicher, wenn er noch in schlechter Verfassung ist.
Wenn möglich, sollten Sie mit ihm allein sprechen. Fallen Sie nicht
mit der Tür ins Haus, beginnen Sie mit ganz allgemeinen Dingen und
kommen Sie nach einer Weile auf das Trinken zu sprechen. Erzählen
Sie ihm einiges über Ihre Trinkgewohnheiten, Symptome und
Erfahrungen, um ihn zu ermutigen, über sich selbst zu reden. Wenn er
sprechen möchte, lassen Sie ihn. Auf diese Weise wird Ihnen klarer,
wie Sie weitermachen können. Wenn er nicht mitteilsam ist, geben Sie
ihm einen kurzen Überblick über Ihr Trinkerleben bis zu dem
Zeitpunbkt, an dem Sie aufgehört haben. Aber sagen Sie jetzt noch
nicht, wie das gelungen ist. Wenn er niedergeschlagen ist, erzählen
Sie ausführlich von den Schwierigkeiten, die Ihnen der Alkohol
bereitet hat. Dabei sollten Sie es vermeiden, zu predigen oder zu
belehren. Wenn er guter Laune ist, erzählen Sie ihm lustige Episoden
aus Ihrer Vergangenheit. Bringen Sie ihn soweit, daß er von seinen
eigenen Erlebnissen spricht.

Wenn er merkt, daß Sie alle Trinkertricks kennen, dann geben Sie
sich ihm als Alkoholiker zu erkennen. Erzählen Sie ihm, wie
durcheinander Sie waren und wie Sie schließlich erfahren haben, daß
Sie krank sind. Erzählen Sie ihm genau, welche verzweifelten
Versuche Sie gemacht haben, um aufzuhören. Beschreiben
Sie ihm das verwirrte Denken, das wieder zum ersten Glas und damit
zum nächsten Rausch führt. Wir schlagen vor, daß Sie es so machen,
wie wir es im Kapitel über Alkoholismus beschrieben haben. Wenn er
Alkoholiker ist, wird er Sie sofort verstehen. Er wird Ihre
geistigen Ungereimtheiten mit seinen eigenen vergleichen.
Wenn Sie überzeugt sind, daß er wirklich Alkoholiker ist, be
schreiben Sie ihm die Hoffnungslosigkeit der Krankheit. Zeigen Sie
ihm anhand Ihrer eigenen Erfahrungen, wie verwirrt der
Geisteszustand ist, der zum ersten Glas führt und der das
Funktionieren der Willenskraft verhindert. Beziehen Sie sich
jetzt noch nicht auf dieses Buch, es sei denn, er hätte es schon
gesehen und möchte darüber sprechen. Hüten Sie sich davor, ihn als
Alkoholiker abzustempeln. Lassen Sie ihn seine eigenen Schlüsse
ziehen. Wenn er weiterhin meint, kontrolliert trinken zu können,
sagen Sie ihm, daß er das möglicherweise kann - wenn sein
Alkoholismus noch nicht zu weit fortgeschritten ist. Beharren Sie
darauf, daß seine Chancen auf Genesung aus eigener Kraft gering
sind, wenn er ernsthaft krank ist.
Sprechen Sie weiterhin von Alkoholismus als einer Krankheit mit
tödlichem Ausgang. Sprechen Sie mit ihm über die körperlichen und
geistigen Begleiterscheinungen des Alkoholismus. Lenken Sie seine
Aufmerksamkeit auf Ihre eigenen Erfahrungen. Erklären Sie ihm, daß
viele zum Untergang bestimmt sind, die ihre mißliche Lage nicht
wahrhaben wollen. Die Ärzte sind zu Recht abgeneigt, ihren
Alkoholiker-Patienten die ganze Wahrheit zu sagen, es sei denn, es
dient einem guten Ziel. Sie aber können mit ihm über die
Hoffnungslosigeit des Alkoholismus reden, denn Sie bieten eine
Lösung an. Ihr Freund wird bald zugeben, daß er viele, wenn nicht
alle Züge eines Alkoholikers trägt. Wenn sein eigener Arzt bereit
ist, ihm zu sagen, daß er ein Alkoholiker ist, um so besser. Selbst
wenn Ihr Schützling sich seinen Zustand noch nicht ganz eingestanden
hat, wird er neugierig sein, wie Sie es geschafft haben. Lassen Sie
ihn fragen, wenn er will. Erzählen Sie ihm genau, was mit Ihnen
geschehen ist. Betonen Sie nachdrücklich den seelischen Aspekt. Wenn
der Betroffene Agnostiker oder Atheist ist, dann heben Sie sehr
deutlich hervor, daß er mit Ihrer Vorstellung von Gott nicht
übereinstimmen muß. Er kann sich die Vorstellung wählen, die ihm
zusagt, wenn sie ihm selber sinnvoll erscheint. Hauptsache, er ist
bereit, an eine Macht, höher als er selbst, zu glauben und nach
seelischen Grundsätzen zu leben. Wenn Sie es mit so jemandem zu tun
haben, dann benutzen Sie besser die Alltagssprache, um seelische
Grundsätze zu schildern. Es hat keinen Zweck, Vorurteile gegen
theologische Leitsätze und Begriffe wachzurufen, über die er ohnehin
nur verworrene Vorstellungen hat. Bringen Sie solche Dinge nicht zur
Sprache, egal wie Ihre eigene Überzeugung ist.
Ihr Schützling mag einer Konfession angehören. Er mag eine inten
sivere religiöse Erziehung und Ausbildung genossen haben als Sie. In
diesem Falle fragt er sich verwundert, was Sie ihm über sein Wissen
hinaus noch zu sagen haben. Er ist neugierig zu erfahren, warum sein
eigener Glaube versagt hat und warum Ihrer so gute Erfolge zu
erzielen scheint. Ihr Schützling ist vielleicht ein Beispiel für die
Tatsache, daß Glaube allein nicht genügt. Um lebendig zu sein, muß
der Glaube von Selbstaufopferung und selbstlosen, aufbauenden Taten
begleitet sein. Machen Sie dem neuen Freund klar, daß Sie nicht
gekommen sind, um ihm Religionsunterricht zu geben. Geben Sie zu,
daß er wahrscheinlich mehr über Religion weiß als Sie. Aber machen
Sie ihn darauf aufmerksam, daß er seinen Glauben und seine
Erkenntnisse, wie tief sie auch sein mögen, nicht richtig angewandt
hat, sonst würde er nicht trinken. Vielleicht kann er anhand Ihrer
Lebensgeschichte herausfinden, wo er es versäumt hat, nach den
Geboten zu leben, die er so gut kennt. Wir vertreten keinen
bestimmten Glauben, noch irgendeine religiöse Gemeinschaft. Wir
befassen uns nur mit allgemeinen Grundsätzen, wie sie den meisten
Konfessionen gemeinsam sind.
Beschreiben Sie in groben Zügen, wie es bei Ihnen abgelaufen ist,
wie Sie sich eingeschätzt haben, wie Sie mit der Vergangenheit
klargekommen sind und warum Sie sich bemühen, ihm zu helfen. Es ist
wichtig für ihn zu begreifen, daß Ihr Versuch, diese Erfahrung an
ihn weiterzugeben, eine wichtige Rolle bei Ihrer eigenen Genesung
spielt. Es kann durchaus sein, daß er Ihnen mehr hilft, als Sie ihm.
Machen Sie ihm klar, daß er Ihnen nicht verpflichtet ist. Sie hoffen
lediglich, daß auch er versuchen wird, anderen Alkoholikern zu
helfen, wenn er aus seinen eigenen Schwierigkeiten herauskommt.
Weisen Sie drauf hin, wie wichtig es
ist, das Wohlergehen anderer Menschen über das eigene zu stellen.
Machen Sie ihm deutlich, daß er nicht unter Druck steht und daß er
Sie nicht wiederzusehen braucht, wenn er nicht will. Sie sollten
nicht beleidigt sein, wenn er den Kontakt abbrechen will, denn er
hat Ihnen mehr geholfen als Sie ihm. Wenn das, was Sie gesagt haben,
vernünftig, ruhig und voll menschlichem Verständnis war, haben Sie
vielleicht einen Freund gewonnen. Vielleicht haben Sie ihn durch das
Gespräch über den Alkoholismus nachdenklich gemacht. Das wäre nur zu
seinem Besten. Je hoffnungsloser er sich fühlt, um so besser. Er
wird dann eher Ihren Vorschlägen folgen. Ihr Schützling mag Gründe
anführen, warum er meint, das Programm nicht in allen Punkten nötig
zu haben. Er mag sich gegen den Gedanken auflehnen, jetzt ans
Großreinemachen gehen zu müssen, wozu das offene Gespräch mit
anderen notwendig ist. Widersprechen Sie solchen Ansichten nicht.
Erzählen Sie ihm, daß Sie auch einmal so empfunden haben wie er. Sie
bezweifeln aber, ob Sie große Fortschritte gemacht hätten, ohne
etwas zu unternehmen. Sprechen Sie bei dem ersten Besuch von der
Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker. Wenn er Interesse zeigt,
borgen Sie ihm dieses Buch.

Wenn Ihr Freund nicht weiter von sich selbst erzählen will, dehnen
Sie den Besuch nicht zu lange aus. Geben Sie ihm Gelegenheit, über
alles nachzudenken. Wenn Sie dennoch bleiben, lassen Sie ihn die
Richtung des Gesprächs bestimmen. Manchmal ist ein Neuer erpicht
darauf, sofort in das Genesungsprogramm einzusteigen. Sie mögen
versucht sein, es ihm zuzugestehen. Das kann ein Fehler sein. Hat er
nämlich später Schwierigkeiten, könnte er sagen, Sie hätten ihn
gedrängt. Am ehesten werden Sie Erfolg mit Alkoholikern haben, wenn
Sie sich nicht als Kreuzritter oder Reformator aufspielen. Vermeiden
Sie, im Gespräch den Eindruck spiritueller und moralischer
Überheblichkeit zu erwecken. Bieten Sie ihm nur das seelische
Rüstzeug an und zeigen Sie ihm, was Sie damit erreicht haben. Bieten
Sie ihm Freundschaft und Kameradschaft an. Sagen Sie ihm, daß Sie
alles tun werden, um ihm zu helfen, wenn er gesund werden will.
Wenn er an der Lösung, die Sie ihm anbieten, nicht interessiert ist,
wenn er erwartet, daß Sie nur als Bankier für seine finanziellen
Schwierigkeiten fungieren oder als Kindermädchen bei seinen
Sauftouren da sind, dann müssen Sie ihn wahrscheinlich fallenlassen,
bis er seine Meinung ändert. Voraussichtlich wird er das erst tun,
wenn er noch mehr eingesteckt hat.
Sollte er ernsthaft interessiert sein und Sie wiedersehen wollen,
schlagen Sie ihm vor, in der Zwischenzeit dieses Buch zu lesen.
Danach muß er selbst entscheiden, ob er weitermachen will. Er sollte
weder von Ihnen noch von seiner Frau, noch von seinen Freunden
angetrieben oder gedrängt werden. Um Gott zu finden, muß der Wunsch
aus seinem Inneren kommen.
 

Wenn er glaubt, er kann es anders erreichen, oder wenn er einen
anderen spirituellen Weg vorziehen möchte, ermutigen Sie ihn, seinem
eigenen Gewissen zu folgen. Wir haben kein Monopol auf Gott, wir
haben nur unseren Weg zu ihm, der für uns richtig war.
Unterstreichen Sie jedoch, daß wir Alkoholiker vieles gemeinsam
haben und daß Sie ihm auf jeden Fall freundschaftlich gesinnt sind.
Lassen Sie es damit genug sein.
Seien Sie nicht entmutigt, wenn er nicht gleich reagiert. Suchen Sie
sich einen anderen Alkoholiker, und versuchen Sie es erneut. Sie
werden ganz bestimmt einen finden, der verzweifelt genug ist, Ihr
Angebot begierig anzunehmen. Sie verschwenden Zeit, wenn Sie
jemandem nachlaufen, der nicht mitmachen kann oder will. Wenn Sie so
jemanden in Ruhe lassen, wird er bald überzeugt sein, daß er aus
eigener Kraft nicht gesunden kann. Zuviel Zeit für einen einzelnen
verschwenden bedeutet, einem anderen Alkoholiker die
Gelegenheit vorzuenthalten, zu leben und glücklich zu sein. Einer
von uns scheiterte völlig mit seinem ersten halben Dutzend
Schützlingen. Heute erzählt er oft von den vielen, die inzwischen
genesen sind und die um ihre Chance gebracht worden wären, wenn er
sich weiter mit den noch Uneinsichtigen beschäftigt hätte.
Angenommen, es kommt zu einem zweiten Gespräch. Der andere hat
inzwischen dieses Buch gelesen und sagt, er sei bereit, sich mit den
Zwölf Schritten des Genesungsprogramms zu befassen. Da Sie selbst
Erfahrungen damit gemacht haben, können Sie ihm viele praktische
Tips geben. Lassen Sie ihn wissen, daß Sie zur Verfügung stehen,
wenn er sich Ihnen anvertrauen möchte. Bestehen Sie aber nicht
darauf, wenn er sich lieber an jemand anderen wenden will.
Vielleicht ist er pleite und obdachlos. In diesem Fall könnten Sie
ihm helfen, eine Arbeit zu finden oder ihm eine kleine finanzielle
Unterstützung gewähren. Ihre Familie und die sonstigen
Verpflichtungen haben natürlich Vorrang. Vielleicht möchten Sie
Ihren Schützling für einige Tage bei sich zu Hause aufnehmen. Aber
holen Sie zuerst das Einverständnis Ihrer Familie ein und passen Sie
auf, daß der andere Sie nicht wegen Ihres Geldes, Ihrer Beziehungen
und Ihrer Gastfreundschaft ausnützt. Wenn Sie das zulassen, schaden
Sie ihm nur. Sie ermöglichen ihm, unaufrichtig zu sein. Sie tragen
eher dazu bei, daß er vor
die Hunde geht, als daß Sie ihm helfen.
Scheuen Sie nie diese Verantwortung, aber gehen Sie sicher, daß Sie
das Richtige tun, wenn Sie solche Verantwortung übernehmen. Anderen
zu helfen, ist der Grundstein Ihrer Genesung. Ab und zu eine
freundliche Tat ist nicht genug. Wenn es nötig ist, müssen Sie
täglich der gute Samariter sein. Das kann Sie viele schlaflose
Nächte kosten, Ihre Freizeit stark beeinträchtigen und Ihre
berufliche Arbeit stören. Es könnte bedeuten, Geld und Heim zu
teilen, aufgebrachte Ehefrauen und Verwandte zu beraten, zahllose
Besuche auf Polizeirevieren, in Sanatorien, Krankenhäusern,
Gefängnissen und Obdachlosenheimen zu machen. Es ist möglich, daß
Ihr Telefon Tag und Nacht klingelt. Ihre Frau wird Ihnen manchmal
sagen, daß sie sich vernachlässigt fühlt. Es ist möglich, daß ein
Betrunkener das Mobilar Ihres Hauses zerschlägt oder eine Matratze
anbrennt. Es kann sein, daß Sie sich ihm gegenüber zur Wehr setzen
müssen, wenn er gewaltätig wird. Manchmal müssen Sie einen Arzt
rufen und nach seiner Weisung Beruhigungsmittel verabreichen. Ein
anderes Mal kann es sein, daß Sie die Polizei oder eine Ambulanz
rufen müssen. Gelegentlich werden Sie mit solchen Dingen
konfrontiert.
Selten gestatten wir einem Alkoholiker, für längere Zeit in unserer
Wohnung zu leben. Es ist nicht gut für ihn und schafft manchmal
ernsthafte Probleme in der Familie.
Auch wenn ein Alkoholiker auf angebotene Hilfe nicht eingeht,
besteht kein Grund, seine Familie hängenzulassen. Ihr gegenüber
sollten Sie weiterhin hilfsbereit sein. Sprechen Sie mit der Familie
über ihre Lebensweise. Wenn sie seelische Grundsätze annimmt und
praktiziert, hat das Familienoberhaupt eine viel größere Chance zu
genesen. Selbst wenn er weiter trinkt, wird für die Familie das
Leben erträglicher sein.
Für den Alkoholiker, der willig und fähig ist, gesund zu werden, ist
wenig Fürsorge im eigentlichen Sinne des Wortes nötig oder
erwünscht. Diejenigen, die nach Geld und Obdach rufen, anstatt sich
um ihr Alkoholproblem zu kümmern, sind auf dem Holzweg. Trotzdem
gehen wir sehr weit, um einander mit dem Nötigsten zu versorgen,
wenn es angebracht ist. Das mag dem Außenstehenden widersprüchlich
erscheinen, wir meinen jedoch, daß es in Ordnung ist.
Es geht nicht darum, ob wir geben, sondern wann und wie. Oft hängt
davon Erfolg oder Mißerfolg ab. In dem Augenblick, in dem unsere
Fürsorge zur Versorgung wird, fängt der Alkoholiker an, sich mehr
auf unsere Hilfe zu verlassen als auf Gott. Unser Schützling
verlangt nach diesem und jenem und behauptet, er könne
mit dem Alkoholproblem nicht fertig werden, bevor seine materielle
Not behoben ist. - Unsinn! Einige von uns mußten sehr harte Schläge
einstecken, bevor sie diese Wahrheit gelernt hatten: Arbeit oder
keine Arbeit - Frau oder keine Frau -, wir hören einfach solange mit
dem Trinken nicht auf, solange wir die Abhängigkeit von anderen
Menschen über die Abhängigkeit von Gott stellen.
Prägen Sie es tief in das Bewußtsein eines jeden Alkoholikers, daß
er gesund werden kann, ohne sich materiell von anderen abhängig zu
machen. Die einzige Bedingung ist, daß er Gott vertraut und reinen
Tisch macht.
Nun zum häuslichen Problem: Es mag Scheidung, Trennung oder ge
spannte Beziehungen geben. Wenn Ihr Schützling bei seiner Familie
wiedergutgemacht hat, soviel er konnte, und ihr sorgfältig erklärt
hat, nach welchen neuen Grundsätzen er jetzt lebt, sollte er
anfangen, diese Grundsätze nun zu Hause in die Tat umzusetzen.
Sofern er noch in der glücklichen Lage ist, ein Zuhause zu haben.
Obwohl seine Familie vielleicht auch Fehler gemacht hat, sollte er
sich zunächst nicht darum kümmern. Er sollte sich vielmehr darauf
konzentrieren, sein eigenes seelisches Programm zu leben. Streit und
Fehlersuchen sollten gemieden werden wie die Pest. In vielen
Familien ist das schwer durchzuführen, aber es muß gemacht werden,
wenn man Erfolg sehen will. Wenn das einige Monate durchgehalten
wird, ist die Wirkung auf die Familie sicherlich groß. Die
unverträglichsten Leute entdecken, daß sie eine gemeinsame Basis
haben, auf der sie sich finden können. Nach und nach werden die
Angehörigen ihre eigenen Unzulänglichkeiten einsehen und zugeben.
Alles kann dann in einer Atmosphäre von Hilfsbreitschaft und
Freundlichkeit besprochen werden.
Nachdem die Angehörigen greifbare Erfolge sehen, werden sie wahr
scheinlich mitziehen. Das wird alles von selbst und zur rechten Zeit
geschehen. Voraussetzung ist, daß der Alkoholiker dabei bleibt,
nüchtern, rücksichtsvoll und hilfsbereit zu sein, ganz gleich, was
andere sagen oder tun. Natürlich können wir alle diesem hohen
Anspruch nicht ständig genügen. Haben wir Fehler gemacht, müssen wir
den angerichteten Schaden wiedergutmachen, wenn wir nicht mit einem
Rückfall bestraft werden wollen.
Wenn es eine Scheidung oder Trennung gegeben hat, so sollte sich das
Paar nicht übereilt wieder zusammentun. Der Mann sollte sich seiner
Genesung sicher sein. Die Frau sollte volles Verständnis für die
neue Lebensführung aufbringen. Wenn beide ihre alte Beziehung wieder
aufnehmen wollen, dann nur auf einer besseren Grundlage, denn die
vorige war schlecht. Das erfordert von beiden eine neue Einstellung
und eine neue Haltung. Manchmal ist es im Interesse aller
Beteiligten, das ein Paar getrennt bleibt. Offensichtlich gibt es
dafür keine Regeln. Lassen wir den Alkoholiker sein Programm Tag für
Tag leben. Wenn die Zeit für ein gemeinsames Leben gekommen ist,
werden es beide Teile spüren. Nehmen Sie es keinem Alkoholiker ab,
wenn er sagt, er könne nicht eher genesen, bis er seine Familie
zurückhat. Das stimmt einfach nicht. Es gibt Fälle, in denen die
Frau aus dem einen oder
anderen Grund nie zurückkommt. Erinnern Sie den Schützling daran,
daß seine Genesung nicht von Menschen abhängt. Sie ist von seiner
Beziehung zu Gott abhängig. Wir haben Menschen erlebt, die gesund
geworden sind, obwohl ihre Familie überhaupt nicht zurückgekehrt
ist. Wir haben andere erlebt, die rückfällig wurden, als die Familie
zu früh zurückkam.
Sie beide, der Neue und Sie, müssen Tag für Tag auf dem Weg des
spirituellen Fortschritts gehen. Wenn Sie beide durchhalten, werden
erstaunliche Dinge geschehen. Rückblickend erkennen wir, daß alles,
was mit uns geschah, nachdem wir uns Gott anvertraut hatten, besser
war als alles, was wir jemals hätten planen können. Folgen Sie den
Geboten der Höheren Macht, und Sie werden bald in einer neuen und
besseren Welt leben, ganz gleich, wie es jetzt um Sie steht!
Wenn Sie sich mit einem Alkoholiker und seiner Familie befassen,
sollten Sie darauf achten, sich nicht in ihre Streitigkeiten
einzumischen. Damit vergeben Sie sich vielleicht die Chance zu
helfen. Machen Sie der Familie mit Nachdruck klar, daß er sehr
krank war und entsprechend behandelt werden sollte. Sie sollten vor
aufkommendem Groll und Eifersucht warnen. Sie sollten darauf
hinweisen, daß seine Charaktermängel nicht über Nacht verschwinden
werden. Erklären Sie ihnen, daß er am Beginn einer Entwicklung
steht. Wenn die Familie ungeduldig wird, sei sie an die
segensreiche Tatsache erinnert, daß er nüchtern ist.
Wenn Sie bei der Lösung Ihrer eigenen häuslichen Probleme erfolg
reich waren, erzählen Sie der Familie des Neuen, wie Sie das
geschafft haben. So können Sie auf den richtigen Weg weisen, ohne
zu kritisieren. Die Geschichte, wie Sie und Ihre Frau die Schwie
rigkeiten gemeistert haben, ist wertvoller, als Kritik zu üben.
Vorausgesetzt, wir sind seelisch in guter Verfassung, so können wir
alle möglichen Dinge tun, vor denen Alkoholiker oft gewarnt werden.
Die Leute meinen, wir dürften da nicht hineingehen, wo Alkohol
ausgeschenkt wird; wir sollten ihn nicht im Hause haben; wir
sollten Freunden aus dem Weg gehen, die Alkohol trinken; wir
sollten Filme meiden, in denen Trinkszenen vorkommen; wir sollten
nicht in Bars gehen; unsere Freunde sollten ihre Flaschen wegräu
men, wenn wir sie besuchen; wir sollten weder an Alkohol denken,
noch überhaupt daran erinnert werden. Unsere Erfahrung zeigt aber,
daß das alles gar nicht so sein muß.
Wir werden täglich mit Alkohol konfrontiert. Ein Alkoholiker, der
damit nicht fertig wird, steckt immer noch im alkoholischen Denken.
Mit seiner seelischen Verfassung stimmt irgend etwas nicht. Seine
einzige Chance, nüchtern zu bleiben, wäre ein Ort wie Grönland. Und
selbst dort könnte ein Eskimo mit einer Flasche Whisky auftauchen
und alles ruinieren! Fragen Sie einmal eine Frau, die ihren Mann an
einen entlegenen Ort geschickt hat, in der Annahme, er würde dort
seinem Alkoholproblem entkommen!
Die Bekämpfung des Alkoholismus nach der Methode, den kranken
Menschen von der Versuchung fernzuhalten, ist nach unserer Meinung
zum Scheitern verurteilt. Wenn der Alkoholiker versucht, sich
selbst abzuschirmen, kann ihm das eine Zeitlang gelingen.
Gewöhnlich aber endet das mit einer neuen Katastrophe. Wir haben
diese Methoden ausprobiert. Diese Versuche, das Unmögliche zu tun,
sind immer fehlgeschlagen.
Es gibt keine Regel, die uns verbietet, an Orte zu gehen, wo
getrunken wird. Wir können überall hingehen, wenn wir einen ver
nünftigen Grund haben, uns dort aufzuhalten. Wir meinen damit Bars,
Nachtklubs, Tanzveranstaltungen, Empfänge, Hochzeiten und Partys.
Wer Erfahrungen mit einem Alkoholiker hat, dem mag das wie eine
Herausforderung des Schicksals vorkommen, aber das ist es nicht.

Sie haben sicher gemerkt, daß wir eine wichtige Einschränkung
gemacht haben. Fragen Sie sich deshalb bei jedem Anlaß: "Gibt es
für mich triftige gesellschaftliche, geschäftliche oder persönliche
Gründe, um dorthin zu gehen? Oder erwarte ich etwas Ersatzvergnügen
durch die Atmosphäre solcher Orte?" Wenn Sie sich auf diese Frage
befriedigende Antworten geben können, brauchen Sie keine
Befürchtungen zu haben. Gehen Sie hin oder halten Sie sich fern,
was immer Sie für richtig halten. Seien Sie sicher, daß Sie
seelisch in guter Verfassung sind, ehe Sie aufbrechen, und daß Sie
einen guten Grund haben, dorthin zu gehen. Denken Sie nicht daran,
was der Anlaß Ihnen bringt, sondern denken Sie daran, was Sie dort
einbringen können. Wenn Sie Zweifel haben, dann unterhalten Sie
sich lieber mit einem anderen Alkoholiker! Warum mit langem Gesicht
dort sitzen, wo getrunken wird, und den "guten alten Tagen"
nachtrauern? Wenn es ein froher Anlaß ist, versuchen Sie, zur guten
Laune der anderen beizutragen; wenn es ein geschäftlicher Anlaß
ist, kümmern Sie sich aufmerksam um Ihre Geschäfte. Wenn Sie mit
jemandem zusammen sind, der in einem
Restaurant essen möchte, gehen Sie auf alle Fälle mit. Lassen Sie
Ihre Freunde wissen, daß sie wegen Ihnen keine Gewohnheiten zu
ändern brauchen. Erklären Sie allen Freunden zur rechten Zeit und
am richtigen Ort, warum Ihnen Alkohol nicht bekommt. Wenn Sie das
überzeugend tun, wird Sie kaum jemand zum Trinken einladen. Während
Ihrer Trinkerzeit hatten Sie sich mehr und mehr isoliert. Jetzt
kehren Sie ins gesellschaftliche Leben zurück. Fangen Sie nicht
wieder an, sich zurückzuziehen, nur weil Ihre Freunde Alkohol
trinken.
Heute ist es Ihre Aufgabe, dort zu sein, wo Sie anderen größtmög
liche Hilfe sein können. Zögern Sie nie, dorthin zu gehen, wo Sie
helfen können, auch dann nicht, wenn es sich um einen noch so üblen
Platz handelt. Bleiben Sie immer an vorderster Front mit Ihrem
Auftrag, und Gott wird Sie schützen.
Viele von uns haben Alkohol zu Hause. Manche brauchen ihn, um
Schützlingen über einen schweren Kater hinwegzuhelfen. Einige von
uns bieten ihren Gästen nach wie vor Alkohol an, wenn es keine
Alkoholiker sind. Andere meinen, wir sollten niemand Alkohol
anbieten. Diese Frage wird bei uns nicht diskutiert. Wir sind der
Meinung, daß jede Familie das selbst entscheiden kann. Sorgfältig
sollten wir darauf achten, keine Intoleranz und keinen Haß
gegenüber den Trinkgewohnheiten der Gesellschaft zu zeigen. Die
Erfahrung lehrt, daß solche Haltung keinem hilft. Jeder Neue
rechnet damit, daß wir eine solche Einstellung haben, und ist
unendlich erleichtert festzustellen, daß wir keine Hexenverbrenner
sind. Der Geist der Intoleranz könnte Alkoholiker abstoßen, deren
Leben ohne diese Engstirnigkeit hätte gerettet werden können.
Selbst der Sache der Abstinenzlerbewegung würden wir mit Intoleranz
keinen guten Dienst erweisen. Kein Trinker unter Tausenden läßt
sich gern etwas über Alkohol erzählen von jemandem, der den Alkohol
haßt.
Eines Tages, so hoffen wir, werden die Anonymen Alkoholiker der
Öffentlichkeit
dazu verhelfen, die Schwere des Alkoholproblems besser zu verste
hen. Das werden wir jedoch nie erreichen, wenn wir eine verbitterte
oder feindselige Einstellung gegenüber dem Alkohol haben. Bei
Trinkern würden wir damit sowieso nichts erreichen. Letzten Endes
haben wir unsere Probleme selbst geschaffen. Die Flaschen waren nur
ein Symbol. Außerdem haben wir aufgehört, jemanden oder etwas zu
bekämpfen. Wir müssen das einfach!
 

Kapitel 8
An die Ehefrauen
Von einigen Ausnahmen abgesehen, ist in unserem Buch bisher nur von
Männern die Rede. Aber das, was wir gesagt haben, trifft genauso
auf Frauen zu. Mehr und mehr kümmern wir uns jetzt auch um
trinkende Frauen. Alles deutet darauf hin, daß Frauen ihre
Gesundheit genauso schnell wiedererlangen wie Männer, wenn sie
unseren Vorschlägen folgen.
Bei jedem Mann, der trinkt, sind auch andere betroffen: die Ehe
frau, die vor Angst zitternd die nächste Sauferei erwartet; Mutter
und Vater, die zusehen müssen, wie ihr Son langsam verkommt.
Unter uns gibt es Ehefrauen, Angehörige und Freunde, deren Problem
gelöst wurde, aber auch solche, die bis jetzt keine befriedigende
Lösung gefunden haben. Wir möchten, daß sich die Ehefrauen von
Anonymen Alkoholikern an die Frauen wenden, deren Männer trinken.
Was die Frauen von Anonymen Alkoholikern zu sagen haben, kann fast
jedem helfen, der durch die Bande des Blutes oder der Liebe mit
einem Alkoholiker verbunden ist.
Als Ehefrauen von Anonymen Alkoholikern möchten wir, daß Sie
merken, daß wir Sie verstehen wie kaum ein anderer. Wir wollen hier
die Fehler untersuchen, die wir selbst gemacht haben. Wir
wollen Ihnen das Gefühl vermitteln, daß keine Lage zu schwierig und
kein Unglück zu groß ist, um nicht überwunden zu werden. Wir sind
einen schweren Weg gegangen, darüber gibt es keinen
Zweifel. Lange mußten wir uns mit verletztem Stolz, Enttäuschung,
Selbstmitleid, Mißverständnis und Angst herumschlagen. Keine
angenehmen Begleiter. Wir wurden von übertriebener Zuneigung bis zu
bitterem Groll getrieben. Einige von uns fielen von einem Extrem
ins andere, immer in der Hoffnung, daß eines Tages unsere Lieben
wieder sie selbst sein würden.
Unsere Treue und der Wunsch, daß unsere Ehemänner den Kopf hoch
tragen und wie
andere Männer sein sollten, haben uns in viele mißliche Lagen
gebracht. Wir waren uneigennützig und aufopfernd. Um unseren Stolz
und den Ruf unseres Ehemannes zu schützen, haben wir unzählige
Lügen verbreitet. Wir haben gebetet, gebettelt, wir waren geduldig.
Wir haben wie wild um uns geschlagen. Wir sind weggelaufen. Wir
waren hysterisch. Wir waren krank vor Angst. Wir sehnten uns nach
Zuneigung. Um uns zu rächen, hatten wir Liebesaffären mit anderen
Männern.
Unser Zuhause war an vielen Abenden ein Schlachtfeld. Am nächsten
Morgen küßten wir uns und vertrugen uns wieder. Unsere Freunde
haben uns geraten, den Mann zu verlassen, was wir mit Entschlos
senheit getan haben. Nach kurzer Zeit sind wir dann doch wieder
zurückgekehrt und haben weiter gehofft. Unsere Männer haben große
heilige Eide geschworen, daß sie nun für immer mit dem Trinken
aufgehört hätten. Wir haben ihnen geglaubt, wenn das auch sonst
keiner konnte oder wollte. Dann, nach Tagen, Wochen oder Monaten
war wieder die Hölle los.
Selten hatten wir Freunde zu Hause, denn wir wußten nie, in welchem
Zustand oder zu welcher Zeit der Herr des Hauses erscheinen würde.
Wir konnten kaum gesellschaftliche Verpflichtungen eingehen. Bald
waren wir so weit, daß wir fast allein lebten. Wenn wir irgendwohin
eingeladen wurden, tranken unsere Ehemänner heimlich soviel, daß
sie den ganzen Abend verdarben. Wenn sie jedoch nichts tranken,
machte ihr Selbstmitleid sie zu Spielverderbern.
 

Es gab keine finanzielle Sicherheit. Sein Arbeitsplatz war immer in
Gefahr oder verloren. Nicht einmal ein Panzerwagen hätte die
Lohntüte nach Hause bringen können. Das Konto schmolz dahin wie
Butter in der Sonne.
Manchmal gab es auch andere Frauen. Wie niederschmetternd war diese
Entdeckung! Wie grausam zu hören, daß andere Frauen unsere Männer
verstehen und wir nicht!
An der Tür hatten wir Geldeintreiber, Gerichtsvollzieher, wütende
Taxifahrer, Polizisten, Penner, Kumpels und sogar die Damen, die er
manchmal nach Hause brachte. Und unsere Ehemänner hielten uns für
ungastlich. "Spielverderberin, Meckerziege und Hausdrachen" - so
nanntemn sie uns. Am nächsten Tag waren sie wieder die alten, und
wir vergaben ihnen wieder und versuchten zu vergessen.
Wir haben versucht, die Liebe unserer Kinder zu ihrem Vater zu
erhalten. Den Kleinen haben wir erzählt, daß Vater krank sei, was
der Wahrheit näherkam, als wir wußten. Unsere Männer schlugen die
Kinder, traten Türfüllungen ein, zertrümmerten wertvolles Geschirr
und rissen die Tasten aus dem Klavier. Inmitten dieser Hölle war es
möglich, daß sie mit der Drohung wegliefen, für immer mit der
anderen Frau zusammenzuleben. In der Verzweiflung haben wir uns
selbst betrunken - das Besäufnis, um alle Besäufnisse zu beenden.
Das unerwartete Ergebnis war, daß unsere Ehemänner das sogar
mochten.
An diesem Punkt angelangt, ließen wir uns vielleicht scheiden und
nahmen die Kinder mit nach Hause zu unseren Eltern. Daraufhin
wurden wir von den Schwiegereltern scharf kritisiert, weil wir ihn
verlassen hatten. Normalerweise sind wir geblieben, immer wieder.
Als uns und unseren Familien die Armut drohte, suchten wir uns
schließlich selbst Arbeit.
Als die Besäufnisse immer dichter aufeinander folgten, holten wir
uns ärztlichen Rat. Die alamierenden körperlichen und geistigen
Symptome, die Anfälle von tiefer Reue, Depressionen und
Minderwertigkeitsgefühlen, die sich unserer Männer bemächtigten -
all das erschreckte und quälte uns. Wie Tiere in einer Tretmühle
haben wir geduldig und unermüdlich getreten. Jeder Versuch, Boden
zu gewinnen, war vergeblich, und wir sind erschöpft zurückgefallen.
Die meisten von uns haben das letzte Stadium miterlebt: Einweisung
in Kuranstalten, Krankenhäuser und Gefängnisse. Manchmal gab es
Delirien und Irrsinn. Der Tod war oft nahe.
Unter solchen Umständen machten wir natürlich Fehler. Einige
entstanden aus der Unwissenheit über Alkoholismus. Manchmal hatten
wir so etwas wie eine Ahnung, daß wir es mit kranken Menschen zu
tun hatten. Hätten wir die Besonderheit der Alkoholkrankheit
wirklich verstanden, hätten wir uns wahrscheinlich anders
verhalten.
Wie konnten Männer, die ihre Frauen und Kinder liebten, so gedan
kenlos, gefühllos und grausam sein. In solchen Menschen kann keine
Liebe sein, dachten wir. Als wir gerade von ihrer Herzlosigkeit
überzeugt waren, überraschten sie uns mit erneuten Vorsätzen und
neuen Aufmerksamkeiten. Eine Zeitlang waren sie liebenswert wie
früher. Kurz darauf machten sie die neu aufgebaute Zuneigung wieder
kaputt. Fragte man sie, warum sie wieder trinken, hatten sie als
Antwort eine dumme Entschuldigung oder auch keine. Es war so
verwirrend und so niederdrückend. Konnten wir uns in den Männern,
die wir geheiratet hatten, so getäuscht haben? Wenn sie tranken,
waren sie Fremde. Manchmal waren sie so unzugänglich, daß es
schien, als wäre eine große Mauer um sie herum gebaut.
Und selbst, wenn sie ihre Familien nicht liebten, wie konnten sie
sich selbst gegenüber so blind sein? Was war aus ihrem
Urteilsvermögen, ihrem gesunden Menschenverstand und ihrer
Willenskraft geworden? Warum konnten sie nicht begreifen, daß
Trinken ihren Untergang bedeutete? Wie kam es, daß sie alles
einsahen, wenn sie auf die Gefahren aufmerksam gemacht wurden, und
sich dann doch sofort wieder betranken?
Das sind Fragen, die jede Frau bewegen, die einen Alkoholiker zum
Mann hat. Wir hoffen, daß dieses Buch einige Fragen beantwortet
hat. Vielleicht hat Ihr Mann in dieser seltsamen Welt des Alkoho
lismus gelebt, wo alles verzerrt und übertrieben ist. Sie spüren
sicherlich, daß er Sie mit seinem besseren Ich wirklich liebt.
Natürlich gibt es da Dinge, die nicht zusammenpassen. Beinahe in
jedem Fall aber erscheint uns der Alkoholiker nur lieblos und
rücksichtlos. Das kommt daher, weil er selbst verwirrt und ange
ekelt ist von diesen schrecklichen Dingen, die er sagt und tut.
Heute sind die meisten unserer Männer bessere Ehegatten und Väter
als sie es je waren.
Versuchen Sie, Ihren alkoholkranken Mann nicht zu verdammen,
einerlei was er sagt oder tut. Er ist lediglich ein veränderter,
sehr kranker, unvernünftiger Mensch. Behandeln Sie ihn, wenn Sie
können, als hätte er Lungenentzündung. Wenn er Sie ärgert, denken
Sie daran, daß er sehr krank ist.
Für das eben Gesagte gibt es aber eine wichtige Ausnahme. Wir sind
uns darüber im klaren, daß es einige Männer gibt, die unfähig sind,
gute Vorsätze zu entwickeln. Da hilft auch keine Geduld. Ein
Alkoholiker mit dieser Veranlagung ist schnell bei der Hand, Ihnen
dieses Kapitel um die Ohren zu schlagen. Lassen Sie ihm das nicht
durchgehen. Wenn Sie sicher sind, daß er ein solcher Typ ist,
könnten Sie zu der Überzeugung gelangen, es wäre besser zu gehen.
Soll er denn Ihr Leben und das Ihrer Kinder ruinieren? Vor allem
dann, wenn er die Möglichkeit hat, seinen Alkoholmißbrauch zu
beenden, sofern er wirklich den Preis dafür bezahlen will.
Das Problem, mit dem Sie sich für gewöhnlich herumschlagen, fällt
unter eine von vier Kategorien:
Erstens: Ihr Ehemann ist vielleicht nur ein starker Trinker. Es
kann sein, daß
er regelmäßig trinkt oder sehr viel nur bei bestimmten Anlässen.
Vielleicht gibt er zuviel Geld für Schnaps aus. Es kann sein, daß
es seine geistigen und körperlichen Kräfte mindert, aber er merkt
es nicht. Manchmal versetzt er sie und seine Freunde in Verwirrung.
Er ist davon überzeugt, daß er mit dem Schnaps umgehen kann, daß
Schnaps ihm nicht schadet und daß Trinken in seinem Beruf notwendig
ist. Er wäre wahrscheinlich beleidigt, wenn man ihn als Alkoholiker
bezeichnen würde. Die Welt ist voll von Leuten wie er. Einige
werden weniger trinken oder ganz aufhören und andere wieder nicht.
Von denen, die weitertrinken, werden viele nach einiger Zeit zu
richtigen Alkoholikern. Zweitens: Ihr Ehemann zeigt
Kontrollverluste. Er ist nicht in der Lage, für kürzere oder
längere Zeit auf Alkohol zu verzichten, selbst wenn er wollte. Oft
hat er sich nicht mehr in der Hand, wenn er trinkt. Er gibt zu, daß
das stimmt, aber ist davon überzeugt, daß er sich bessern wird. Mit
oder ohne Hilfe macht er Experimente, weniger oder gar nichts zu
trinken. Mag sein, daß seine Freunde anfangen, sich von ihm
abzuwenden. Vielleicht leidet auch sein Beruf schon darunter.
Manchmal ist er beunruhigt und spürt, daß er nicht trinken kann wie
andere Leute. Oft trinkt er morgens und den ganzen Tag hindurch, um
seine Nervosität unter Kontrolle zu halten. Nach schweren
Trinkgelagen hat er Gewissensbisse und erzählt Ihnen, daß er
aufhören möchte. Wenn er den Kater überwunden hat, denkt er schon
wieder darüber nach, wie er das nächste Mal mäßig trinken kann. Wir
glauben, dieser Mann ist in Gefahr. Das sind die Kennzeichen eines
echten Alkoholikers. Vielleicht kann er seinen Beruf immer noch
ziemlich gut ausüben. Er hat noch keineswegs alles zerstört. Wie
wir unter uns sagen, "er will aufhören wollen".
Drittens: Dieser Ehemann ist noch viel weiter gegangen als Ehemann
Nummer zwei. Obgleich er einst genau wie Nummer zwei war, wurde es
bei ihm schlimmer. Seine Freunde haben sich abgewandt, sein
Familienleben ist fast kaputt, und er kann in keiner Stellung mehr
bleiben. Vielleicht wurde der Arzt gerufen, und der elende
Kreislauf durch Sanatorien und Krankenhäuser hat begonnen. Er gibt
zu, daß er nicht wie andere Leute trinken kann, aber versteht nicht
warum. Er klammert sich an die Vorstellung, daß er doch noch einen
Weg finden wird, aufzuhören. Es ist möglich, daß er den Punkt
erreicht hat, wo er es verzweifelt wünscht, aber nicht kann. Sein
Fall wirft zusätzliche Fragen auf. Wir werden versuchen, sie Ihnen
zu beantworten. Selbst in einer solchen Situation können Sie noch
zuversichtlich sein.
Viertens: Vielleicht haben Sie einen Ehemann, an dem Sie völlig
verzweifeln. Er wurde von einer Anstalt in die andere gebracht. Er
ist gewalttätig oder macht einen geistesgestörten Eindruck, wenn er
betrunken ist. Manchmal trinkt er schon auf dem Rückweg vom
Krankenhaus. Vielleicht hat er ein Delirium tremens gehabt. Die
Ärzte mögen die Köpfe schütteln und Ihnen den Rat geben, ihn
verwahren zu lassen. Und doch ist dieses Bild vielleicht nicht so
schwarz, wie es aussieht. Viele unserer Ehemänner waren genausoweit
gekommen. Trotzdem wurden sie gesund.
Lassen Sie uns nun auf Ehemann Nummer eins zurückkommen. Eigenar
tigerweise ist es oft schwer, mit ihm umzugehen. Er hat Spaß am
Trinken. Es beflügelt seine Vorstellungskraft. Er fühlt sich seinen
Freunden näher bei einem Drink. Vielleicht trinken Sie selbst gern
mit ihm, wenn er es nicht übertreibt. Sie haben glückliche Abend
mit ihm verbracht, plaudernd bei einem Glas Wein. Vielleicht lieben
Sie beide Parties, die ohne Alkohol langweilig wären. Wir haben
selbst solche Abende genossen und hatten Spaß daran. Wir wissen,
daß Alkohol Geselligkeiten in Schwung zu bringen vermag. Einige von
uns - nicht alle - meinen, Alkohol habe Vorzüge, wenn man ihn
vernünftig trinkt.
Die erste Voraussetzung für den Erfolg ist, daß Sie niemals wütend
sind. Selbst dann, wenn Ihr Mann unerträglich wird und Sie
ihn vorübergehend verlassen müssen, sollten Sie, wenn Sie können,
ohne Groll gehen. Geduld und Ausgeglichenheit sind äußerst wichtig.
Was sein Trinken betrifft, sollten Sie ihm unserer Ansicht nach
keine Vorschriften machen. Wenn er auf die Idee kommt, Sie seien
eine Nörglerin oder Spielverderberin, ist Ihre Chance gleich Null,
irgend etwas Nützliches zu erreichen. Er wird dies als Ausrede
benutzen, noch mehr zu trinken. Er wird Ihnen sagen, daß Sie ihn
nicht verstehen. Das wird zu einsamen Abenden für Sie führen. Er
wird vielleicht jemand anderen suchen, der ihn tröstet - nicht
immer einen anderen Mann.

Setzen Sie alles daran, daß das Trinken Ihres Mannes die
Beziehungen zu den Kindern oder den Freunden nicht zerstört. Die
Kinder brauchen Ihre Kameradschaft und Hilfe. Es ist möglich, daß
Sie ein ausgefülltes und nützliches Leben führen, obwohl Ihr
Partner weitertrinkt. Wir kennen Frauen, die keine Angst haben und
selbst unter diesen Umständen zufrieden sind. Verbrauchen Sie nicht
zuviel Kraft, um Ihren Ehemann umzukrempeln. Vielleicht sind Sie
dazu
auch gar nicht in der Lage, wie sehr Sie sich auch anstrengen. Wir
wissen, daß es manchmal schwierig ist, diesen Vorschlägen zu
folgen. Aber Sie können sich viel Kummer ersparen, wenn es Ihnen
gelingt, sie zu beachten. Vielleicht wird Ihr Mann Ihre Vernunft
und Ihre Geduld schätzen. Das kann der Grundstein sein für ein
sachliches Gespräch über sein Alkoholproblem. Versuchen Sie,
solange zu warten, bis er das Thema selbst anschneidet. Geben Sie
acht, daß Sie ihn während einer solchen Diskussion nicht
kritisieren. Versuchen Sie statt dessen, sich in seine Lage zu
versetzen. Lassen Sie ihn fühlen, daß Sie ihm helfen möchten und
ihn nicht kritisieren wollen.
Wenn es zu einer Aussprache kommt, können Sie ihm vorschlagen,
dieses Buch oder wenigstens das Kapitel über Alkoholismus zu lesen.
Sagen Sie ihm, daß Sie sich Sorgen gemacht haben, wenn auch
vielleicht umsonst. Sie glaubten aber, er sollte über die Sache
besser Bescheid wissen. Jeder sollte sich über das Risiko im klaren
sein, das er eingeht, wenn er zuviel trinkt. Geben Sie ihm zu
verstehen, daß Sie an seine Fähigkeiten glauben, aufzuhören oder
weniger zu trinken. Sagen Sie ihm, daß Sie keine Miesmacherin sein
wollen; Sie möchten nur, daß er auf seine Gesundheit achtet. So
werden Sie vielleicht erreichen, ihn für das Thema Alkohol zu
interessieren.
Wahrscheinlich hat er einige Alkoholiker unter seinen Bekannten.
Sie könnten vorschlagen, daß Sie sich beide um sie kümmern. Trinker
helfen gern anderen Trinkern. Ihr Mann möchte vielleicht mit einem
von ihnen sprechen. Wenn dieses Vorgehen bei Ihrem Mann kein
Interesse weckt, ist es besser, die Sache ganz fallenzulassen. Wenn
das Gespräch gut war, wird er das Thema später von sich aus
aufgreifen. Das mag geduldiges Warten erfordern, aber die Sache ist
es wert. In der Zwischenzeit können Sie versuchen, der Frau eines
anderen starken Trinkers zu helfen. Wenn Sie nach diesen Prinzipien
handeln, ist es möglich, daß Ihr Mann aufhört oder weniger trinkt.
Angenommen, die Beschreibung Nummer zwei trifft auf Ihren Mann zu.
Die gleichen Regeln wie bei Nummer eins sollten angewandt werden.
Aber nach seinen nächsten Saufgelagen fragen Sie ihn, ob er
wirklich den Wunsch hat, mit dem Trinken aufzuhören. Bitten Sie ihn
nicht, er solle es für Sie oder irgend jemand anderen tun. Will er
es denn wirklich?

Wahrscheinlich will er. Zeigen Sie ihm dieses Buch und sagen Sie
ihm, was Sie über Alkoholismus herausgefunden haben. Weisen Sie ihn
darauf hin, daß die Verfasser dieses Buches als Alkoholiker etwas
davon verstehen. Erzählen Sie ihm einige der interessanten
Geschichten, die Sie gelesen haben. Wenn Sie das Gefühl haben, daß
er vor einem seelischen Heilmittel zur Genesung noch zurück-
schreckt, fordern Sie ihn auf, daß Kapitel über Alkoholismus zu
lesen. Vielleicht wird ihn das dazu anregen weiterzumachen. Wenn er
begeistert ist, hängt viel von Ihnen ab. Ist er unent
schlossen oder glaubt er, kein Alkoholiker zu sein, schlagen wir
vor, ihn in Ruhe zu lassen. Vermeiden Sie es, ihm das Programm
aufzunötigen. Die Saat in ihm ist gelegt. Er weiß, daß Tausende von
Männern wie er genesen sind. Aber sprechen Sie nicht darüber, wenn
er getrunken hat, da mag er zornig sein. Früher oder später werden
Sie vielleicht erleben, daß er das Buch noch einmal liest. Warten
Sie, bis wiederholtes Stolpern ihn davon überzeugt, daß er etwas
tun muß. Je mehr Sie ihn antreiben, desto länger mag seine Genesung
verzögert werden.
Wenn Sie einen Ehemann der dritten Kategorie haben, können Sie sich
glücklich schätzen. Weil Sie sicher sind, daß er aufhören will,
können Sie mit diesem Buch so freudig zu ihm gehen, als ob Sie das
große Los gezogen hätten. Vielleicht wird er ihre Begeisterung
nicht teilen, aber er wird sicherlich das Buch lesen und sofort das
Programm angehen. Wenn nicht, werden Sie wahrscheinlich nicht lange
warten müssen.
Nochmals, Sie sollten ihn nicht drängen. Lassen Sie ihn selbst
entscheiden. Sie können guten Mutes zusehen, wie er sich noch ein
paar Mal betrinkt. Nur wenn er selbst davon anfängt, sollten Sie
über seinen Zustand oder dieses Buch sprechen. Manchmal kann es
besser sein, wenn ihm jemand, der nicht zur Familie gehört, das
Buch gibt. Das kann ihn zum Handeln bringen, ohne das Feindselig
keiten aufkommen. Wenn Ihr Ehemann sonst ein normaler Mensch ist,
sind seine Chancen in diesem Stadium gut.
Es wäre anzunehmen, daß Männer der vierten Kategorie absolut
hoffnungslose Fälle sind. Dem ist aber nicht so. Viele Anonyme
Alkoholiker waren so weit unten. Von allen waren sie aufgegeben
worden. Der Untergang schien sicher. Und trotzdem sind auch solche
Männer auf eine überzeugende und wunderbare Weise genesen. Es gibt
Ausnahmen. Einige von ihnen waren durch den Alkohol so geschädigt,
daß sie nicht aufhören konnten. Es gibt auch Fälle, in denen der
Alkoholismus durch andere Krankheiten verschlimmert wird. Ein guter
Arzt oder Psychiater kann Ihnen sagen, ob diese Komplikationen
schwerwiegend sind. Auf jeden Fall sollten Sie versuchen, Ihren
Mann zum Lesen dieses Buches zu bewegen. Es mag sein, daß er
Interesse zeigt. Wenn er bereits in einer Anstalt ist, aber Sie und
den Arzt davon überzeugen kann, daß er es ernst meint, geben Sie
ihm eine Chance, unsere Methode auszuprobieren, es sei denn, der
Arzt glaubt, daß seine geistige Verfassung zu anormal oder
gefährlich sei. Wir geben diese Empfehlun g voller Zuversicht. Über
Jahre haben wir uns um Alkoholiker in Anstalten gekümmert. Seit
dieses Buch zum ersten Mal veröffentlicht worden ist, haben Anonyme
Alkoholiker Tausende aus Asylen und Anstalten herausgeholt. Die
meisten von ihnen sind nie dorthin zurückgekehrt. Die Kraft Gottes
ist unendlich.
Ihre Situation mag anders sein. Vielleicht haben Sie einen Ehemann,
der noch frei herumläuft, obwohl er in eine Anstalt gehört. Manche
wollen oder können nicht vom Alkoholismus wegkommen. Wenn Sie zu
gefährlich werden, ist es für sie das Beste, sie unterbringen zu
lassen. Hierbei sollte selbstverständlich immer ein guter Arzt die
Entscheidung treffen. Die Frauen und Kinder eines solchen Mannes
leiden schrecklich, aber nicht mehr als der Betroffene selbst.
Manchmal aber sind Sie es, die ein neues Leben anfangen müssen. Wir
kennen Frauen, die das getan haben. Wenn solche Frauen ihrem Leben
eine seelisch-geistige Grundlage geben, wird der Weg einfacher.
Wenn Ihr Ehemann trinkt, machen Sie sich wahrscheinlich Gedanken,
was andere Leute darüber denken, und gehen Ihren Freunden aus dem
Weg. Sie ziehen sich mehr und mehr in sich selbst zurück und
glauben, jeder spreche über die Zustände bei Ihnen zu Hause. Sie
meiden das Thema Alkohol sogar bei Ihren Eltern. Sie wissen nicht,
was sie Ihren Kindern sagen sollen. Geht es Ihrem Mann
gerade schlecht, dann werden Sie zur zitternden Einsiedlerin und
wünschen, das Telefon wäre nie erfunden worden.
Wir meinen, daß diese Schwierigkeiten unnötig sind. Es ist nicht
nötig, daß Sie ausführlich über Ihren Mann sprechen, Sie können
aber ruhig Ihre Freunde über die Art seiner Krankheit informieren.
Achten Sie jedoch darauf, ihn nicht in Verlegenheit zu bringen oder
ihm weh zu tun.
Wenn Sie solchen Menschen vorsichtig erklärt haben, daß er krank
ist, werden Sie eine bessere Atmosphäre schaffen. Schranken, die
zwischen Ihnen und Ihren Freunden entstanden waren, werden ver
schwinden, und wohlwollendes Verständnis wird entstehen. Sie werden
nicht länger befangen sein oder das Gefühl haben, sich
entschuldigen zu müssen, so als hätte Ihr Mann einen schwachen
Charakter. Das Gegenteil ist der Fall. Ihr neuer Mut, Ihre Gutmü
tigkeit und Unbefangenheit werden Wunder wirken in Ihren
Beziehungen zur Umwelt.
Die gleiche Verhaltensweise gilt für den Umgang mit Ihren Kindern.
Falls sie nicht vor ihrem Vater geschützt werden müssen, ist es
besser, keine Partei zu ergreifen in einem Streit, den er während
des Trinkens mit ihnen hat. Benutzen Sie Ihre Kraft lieber, um ein
besseres häusliches Klima zu schaffen. Dann wird sich die
furchtbare Spannung mindern, die im Heim eines jeden
Problemtrinkers herrscht.
Häufig haben Sie sich verpflichtet gefühlt, dem Arbeitgeber Ihres
Mannes und Freunden zu erzählen, daß er krank sei, wenn er in
Wahrheit betrunken war. Vermeiden Sie die Beantwortung solcher
Anfragen so oft Sie können. Wenn möglich, überlassen Sie diese
Erklärungen Ihrem Mann. Ihr Wunsch, ihn zu schützen, sollte nicht
so weit gehen, daß Sie Menschen belügen, die ein Recht darauf haben
zu wissen, wo er ist und was er tut. Reden Sie mit ihm darüber,
wenn er nüchtern und ansprechbar ist. Fragen Sie ihn, was Sie tun
können, wenn er sie wieder in eine solche Lage bringt. Aber machen
Sie ihm dabei keine Vorwürfe wegen früherer Vorkommnisse.
Dann gibt es noch eine andere lähmende Angst. Vielleicht fürchten
Sie, daß Ihr Mann seinen Arbeitsplatz verlieren könnte. Sie denken
an die Schande und an die schweren Zeiten, die Ihnen und Ihren
Kindern bevorstehen. Vielleicht müssen Sie diese Erfahrung machen,
vielleicht haben Sie das auch schon einige Male hinter sich
gebracht. Sollte es wieder geschehen, betrachten Sie es in einem
anderen Licht. Vielleicht stellt es sich als Segen heraus. Es kann
Ihren Ehemann zu der Überzeugung bringen, mit dem Trinken für immer
aufhören zu wollen. Und Sie wissen nun, daß er aufhören kann, wenn
er will. Hin und wieder war dieses vermeintliche Unglück eine
Wohltat für uns, denn es öffnete uns die Augen für die Existenz
Gottes.
An anderer Stelle haben wir schon darauf hingewiesen, wieviel
besser das Leben sich auf einer seelischen Ebene leben läßt. Wenn
Gott das uralte Rätsel Alkoholismus lösen kann, kann Er auch Ihre
Probleme lösen. Wir Frauen haben herausgefunden, daß wir wie
jedermann nicht frei sind von Stolz, Selbstmitleid, Eitelkeit und
allen diesen Dingen, die eine egozentrische Person ausmachen. Auch
wir waren nicht erhaben über Selbstsucht und Unehrlichkeit. Als
aber unsere Männer anfingen, ihr Leben nach seelischen Prinzipien
auszurichten, regte sich in uns der Wunsch, es auch zu tun.
Am Anfang glaubten einige von uns, daß wir diese Hilfe nicht nötig
hätten. Wir dachten, im Grunde genommen wären wir recht gute
Ehefrauen und würden noch besser, wenn unsere Partner mit dem
Trinken aufhörten. Aber es war töricht zu meinen, wir wären so gut,
daß wir Gott nicht brauchten. Nun versuchen wir, seelische
Prinzipien in unserem täglichen Leben anzuwenden. Wenn wir das tun,
merken wir, daß es auch unsere eigenen Probleme löst. Es ist eine
wunderbare Sache, wenn Furcht, Kummer und verletzte Gefühle
allmählich verschwinden. Wir raten Ihnen dringend, unser Programm
auszuprobieren. Nichts hilft Ihrem
Ehemann so sehr, wie Ihre total veränderte Einstellung ihm
gegenüber, zu der Gott sie bringen wird. Gehen Sie diesen Weg mit
Ihrem Mann gemeinsam, so gut Sie können.
Wenn Sie und Ihr Mann eine Lösung für das drückende Trinkproblem
finden, werden Sie beide sicher sehr froh sein. Aber nicht alle
Schwierigkeiten lösen sich auf einmal. Die Saat beginnt in neuer
Erde zu keimen. Damit hat das Wachstum gerade erst begonnen. Trotz
des neugefundenen Glücks wird es Höhen und Tiefen geben. Viele der
alten Schwierigkeiten werden immer noch da sein. Das ist auch ganz
normal.
Glaube und Aufrichtigkeit werden bei Ihnen beiden auf die Probe
gestellt werden. Betrachten Sie diese Prüfungen als Teil Ihrer
Erziehung, denn so werden Sie lernen zu leben. Sie werden Fehler
machen, aber wenn Sie beide es ernst meinen, werden die Fehler Sie
nicht in die Knie zwingen. Statt dessen werden Sie Nutzen daraus
ziehen. Wenn Sie die Fehler ausgemerzt haben, wird Sie ein besseres
Leben erwarten.
Einige Hindernisse, die Ihnen im Weg stehen, sind Ärger, verletzte
Gefühle und Groll. Ihr Ehemann wird manchmal unvernünftig sein, und
Sie haben den Wunsch, ihn zu kritisieren. Aus einer kleinen Wolke
am häuslichen Horizont braut sich schnell ein drohendes Gewitter
zusammen. Solcher Familienkrach ist gefährlich, besonders für Ihren
Mann. Oft müssen Sie es auf sich nehmen, das zu vermeiden oder
unter Kontrolle zu halten. Vergessen Sie niemals, daß Groll eine
tödliche Gefahr für Ihren Alkoholiker ist. Das soll nicht heißen,
daß Sie Ihrem Mann immer recht geben müssen, wenn es eine echte
Meinungsverschiedenheit gibt. Achten Sie nur darauf, nicht
empfindlich oder kritisch zu reagieren, wenn Sie anderer Meinung
sind.
Sie und Ihr Mann werden feststellen, daß Sie beide ernsthafte
Probleme besser lösen können als alltägliche. Wenn Sie wieder mal
eine heiße Diskussion haben, egal worüber, sollten Sie wetteifern
darin, wer als erster lächelt und sagt: "Jetzt wird es ernst. Es
tut mir leid, daß ich mich so gehen ließ. Wir wollen später darüber
sprechen." Wenn Ihr Mann versucht, sein Leben auf eine seelische
Grundlage zu stellen, wird er alles tun, was in seiner Macht steht,
um Meinungsverschiedenheiten oder Streit zu vermeiden.
Ihr Mann weiß, daß er Ihnen mehr verdankt als seine Nüchternheit.
Er will wiedergutmachen. Erwarten Sie jedoch nicht zuviel. Er
denkt und handelt, wie er sich es in Jahren angewöhnt hat. Ihre
Losungsworte müssen heißen: Geduld, Toleranz, Verständnis und
Liebe. Leben Sie danach, und er wird es erwidern. Die Regel heißt:
Leben und leben lassen. Wenn Sie beide die Bereitschaft zeigen,
eigene Fehler zu korrigieren, wird es nicht nötig sein, einander zu
kritisieren.
Wir Frauen tragen in uns das Bild des idealen Mannes, das Muster
eines Kerls, wie wir ihn gern als Ehemann hätten. Ganz klar, daß
wir erwarten, er müsse jetzt, da er nicht mehr trinkt, unseren
Traumvorstellungen entsprechen. Das trifft sicher nicht zu, denn
genau wie Sie steht auch er am Anfang einer Entwicklung. Haben Sie
Gelduld!
Ein anderes Gefühl, dem wir oft nachhängen, ist der Groll darüber,
daß nicht unsere Liebe und Treue unseren Partner vom Alkoholismus
befreien konnten. Wir können den Gedanken nicht ertragen, daß der
Inhalt eines Buches oder die Gespräche mit anderen Alkoholikern in
wenigen Wochen das erreicht haben, wofür wir jahrelang gekämpft
hatten. In solchen Augenblicken vergessen wir, daß Alkoholismus
eine Krankheit ist, der wir machtlos gegenüber stehen mußten. Ihr
Mann wird der erste sein, der es Ihrer Zuneigung und Sorge
zuschreibt, daß er an dem Punkt angelangt ist, an dem er eine
seelische Erfahrung machen konnte. Ohne Sie wäre er lange vorher
zugrunde gegangen. Wenn widrige Gedanken aufkommen, halten Sie inne
und machen Sie sich klar, wie gut es Ihnen geht: die Familie ist
vereint, der Alkohol ist nicht mehr das Problem, Sie und Ihr Mann
arbeiten auf eine nie
erträumte Zukunft hin.
Eine weitere Schwierigkeit mag sich dadurch ergeben, daß Sie
eifersüchtig sind, weil er anderen Menschen, speziell Alkoholikern,
seine Aufmerksamkeit schenkt. Sie hatten sich nach seiner
Gesellschaft gesehnt. Jetzt verbringt er viele Stunden damit,
anderen Alkoholikern und deren Familien zu helfen. Sie meinen, er
sollte jetzt Ihnen gehören. Tatsache jedoch ist, daß er die Arbeit
mit anderen braucht, um seine eigene Nüchternheit zu erhalten.
Manchmal ist er so engagiert, daß er sie tatsächlich
vernachlässigt. Ihr Haus ist voller Fremder. Einige gefallen Ihnen
vielleicht nicht. Er befaßt sich mit deren Sorgen, mit den Ihren
aber überhaupt nicht. Es nützt wenig, wenn Sie ihn darauf
ansprechen und mehr Aufmerksamkeit für sich verlangen. Wir glauben,
es ist ein großer Fehler, seine Begeisterung für die Arbeit mit
Alkoholikern zu dämpfen. Sie sollten seine Anstrengungen so gut wie
möglich unterstützen. Wir schlagen vor, daß Sie den Frauen seiner
neuen Alkoholiker-Freunde ein wenig Aufmerksamkeit widmen. Diese
Frauen brauchen den Rat und die Zuwendung einer Frau, die das
gleiche durchgemacht hat.
Es ist wahrscheinlich, daß Sie und Ihr Ehemann sehr zurückgezogen
gelebt haben. Das Trinken isoliert oft auch die Frau eines
Alkoholikers. Sie brauchen neue Interessen und einen neuen
Lebensinhalt genauso wie Ihr Mann. Wenn Sie sein Engagement
unterstützen, anstatt sich zu beklagen, werden Sie sehen, daß seine
Euphorie langsam abklingt. In Ihnen beiden wird ein neues
Verantwortungsgefühl für andere erwachen. Ihr Mann und Sie sollten
mehr daran denken, was Sie in das Leben einbringen können, als
daran, was Sie herausholen wollen. Wenn Sie so handeln, wird Ihr
Leben von selbst reicher werden. Sie werden Ihr altes Leben
verlieren, um ein besseres zu finden.
Es ist möglich, daß Ihr Mann auf dieser neuen Grundlage einen guten
Anfang macht. Gerade dann, wenn alles in Ordnung zu kommen scheint,
enttäuscht er Sie, indem er betrunken nach Hause kommt. Wenn Sie
davon überzeugt sind, daß er wirklich mit dem Trinken aufhören
will, brauchen Sie sich nicht aufzuregen. Natürlich wäre es besser,
wenn er überhaupt keinen Rückfall hätte, wie es bei vielen der Fall
war. Dennoch kann der Rückfall auch sein Gutes haben. Ihr Mann wird
sofort einsehen, daß er seine seelischen Aktivitäten verdoppeln
muß, wenn er überleben will. Sie brauchen ihn nicht an sein
seelisches Versagen zu erinnern, er wird es selbst wissen. Muntern
Sie ihn auf und fragen Sie ihn, wie Sie ihm noch besser helfen
können.
Das geringste Anzeichen von Furcht oder Unverständnis Ihrerseits
könnte die Genesungschancen Ihres Mannes mindern. In einem schwa
chen Augenblick mag er Ihre Abneigung seinen hochgestochenen
Freunden gegenüber als eine seiner lächerlichen Ausreden dafür
benutzen, daß er wieder trinkt.
Nie und nimmer dürfen wir versuchen, das Leben eines Mannes vor
allen Anfechtungen abzuschirmen. Er wird es sofort merken, wenn Sie
versuchen, seine Verabredungen oder Angelegneheiten so zu lenken,
damit er nicht in Versuchung kommt. Geben Sie ihm das Gefühl, daß
er kommen und gehen kann, wann und wie er will. Das ist wichtig.
Wenn er sich betrinkt, geben Sie nicht sich die Schuld. Entweder
hat Gott das Alkoholproblem von ihrem Mann genommen oder nicht.
Falls
nicht, ist es besser, wenn es sehr schnell zutage tritt. Sie und
Ihr Mann können dann wieder auf den Kern der Sache kommen. Um
erneuten Rückfall zu vermeiden, sollten Sie das Problem zusammen
mit anderen Schwierigkeiten in Gottes Hand legen.
Wir wissen, daß wir Ihnen viele Anregungen und Ratschläge gegeben
haben. Es hat vielleicht manchmal schulmeisterlich geklungen. Wenn
das so ist, tut es uns leid. Auch wir mögen Leute nicht, die uns
dauernd belehren wollen. Aber was wir hier weitergegeben haben,
gründet auf Erfahrungen, die teilweise sehr schmerzlich waren. Wir
mußten diese Dinge auf die harte Tour lernen. Darum sind wir so
darum bemüht, daß Sie uns verstehen, damit Sie sich
diese unnötigen Schwierigkeiten ersparen.
Ihnen allen, die Sie vielleicht bald zu uns gehören, rufen wir zu:
"Viel Glück und Gott schütze Sie!"

Dreizehn Jahre, nachdem dieses Kapitel geschrieben wurde, hat sich
die Gemeinschaft der Al-Anon-Familiengruppen gebildet. Obwohl die
Al-Anon-Familiengruppen selbständig sind, benutzen sie die
allgemeinen Grundsätze, Prinzipien des AA-Programms als Richtlinie
für Ehemänner, Ehefrauen, Verwandte, Freunde und alle, die
Alkoholikern nahestehen. Dieses Kapitel richtet sich zwar nur an
Ehefrauen, gleichwohl gilt das Gesagte für alle Angehörigen von
Alkoholikern. Für Kinder aus Alkoholikerfamilien gibt es innerhalb
der Al-Anon-Gemeinschaft die Alateen-Gruppen.

Alle AA-Kontaktstellen im deutschsprachigen Raum geben Auskunft,
wo Al-Anon-Familiengruppen zu erreichen sind. Auskunft ist auch
über folgende Adresse erhältlich:

Al-Anon-Familiengruppen
Zentrales Dienstbüro
Postfach 10 01 92
5000 KÖLN 1
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Kapitel 9
Die Familie danach
Unsere Frauen haben gewisse Vorschläge gemacht, wie sich eine Frau
ihrem Mann gegenüber verhalten soll, der auf dem Weg der Genesung
ist. Vielleicht haben sie dabei den Eindruck erweckt, daß man ihn
in Watte packen und auf ein Podest stellen muß. Wenn der Mann
wieder hergestellt werden soll, ist das Gegenteil notwendig. Alle
Mitglieder der Familie sollten einander mit Toleranz, Verständnis
und Liebe begegnen. Das macht gewisse Zugeständnisse notwendig. Der
Alkoholiker, seine Frau, seine Kinder, seine Angehörigen, jeder hat
wahrscheinlich eigene Vorstellungen über die Rollenverteilung
innerhalb der Familie. Jeder ist daran interessiert, daß seine
Wünsche respektiert werden. Je mehr Zugeständnisse ein
Familienmitglied von den anderen fordert, um so empfindlicher
reagieren diese. Das bringt Mißklang und Verdruß.
Und warum? Ist es nicht deshalb, weil jeder die Führung übernehmen
will? Ist es nicht deshalb, weil jeder versucht, das Familienleben
so zu arrangieren, wie er es haben möchte? Versucht nicht jeder
unbewußt, aus dem Familienleben mehr herauszuholen, als er bereit
ist einzubringen?
Mit dem Trinken aufzuhören, ist nur der erste Schritt aus einer
düsteren, spannungsgeladenen Atmosphäre. Ein Arzt hat das einmal so
ausgedrückt: "Jahreslanges Zusammenleben mit einem Alkoholiker
macht mit ziemlicher Sicherheit jede Ehefrau und jedes Kind
neurotisch. Die ganze Familie ist bis zu einem gewissen Grade
krank." Beim Aufbruch in ein neues Leben muß der Familie klar sein,
daß sie nicht nur schönes Wetter haben wird. Jeder wird sich mal
Blasen laufen und hinterherhinken. Es gibt verführerische
Abkürzungen und abwärts führende Seitenpfade, die sie vielleicht
einschlagen und sich dabei verirren.
 

Wir wollen einige der Hindernisse nennen, auf die die Familie
stößt. Wir wollen auch Vorschläge machen, wie man diese Hindernisse
überwinden und sogar zum Wohle anderer umwandeln kann. Die
Angehörigen eines Alkoholikers sehnen sich danach, daß Glück und
Sicherheit zurückkehren. Sie erinnern sich an die Zeit, als Vater
noch liebenswert, rücksichtsvoll und erfolgreich war. Das heutige
Leben wird an früheren Jahren gemessen, und wenn es schlechter
ausfällt, könnte die Familie enttäuscht sein.
Das Vertrauen der Familie in den Vater steigt schnell, Sie glaubt,
daß die gute alte Zeit bald zurückkommt, und verlangt, daß der
Vater sie sofort zurückbringt. Sie meint, daß Gott ihnen die
Begleichung einer längst überfälligen Rechnung schuldet. Aber der
Herr des Hauses hat Jahre damit verbracht, Geschäft, Liebe,
Freundschaft und Gesundheit kaputtzumachen - das alles ist nun
ruiniert oder beschädigt. Es wird einige Zeit dauern, um die
Trümmer zu beseitigen. Wenn auch die alten Gebäude letztlich durch
neue schönere ersetzt werden, so geht das nicht von heute auf
morgen, es wird Jahre dauern.
Vater weiß, daß er Vorwürfe verdient. Er wird Jahre harter Arbeit
brauchen, um finanziell wieder auf die Beine zu kommen. Aber man
sollte ihm deshalb keine Vorhaltungen machen. Vielleicht wird er
nie mehr viel Geld haben. Aber die kluge Familie bewundert ihn mehr
für das, was er zu sein versucht, als für das, was er erwerben
will.
Hin und wieder wird die Familie von der Vergangenheit eingeholt. Im
Leben fast aller Alkoholiker gab es verrückte, demütigende,
beschämende oder tragische Eskapaden. Die erste Reaktion wird sein,
diese Leichen im Keller zu verstecken und die Tür zu verriegeln.
Die Familie ist von der Idee besessen, daß künftiges Glück nur
erreicht werden kann, indem man Vergangenes vergißt. Wir meinen,
daß diese Einstellung selbstsüchtig und in direktem Widerspruch
steht zu unserer neuen Einstellung zum Leben.
Henry Ford hat einst die kluge Bemerkung gemacht, daß die Erfahrung
einen kostbaren Wert im Leben darstellt. Das entspricht nur dann
der Wahrheit, wenn man bereit ist, die Vergangenheit in ein
Guthaben umzumünzen. Wir wachsen an unserer Bereitschaft, Fehler zu
erkennen, zu berichtigen und aus ihnen Aktivposten zu machen. So
wird die Vergangenheit des Alkoholikers zur wichtigsten Kapi
talanlage für die Familie - oft bleibt es die einzige.
Die schmerzliche Vergangenheit kann von unermeßlichem Wert sein für
andere Familien, die immer noch mit ihren Problemen ringen. Wir
sind der Meinung, daß jede Familie, die von der Last befreit
worden ist, denen etwas schuldet, die noch nicht soweit sind. Und
wenn es die Umstände erfordern, sollte jedes Familienmitglied
bereit sein, frühere Fehler - auch sehr schmerzhafte - aus der
Versenkung hervorzuholen. Noch Leidenden zu zeigen, wie uns
geholfen wurde, ist doch gerade das, was das Leben jetzt für uns
lebenswert macht. Halten wir an dem Gedanken fest, daß die dunkle
Vergangenheit in Gottes Händen ein wertvollster Besitz ist. Sie
ist für andere der Schlüssel zum Leben und zur Zufriedenheit. Damit
können wir Tod und Elend von ihnen fernhalten.
Man kann Fehler der Vergangenheit auch solange ans Tageslicht
zerren, bis sie zu einer echten Qual werden. Da gibt es Fälle, in
denen Alkoholiker oder ihre Frauen Liebesabenteuer hatten. In der
ersten Begeisterung baten sie einander um Verzeihung und rückten
enger zusammen. Das Wunder einer Versöhnung lag auf der Hand.
Später, bei irgendeinem Streit grub der seinerzeit Betrogene die
alte Affäre aus und wirbelte den alten Staub wieder auf. Einige von
uns hatten solche Wachstumsschmerzen und haben damit viel Schaden
angerichtet. Ehepartner waren manchmal gezwungen, sich eine
Zeitlang zu trennen, bis sie die Sache in einem neuen Licht sahen
und der verletzte Stolz besiegt war. In den meisten Fällen
überlebte der Alkoholiker diese schwere Prüfung ohne Rückfall, aber
nicht immer. Wir meinen deshalb, daß man über vergangene
Begebenheiten nur dann miteinander sprechen sollte, wenn es einem
guten und nützlichen Zweck dient.
Wir in den Familien von Anonymen Alkoholkikern haben wenig
Geheimnisse voreinander, wenig solcher Leichen im Keller. Jeder
kennt die alkoholbedingten Schandtaten und Fehltritte des anderen.
Das ist ein Umstand, der üblicherweise unsagbares Leid schaffen
würde. Skandalöser Klatsch, Gelächter auf Kosten anderer und eine
Neigung, Vorteile aus dem intimen Wissen über andere zu ziehen,
könnte die Folge sein. Unter uns passiert das kaum. Wir sprechen
häufig übereinander, aber meistens im Geiste von Liebe und
Toleranz.
Ein weiterer, von uns sorgfältig beachteter Grundsatz ist, daß wir
vertrauliche Mitteilungen eines anderen nicht weitergeben, es sei
denn, wir sind uns seiner Zustimmung sicher. Wir finden es besser,
möglichst bei unseren eigenen Geschichten zu bleiben. Wer sich
selbst kritisiert oder über sich selbst lacht, wirkt positiv auf
andere. Kritik oder Spott von anderen bewirken oft das Gegenteil.
Familienangehörige sollten sorgfältig auf solche Dinge achten. Eine
unvorsichtige und unbedachte Bemerkung - und der Teufel ist wieder
los. Wir Alkoholiker sind überempfindlich. Manche von uns brauchen
lange, um über dieses schwierige Hindernis zu kommen.
Viele Alkoholiker sind schnell zu begeistern. Sie fallen von einem
Extrem ins andere. Am Anfang der Genesung schlagen sie gewöhnlich
einen von zwei Wegen ein. Entweder stürzen sie sich kopfüber in
ihren Beruf, um wieder auf die Füße zu kommen, oder sie sind von
ihrem neuen Leben so gefesselt, daß sie kaum noch an etwas anderes
denken und kaum noch von etwas anderem reden. Das gibt zwangsläufig
Ärger im Familienleben. Wir können ein Lied davon singen.
Wir meinen, es ist gefährlich, wenn er sich Hals über Kopf in die
Lösung seiner wirtschaftlichen Probleme stürzt. Davon wird auch die
Familie berührt: zuerst angenehm, weil sie merkt, daß sich die
finanziellen Schwierigkeiten langsam lösen; dann weniger angenehm,
weil sie sich vernachlässigt fühlt. Vater ist tagsüber ganz in
Anspruch genommen und abends müde. Er zeigt wenig Interesse an den
Kindern und reagiert ärgerlich, wenn man ihm deshalb Vorwürfe
macht. Wenn er nicht gerade gereizt ist, wirkt er träge und
langweilig und überhaupt nicht fröhlich und liebevoll, wie ihn die
Familie haben möchte. Seine Frau bemängelt seine Unaufmerksamkeit,
und alle sind enttäuscht und lassen es ihn spüren. Durch solche
Vorhaltungen wird eine Barriere gebaut. Dabei macht er doch jede
Anstrengung, um die verlorene Zeit einzuholen. Er versucht
verzweifelt, Wohlstand und Ruf wiederherzustellen, und tut damit
seiner Meinung nach sein Bestes.
Mutter und Kinder denken da oft ganz anders. Vernachlässigt und
schlecht behandelt in der Vergangenheit, meinen sie, daß der Vater
ihnen mehr schuldet, als sie bekommen. Sie möchten, daß er mehr
Aufhebens um sie macht. Sie erwarten von ihm, daß er ihnen das
Leben bietet, das sie hatten, bevor er soviel getrunken hat. Er
soll auch Reue zeigen für das, was er ihnen angetan hat. Aber von
Vater kommt nichts. Die Verstimmung wächst. Er wird immer
unzugänglicher. Oft geht er wegen Kleinigkeiten in die Luft. Der
Familie ist das ein Rätsel. Sie tadelt ihn, weil er ihrer Ansicht
nach sein seelisches Programm vernachlässigt.
Das alles kann vermieden werden. Beide Seiten, der Vater und die
übrige Familie, haben ein bißchen Unrecht und ein bißchen Recht.
Streit führt zu nichts und macht die Sache nur noch schlimmer. Die
Familie muß sich darüber klar sein, daß der Vater zwar erstaunliche
Fortschritte macht, aber immer noch auf dem Weg der Genesung ist.
Die Angehörigen sollten dankbar sein, daß er nüchtern ist und
wieder in diese Welt paßt. Sie sollten seine Fortschritte
anerkennen. Sie sollten nie vergessen, daß durch sein Trinken
vielerlei Schaden entstanden ist, der nicht so schnell behoben
werden kann. Wenn sie dafür ein Gespür entwickeln, werden sie auch
seine zeitweilige Verschrobenheit, seine Niedergeschlagenheit oder
seine Gleichgültigkeit nicht so ernst nehmen. Toleranz, Liebe und
seelischer Gleichklang helfen darüber hinweg.
Das Familienoberhaupt sollte sich daran erinnern, daß hauptsächlich
er dafür verantwortlich zu machen ist, was seinem Heim widerfahren
ist. Er kann dieses Konto vielleicht in seinem ganzen Leben nicht
mehr ausgleichen. Er muß die Gefahr erkennen, die darin liegt, daß
er sich zu sehr auf die finanziellen Erfolge konzentriert. Obwohl
viele von uns sich im Laufe der Zeit wirtschaftlich erholen, mußten
wir erkennen, daß Geld nicht an erster Stelle stehen darf. Für uns
war materieller Wohlstand immer die Folge von Fortschritten im
seelisch-geistigen Bereich, nie umgekehrt.
Weil das Familienleben mehr als alles andere gelitten hat, ist es
angezeigt, daß der Vater sich da besonders bemüht. Er kommt in
keiner Richtung weiter, wenn er nicht dafür sorgt, daß unter seinem
Dach wieder Selbstlosigkeit und Liebe einkehren. Wir wissen, daß es
schwierige Ehefrauen und Angehörige gibt. Der Mann, der seinen
Alkoholismus überwinden will, sollte daran denken, wieviel er dazu
beigetragen hat, daß sie so geworden sind.
Wenn jedes Mitglied einer Familie, in der noch solche Spannungen
bestehen, eigene Fehler einsieht und sie anderen gegenüber zugibt,
ist die Grundlage für eine hilfreiche Aussprache gegeben. Diese
Familiengespräche werden dann konstruktiv sein, wenn sie ohne
hitzige Argumente, ohne Selbstmitleid, Selbstgerechtigkeit oder
gereizte Kritik geführt werden. Nach und nach werden Mutter und
Kinder einsehen, daß sie zuviel verlangen, und Vater wird erkennen,
daß er zuwenig gibt. Geben statt nehmen, heißt das oberste Gebot.
Nehmen wir mal an, daß der Vater am Tiefpunkt eine aufrüttelnde
seelische Erfahrung gemacht hat. Über Nacht ist er ein anderer
Mensch geworden. Er wurde ein religiöser Schwärmer. Nichts anderes
interessiert ihn mehr. Sobald es eine Selbstverständlichkeit
geworden ist, daß er nicht mehr trinkt, wird die Familie zuerst mit
Besorgnis, später mit Entrüstung auf ihren seltsamen, neuen Vater
schauen. Morgens, mittags und abends dreht sich das Gespräch nur
noch um seelische Dinge. Vielleicht verlangt er sogar, daß auch die
Familie Gott im Schnellverfahren findet. Oder er zeigt der Familie
gegenüber eine erstaunliche Gleichgültigkeit und meint, er sei
erhaben über alle weltlichen Dinge. Auch mag es sein, daß er seiner
Frau, die ihr Leben lang gläubig war, vorwirft, sie hätte keine
Ahnung davon, worum es geht. Sie sollte sich, solange es noch Zeit
ist, seinen neuen seelischen Erkenntnissen anschließen.
Wenn der Vater diesen Weg einschlägt, kann es sein, daß die Familie
sauer reagiert. Vielleicht ist sie eifersüchtig auf einen Gott, der
ihnen die Zuneigung des Vaters gestohlen hat. Obwohl die
Angehörigen dankbar sind, daß er nicht mehr trinkt, gefällt ihnen
der Gedanke nicht, daß Gott das Wunder vollbracht hat und nicht
sie. Oft vergessen sie, daß menschliche Hilfe den Vater nicht mehr
erreichen konnte. Sie können nicht begreifen, warum ihre Liebe und
Zuneigung ihm nicht helfen konnte. Sie finden, Vater ist gar nicht
so fromm, wie er tut. Wenn er die Fehler der Vergangenheit wirklich
gutmachen will, warum kümmert er sich um jeden in der Welt, nur
nicht um seine Familie? Was soll sein Gerede, daß Gott sich ihrer
annehmen werde? Sie vermuten: "Vater
ist etwas bekloppt."
So durcheinander, wie sie glauben, ist er gar nicht. Viele von uns
haben den gleichen Höhenflug mitgemacht. Wir haben in seelischer
Trunkenheit, im Trockenrausch, geschwelgt. Uns ging es wie einem
ausgehungerten Goldgräber, der nach seinem letzten Bissen Brot den
Gürtel noch enger geschnallt hatte, und der nun auf eine Goldader
gestoßen ist. Die Freude darüber, daß lebenslanger Mißerfolg nun
ein Ende hatte, kannte keine Grenzen. Vater ist überzeugt davon,
daß er noch etwas viel Besseres als Gold gefunden hat. Eine
Zeitlang mag er versuchen, den Schatz ganz für sich zu behalten.
Vielleicht sieht er nicht gleich ein, daß er erst die Oberfläche
einer unendlichen Goldader angekratzt hat. Sie bringt ihm erst
Ertrag, wenn er sein Leben lang weitergräbt und alles, was er
findet, weiterschenkt.
Wenn die Familie mitzieht, wird der Vater bald merken, daß seine
Wertvorstellungen verzerrt sind. Er wird einsehen, daß sein inneres
Wachsen nur in eine Richtung treibt. Für einen Durchschnitts
menschen wie er ist ein seelisch orientiertes Leben, daß nicht auch
die Verpflichtungen gegenüber seiner Familie einschließt, gar nicht
so vollkommen. Wenn die Familie erkennt, daß das derzeitige
Benehmen des Vaters nur eine Entwicklungsphase ist, wird alles gut
werden. Getragen von einer verständnisvollen Familie, wird Vater
schnell aus den Kinderschuhen seiner seelischen Entwicklung
herauswachsen.
Sollte die Familie ihn jedoch verurteilen und kritisieren, könnte
das Gegenteil eintreten. Vater könnte das Gefühl haben, durch sein
Trinken jahrelang bei jeder Meinungsverschiedenheit den kürzeren
gezogen zu haben. Jetzt aber - so denkt er - sei er mit Gott an
seiner Seite der Überlegene. Falls die Familie weiter kritisiert,
könnte sich dieser Trugschluß des Vaters noch mehr verhärten.
Anstatt die Familie zu behandeln wie er sollte, zieht er sich
weiter in sich zurück. Er meint, es sei moralisch gerechtfertigt,
so zu handeln.
Obwohl die Familie mit Vaters geistig-seelischen Betätigungen nicht
ganz einverstanden sein mag, sollte sie ihm ruhig seinen Kopf
lassen. Selbst wenn er seine Familie bis zu einem gewissen Grad
vernachlässigt und ihr gegenüber teilweise verantwortungslos
handelt, sollte man ihn trotzdem anderen Alkoholikern helfen
lassen, soviel er mag. In der ersten Zeit seiner Genesung festigt
das mehr als alles andere seine Nüchternheit. Obwohl einige seiner
Äußerungen beunruhigend und unangenehm sind, glauben wir doch, daß
Vater auf einem festeren Fundament steht als der Mann, der Geschäft
und beruflichen Erfolg vor seine seelische Entwicklung stellt. Er
wird wohl kaum wieder mit dem Trinken anfangen, und alles, was er
macht, ist besser als ein Rückfall. Diejenigen von uns, die viel
Zeit in einer spirituellen Scheinwelt verbracht
haben, merkten schließlich, daß das kindisch war. Diese Traumwelt
ist durch Sinn für das Reale ersetzt worden, begleitet von einem
wachsenden Bewußtsein um die Macht Gottes in unserem Leben. Wir
kamen zu dem Glauben, Er möchte es, daß wir unsere Köpfe über den
Wolken bei Ihm haben, daß aber unsere Füße fest auf der Erde stehen
sollen. Dort stehen unsere Weggefährten, und dort muß auch unsere
Arbeit getan werden. Für uns sind das die Realitäten. Für uns
besteht kein Widerspruch zwischen einer machtvollen, seelischen
Erfahrung und einem Leben in gesunder und glücklicher Nützlichkeit.
Ein weiterer Vorschlag: Ob die Angehörigen geistig-seelische
Überzeugungen haben oder nicht, sie tun gut daran, sich die
Grundsätze genauer anzusehen, nach denen der Alkoholiker zu leben
versucht. Die Angehörigen werden wahrscheinlich diesen einfachen
Grundsätzen zustimmen, auch wenn das Familienoberhaupt sich noch
etwas schwer tut, sie zu praktizieren. Nichts wird dem Mann, der
von dem seelischen Weg abgekommen ist, so viel helfen, wie seine
Frau, die ein geistiges und seelisches Programm annimmt und einen
besseren, praktischen Gebrauch davon macht.
Es wird weitere, tiefgreifende Änderungen in der Familie geben. Der
Alkohol hat Vater für viele Jahre so untüchtig gemacht, daß Mutter
das Oberhaupt im Haus wurde. Tapfer übernahm sie diese
Verpflichtungen. Die Umstände zwangen sie oft, Vater wie ein
krankes und widerspenstiges Kind zu behandeln. Selbst wenn er mal
sein Recht behaupten wollte, so gelang ihm das nicht, seine Trin
kerei setzte ihn ständig ins Unrecht. Mutter plante alles und gab
die Anweisungen. Wenn er nüchtern war, gehorchte der Vater für
gewöhnlich. So gewöhnte sich Mutter ohne eigenes Zutun daran, daß
sie in der Familie die Hosen anhatte. Doch Vater, nun zu neuem
Leben erwacht, fängt plötzlich an, sich selbst zu behaupten. Das
bringt Ärger, der vermieden werden kann, wenn in der Familie jeder
jedem seinen Freiraum läßt.
Das Trinken isoliert die meisten Familien von der Außenwelt. Der
Vater hat alle Interessen verloren - Vereine, Bürgerpflichten,
Sport. Wenn er nun wieder an solchen Dingen teilnimmt, mag ein
Gefühl der Eifersucht aufkommen. Die Familie glaubt, ein Vorrecht
an ihrem Vater zu haben, so daß für Außenstehende nichts übrig
bleibt. Mutter und Kinder verlangen, daß er zu Hause bleibt, um
Versäumtes gutzumachen. Besser wäre es, die Angehörigen suchten
sich neue und eigene Aktivitäten.
Ganz am Anfang soll sich das Ehepaar klar werden, daß jeder hier
und da nachgeben muß, wenn die Familie am gesellschaftlichen Leben
teilnehmen will. Vater wird notwendigerweise viel Zeit mit anderen
Alkoholikern verbringen, aber diese Aktivität sollte nicht
übertrieben werden. Man wird neue Bekanntschaften mit Menschen
machen, die nichts über Alkoholismus wissen. Deren Bedürfnissen
sollte man Rechnung tragen. Die Belange der Gemeinde können
Aufmerksamkeit verlangen. Obwohl die Familie bisher keine
religiösen Bindungen hatte, kann der Wunsch wach werden, solche
Kontakte zu suchen oder Mitglied einer Glaubensgemeinschaft zu
werden.
Gerade den Alkoholikern, die früher religiöse Menschen verspottet
haben, wird durch solche Kontakte geholfen. Weil der Alkoholiker
selbst eine seelische Erfahrung gemacht hat, wird er mit diesen
Leuten viel gemeinsam haben, wenn er auch in manchen Dingen anderer
Meinung ist. Wenn er über religiöse Fragen nicht streitet, schafft
er sich neue Freunde und findet mit Sicherheit einen neuen Weg zu
Freude und nützlichem Leben. Er und seine Familie können eine
Bereicherung in einer Kirchengemeinde sein. Vielleicht bringt der
Alkoholiker manchem Priester, Pfarrer oder Rabbi - diesen Männern,
die so sehr dem Wohl unserer gepeinigten Welt dienen - neuen Mut
und neue Hoffnung. Das hier Gesagte ist nur als hilfreicher
Vorschlag gemeint, wir als AA-Gemeinschaft sehen darin aber
keinerlei Verpflichtung. Als an keine Konfession gebundene Leute
können wir für andere keine Entschlüsse fassen. Jeder sollte sein
eigenes Gewissen befragen.
Wir haben bis jetzt zu Ihnen über ernste, manchmal tragische Dinge
gesprochen. Wir haben Alkohol in seiner schlimmsten Form
abgehandelt. Aber wir sind kein trauriger Verein. Wenn Neue nicht
den Spaß und die Freude in unserem Dasein sähen, wollten sie diese
Lebensform nicht. Wir bestehen darauf, uns des Lebens zu freuen.
Wir versuchen, uns nicht über den Zustand der Welt zynisch
auszulassen, und wir tragen auch nicht die Sorgen dieser Welt auf
unseren Schultern. Wenn wir einen Menschen im Sumpf des
Alkoholismus versinken sehen, leisten wir ihm erste Hilfe und
stellen ihm das zur Verfügung, was wir haben. Um seinetwillen
erzählen und erleben wir in Erinnerung nochmals die Schrecken
unserer Vergangenheit. Diejenigen jedoch, die versuchten, die ganze
Last und die Sorgen anderer auf ihren Schultern zu tragen, wurden
bald von dieser Last erdrückt.
Wir glauben, daß Lachen und Fröhlichsein nützlich sind. Außenste
hende sind manchmal schockiert, wenn wir in fröhliches Gelächter
ausbrechen über eine tragische Erfahrung aus unserer Vergangenheit.
Aber warum sollten wir nicht lachen? Wir sind genesen, und uns
wurde die Kraft gegeben, anderen zu helfen.
Jeder weiß es, daß kranke Menschen und solche, die nicht unbe
schwert sein können, selten lachen. So laßt jede Familie für sich
oder mit Nachbarn unbeschwert sein, so oft und soviel sie können.
Wir sind sicher, daß Gott uns glücklich, froh und frei haben
möchte. Wir können uns nicht dem Glauben verschreiben, daß dieses
Leben ein Jammertal ist, obwohl es genau das für viele von uns
einmal war. Unser Elend war hausgemacht. Gott hat es nicht verur
sacht. Vermeiden Sie also, Trübsal zu blasen. Wenn Schwierigkeiten
kommen, ziehen Sie freudig Nutzen daraus als Gelegenheit, Seine
Allmacht darzutun.
Nun zur Gesundheit: Ein Körper, der durch Alkohol schwer
mitgenommen ist, erholt sich nicht über Nacht, genausowenig wie
verdrehtes Denken und Niedergeschlagenheit sofort verschwinden. Wir
sind überzeugt, daß ein Leben aus der Seele heraus eine ungeheure
Kraft zur Wiederherstellung der Gesundheit ist. Wir, von schwerem
Trinken genesen, sind Wunder geistiger Gesundheit. Wir haben
bemerkenswerte Veränderungen in unserem Körper festgestellt. Kaum
einer aus unserer Gemeinschaft trägt jetzt noch Zeichen des
früheren ausschweifenden Lebens.
Aber das bedeutet nicht, daß wir die Gesundheit vernachlässigen,
Gott hat diese Welt reichlich versorgt mit guten Ärzten,
Psychologen und Therapeuten verschiedenster Art. Zögern Sie deshalb
nicht, diese Fachleute aufzusuchen, wenn Sie gesundheitliche
Probleme haben. Die meisten dieser Fachleute helfen gern, damit
sich ihre Mitmenschen eines gesunden Geistes und eines gesunden
Körpers erfreuen können. Denken Sie daran, daß Gott zwar Wunder an
uns vollbracht hat, daß wir aber nie das Können eines guten Arztes
oder Psychiaters unterschätzen sollten. Oft sind deren Dienste zur
Behandlung eines Neuen und zur späteren Beobachtung seines Falles
unentbehrlich.
Einer der vielen Ärzte, der dieses Buch im Manuskript gelesen hat,
gab uns den Tip, daß Süßigkeiten für uns Alkoholiker oft hilfreich
sind, wobei in jedem Einzelfall ärztlicher Rat befolgt werden muß.
Der erwähnte Arzt war der Meinung, Alkoholiker sollten immer
Schokolade zur Hand haben als schnellen Energiespender in Zeiten
der Ermüdung. Gegen ein manchmal nachts aufkommendes
unbestimmtes Trinkverlangen hilft schon ein Bonbon. Nach dem
Aufhören haben viele von uns gemerkt, daß sie Süßigkeiten mögen und
daß diese ihnen guttaten.
Ein Wort zu den sexuellen Beziehungen. Der Alkohol war für manche
Männer so anregend, daß sie die Sexualität übertrieben haben.
Ehepaare können es gelegentlich kaum fassen, daß der Mann, nachdem
er mit dem Trinken aufgehört hat, zur Impotenz neigt. Wenn die
Ursache dafür nicht verstanden wird, kann es zu einer Störung im
Gefühlsleben kommen. Einige von uns mußten diese Erfahrung machen.
Sie konnten aber nach einigen Monaten eine viel feinere und
innigere Beziehung erleben als früher. Sollten jedoch die sexuellen
Störungen nicht verschwinden, ist es ratsam, einen Arzt oder
Psychologen aufzusuchen. Normalerweise halten diese Schwierigkeiten
nicht lange an.
Für den Alkoholiker kann es schwer sein, wieder harmonische
Beziehungen zu seinen Kindern herzustellen. Sein Trinken hat in
ihren jungen Gemütern tiefe Spuren hinterlassen. Ohne es
auszusprechen, hassen sie ihn aus ganzem Herzen für das, was er
ihnen und ihrer Mutter angetan hat. Kinder werden oft von einem
erschütternd harten und grausamen Denken beherrscht. Sie scheinen
nicht vergeben und vergessen zu können. Das mag noch Monate
andauern, nachdem ihre Mutter den Vater in seinem neuen Leben und
Denken längst angenommen hat.
Irgendwann werden die Kinder erkennen, daß er ein neuer Mensch
ist, sie werden es ihn auf ihre Art spüren lassen. Wenn es soweit
ist, kann man sie anregen, an der morgendlichen Meditation teil
zuhaben. Ohne Groll und Voreingenommenheit nehmen sie jetzt auch am
täglichen Gespräch über das Programm teil. Von diesem Punkt an wird
es schnell aufwärtsgehen. Solches Sichwiederfinden bringt
oft wunderbare Früchte.
Ob die Angehörigen ein seelisches Programm akzeptieren oder nicht -
der Alkoholiker muß es, wenn er genesen will. Die anderen müssen
von seiner neuen Einstellung überzeugt sein, ohne den geringsten
Schatten eines Zweifels. Zu sehen, wie der Alkoholiker nüchtern
bleibt, sollte für seine Familie heißen, an seinen Weg zu glauben.
Dazu ein Beispiel: Einer unserer Freunde ist ein starker Raucher
und Kaffeetrinker. Ohne Zweifel, er übertreibt. Seine Frau macht
ihm deshalb Vorhaltungen in der Absicht, ihm zu helfen. Er gab zu,
daß er übertrieb, sagte aber ganz offen, er sei nicht bereit, damit
aufzuhören. Nun gehörte seine Frau zu den Leuten, die diese
Genußmittel für eine Sünde halten. Also nörgelte sie. Ihre Klein
lichkeit brachte ihn zu einem Wutanfall. Er betrank sich. Natürlich
war unser Freund im Unrecht - es hätte seinen Tod bedeuten können.
Er mußte das unter Schmerzen zugeben und seine seelische
Einstellung korrigieren. Heute ist er ein eifriges Mitglied der
Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker. Er raucht immer noch und
trinkt immer noch Kaffee. Aber weder seine Frau noch andere
erlauben sich ein Urteil darüber. Seine Frau sieht ein, daß es
falsch von ihr war, aus dieser Bagatelle eine solche Affäre zu
machen, wo er doch gerade eine viel schwerere Sache überwunden
hatte.
Wir haben drei Slogans, die hier passen:

Das Wichtigste zuerst
Leben und leben lassen
Eile mit Weile
 

Kapitel 10
An die Arbeitgeber
 

Unter den vielen Arbeitgebern, die heutzutage zu unserer Gemein
schaft gehören, denken wir besonders an einen, der einen Großteil
seines Berufslebens in der Industrie verbracht hat. Er hat Hunderte
von Mitarbeitern eingestellt und entlassen. Er kennt den
Alkoholiker aus der Sicht des Arbeitgebers. Seine gegenwärtige
Einstellung könnte für alle Geschäftsleute außerordentlich nützlich
sein. Aber er soll selbst berichten:

"Ich war stellvertretender Direktor eines Unternehmens, das 6600
Leute beschäftigte. Eines Tages kam meine Sekretärin und sagte,
Herr B. bestehe darauf, mich zu sprechen. Ich ließ ihm mitteilen,
daß ich nicht daran interessiert sei. Wieder einmal hatte ich ihn
gewarnt, daß ich ihm nur noch eine Chance geben würde. Kurz darauf
hatte er mich an zwei aufeinanderfolgenden Tagen aus Hatford
angerufen, wobei er so betrunken war, daß er kaum sprechen konnte.
Ich sagte ihm, nun sei es aus - ein für allemal. Meine Sekretärin
kam zurück, um zu sagen, daß nicht Herr B. am Telefon sei, sondern
dessen Bruder. Er müsse mir etwas mitteilen. Ich erwartete eine
Bitte um Nachsicht. Aber es kamen folgende Worte durch den Hörer:
Ich wollte Ihnen nur sagen, daß Paul am letzten Samstag in Hartford
aus einem Hotelfenster gesprungen ist. Er hinterließ uns einen
Brief, in dem steht, Sie seien der beste Vorgesetzte gewesen, den
er je hatte. Ihnen sei in keiner Weise ein Vorwurf zu machen.
Ein anderes Mal, als ich einen Brief öffnete, der auf meinem
Schreibtisch lag, fiel ein Zeitungsabschnitt heraus. Es war die
Todesanzeige von einem der besten Verkäufer, die ich je hatte. Nach
zwei Wochen harten Trinkens hatte er seine Zehe an den Abzug eines
geladenen Gewehrs gebracht - der Lauf war in seinem Mund. Sechs
Wochen vorher hatte ich ihn wegen Trinkens entlassen.
Noch eine andere Erfahrung: Die Stimme einer Frau kam schwach als
Ferngespräch aus Virginia. Sie wollte wissen, ob ihr Mann noch
durch die Firma versichert sei. Vier Tage vorher hatte er sich in
seinem Holzschuppen erhängt. Ich hatte ihn wegen seines Trinkens
entlassen müssen, obwohl er hochbegabt, anpassungsfähig und einer
der besten Organisatoren war, die ich kannte.
So sind drei tüchtige Männer aus dieser Welt gegangen, nur weil ich
über den Alkoholismus nicht so Bescheid wußte wie heute. Ironie des
Schicksals: Ich wurde selbst zum Alkoholiker. Wenn nicht ein
verständnisvoller Mensch eingegriffen hätte, wäre ich ihren Weg
gegangen. Mein Abstieg kostete das Unternehmen etliche tausend
Dollar. Es kostet nämlich viel Geld, jemanden für eine gehobene
Position nachzuziehen. Solche unnötigen Ausgaben sind gang und
gäbe. Im Geschäftsleben trifft man an allen Ecken und Enden auf das
Alkoholproblem, dem abgeholfen werden könnte durch mehr Wissen.
Fast jeder aufgeschlossene Arbeitgeber fühlt eine moralische
Verantwortung für das Wohlbefinden seiner Mitarbeiter und versucht,
dieser Verantwortung gerecht zu werden. Daß er sich dem Alkoholiker
gegenüber nicht immer so verhalten hat, ist leicht zu verstehen.
Für ihn war der Alkoholiker oft ein Narr ersten Ranges. Wegen
besonderer Fähigkeiten oder aufgrund einer persönlichen Sympathie
hat der Arbeitgeber ihn manchmal länger behalten, als es vernünftig
war. Manche Arbeitgeber haben jedes Mittel versucht. Nur in ganz
wenigen Fällen hat es an Geduld und Toleranz gefehlt. Und wir, die
wir die besten Arbeitgeber hintergangen haben, können uns kaum
darüber beklagen, wenn schließlich doch noch kurzer Prozeß mit uns
gemacht wurde.
Hier ist ein typisches Beispiel: Ein Direktor einer der großen
Banken von Amerika weiß, daß ich nicht mehr trinke. Eines Tages
erzählte er mir von einem anderen Direktor dieser Bank, der nach
der Beschreibung zweifellos Alkoholiker war. Das schien mir eine
Möglichkeit, mich nützlich zu machen. So verbrachte ich zwei
Stunden damit, meinen Bekannten, diesen leitenden Bankbeamten, über
Alkoholismus als Krankheit aufzuklären. Ich beschrieb ihm die
Symptome und Folgen, so gut ich konnte. Sein Kommentar war: "Sehr
interessant. Aber ich bin sicher, daß dieser Mann aufgehört hat zu
trinken. Er ist gerade zurück von einem dreimonatigen Urlaub, hat
eine Kur gemacht und sieht gut aus. Um der Sache Nachdruck zu
verleihen, hat ihm der Vorstand erklärt, das sei seine letzte
Chance."
Aus meiner Erfahrung heraus konnte ich da nur antworten, daß es mit
dem Mann noch viel schlimmer kommen würde, wenn die Sache den
üblichen Gang nehme.Ich fühlte, daß das unvermeidlich war, und
machte mir Gedanken, ob die Bank mit dieser Drohung das Richtige
tat. Wäre es nicht besser, den Mann mit einigen Alkoholikern aus
unserer Gemeinschaft zusammenzubringen? Er könnte eine Chance
haben. Ich machte darauf aufmerksam, daß ich seit drei Jahren
keinen Tropfen mehr getrunken hatte, und das trotz Schwierigkeiten,
die neun von zehn Leuten dazu gebracht hätten, sich um den Verstand
zu saufen. Warum sollte man ihm nicht wenigstens eine Gelegenheit
geben, meine Geschichte anzuhören? "O nein",
sagte mein Freund: "Dieser Bursche ist entweder fertig mit dem
Alkohol, oder er verliert seinen Job. Wenn er soviel Willenskraft
und Mut hat wie du, dann schafft er es!"
 

Am liebsten hätte ich verzweifelt aufgegeben, als ich sah, daß ich
mich meinem Freund von der Bank nicht verständlich machen konnte.
Er konnte einfach nicht begreifen, daß sein Kollege an einer
schweren Krankheit litt. Da war nichts zu tun, als abzuwarten.
Kurz darauf hatte der alkoholkranke Bankdirektor einen Rückfall und
wurde rausgeworfen. Nach seiner Entlassung nahmen wir Kontakt mit
ihm auf. Ohne viel Aufhebens akzeptierte er die Grundsätze und die
Verhaltensweise, die uns geholfen hatten. Zweifellos ist er auf dem
Weg der Genesung. Mir zeigt dieser Vorfall den Mangel
an Verständnis für das, was einem Alkoholiker wirklich fehlt, und
den Mangel an Wissen über die Rolle, die der Arbeitgeber zu seinem
eigenen Vorteil gegenüber kranken Arbeitnehmern einnehmen sollte.
Wenn Sie als Arbeitgeber helfen möchten, lassen Sie mal Ihr eigenes
Trinken oder Nichttrinken aus dem Spiel. Ob Sie ein starker oder
maßvoller Trinker oder ein Abstinenzler sind, so haben Sie doch
festgefahrene Meinungen, vielleicht sogar Vorurteile. Wer mäßig
trinkt, ärgert sich über einen Alkoholiker vielleicht mehr als
jemand, der gar nichts trinkt. Wenn Sie nur gelegentlich trinken,
kennen Sie Ihre Reaktionen. Es ist möglich, daß Sie in vielen
Dingen ganz sicher werden; für den Alkoholiker aber ist das nicht
immer so. Als jemand, der mit Alkohol umgehen kann, können Sie
trinken oder es sein lassen. Sie sind in der Lage, Ihr Trinken
immer zu kontrollieren. Wenn Sie sich mal abends einen leichten
Schwips angetrunken haben, stehen Sie frühmorgens auf, schütteln
Ihren Kopf und gehen Ihrer Arbeit nach. Für Sie ist der Alkohol
kein Problem. Deshalb können Sie nicht verstehen, warum es für
jemand anderen ein Problem sein kann, es sei denn, dieser andere
ist dumm und haltlos!
Im Umgang mit einem Alkoholiker mag in Ihnen ein ganz natürlicher
Ärger aufkommen, daß ein Mensch so schwach, dumm und verantwort
ungslos sein kann. Sogar dann, wenn Sie die Krankheit besser
verstehen, ist das möglich.
Ein Blick auf den Alkoholiker in Ihrem Betrieb ist manchmal recht
aufschlußreich. Ist er nicht meistens scharfsinnig, schnelldenkend,
einfallsreich und liebenswert? Arbeitet er nicht hart und hat ein
Auge dafür, was erledigt werden muß, wenn er nüchtern ist? Wäre er
mit all diesen Vorzügen nicht wert, gehalten zu werden, wenn er
nicht trinken würde? Sollte bei ihm nicht derselbe Maßstab angelegt
werden wie bei anderen kranken Angestellten? Ist er es wert,
gerettet zu werden? Wenn Sie diese Fragen aus humanitären oder
geschäftlichen Gründen bejahen, können die folgenden Vorschläge
hilfreich sein.
Können Sie das Gefühl beiseiteschieben, das Alkoholismus nur etwas
mit schlechter Gewohnheit, Halsstarrigkeit oder Willensschwäche zu
tun hat? Wenn Ihnen das Schwierigkeiten macht, kann es sich lohnen,
die Kapitel zwei und drei, in denen die Alkoholkrankheit
ausführlich behandelt wird, nochmals zu lesen. Sie als
Geschäftsmann wissen, daß man vor Vertragsabschluß die Bedingungen
kennen muß. Wenn Sie zugestehen, daß Ihr Angestellter krank ist,
kann ihm dann seine Vergangenheit vergeben werden? Kann man seine
Dummheiten vergessen? Kann man ihm zugute halten, daß er das Opfer
einer verworrenen Denkweise war, die direkt durch die abnorme
Wirkung des Alkohols auf sein Gehirn entstand? Nie werde ich den
Schock vergessen, den ich bekam, als mir ein prominenter Arzt in
Chicago von Fällen erzählte, bei denen der Druck der
Rückenmarkflüssigkeit das Hirn zerstörte. Kein Wunder, daß ein
Alkoholiker so seltsam vernünftig ist. Wer würde es nicht sein, mit
so einem zerstörten Hirn? Normale Trinker leiden darunter nicht und
können deshalb die Verwirrung des Alkoholikers nicht verstehen.
Ihr Mitarbeiter hat vermutlich versucht, eine Menge von Ausrut
schern - wahrscheinlich ziemlich schlimme - zu verbergen. Solche
Anlässe können Ihren Widerwillen erregen. Wahrscheinlich können Sie
sich nicht vergegenwärtigen, wie ein sonst überdurchschnittlicher
Mann in so etwas hineingerät. Sie müssen diese Entgleisungen, so
schrecklich sie auch sind, der Wirkung zuschreiben, die der Alkohol
bei einem Alkoholiker auslöst. Bei und nach einem Trinkgelage
vollbringt ein Alkoholiker, auch wenn er in nüchternem Zustand ein
Beispiel an Ehrlichkeit ist, unglaubliche Dinge. Danach ist seine
Gefühlslage schrecklich. Fast immer sind solche Verrücktheiten
nichts mehr als ein vorübergehender Zustand.
Das soll nicht bedeuten, daß alle Alkoholiker ehrlich und
aufrichtig sind, wenn sie nicht trinken. Natürlich stimmt das
nicht. Sie als Arbeitgeber werden oft von solchen Leuten
ausgenutzt. Manche Alkoholiker werden Vorteile aus Ihrer
Freundlichkeit ziehen, wenn Sie als Arbeitgeber Verständnis und
Hilfsbereitschaft erkennen lassen. Wenn Sie davon überzeugt sind,
daß Ihr Mann nicht mit dem Trinken aufhören will, sollte er
entlassen werden, je früher desto besser. Sie tun ihm keinen
Gefallen, wenn Sie ihn behalten. Der Rausschmiß mag für einen
solchen Mann zum Segen werden. Die Entlassung kann der Anstoß sein,
den er braucht. Ich weiß, daß in meinem speziellen Fall nichts, was
meine Firma hätte tun können, mich vom Trinken abgehalten hätte.
Solange ich meinen Arbeitsplatz halten konnte, sah ich absolut
nicht den Ernst meiner Lage. Hätten sie mich erst rausgeschmissen
und dann Schritte unternommen, um mir die Lösung aufzuzeigen, wie
sie in diesem Buch geschildert wird, dann hätte es sein können, daß
ich nach sechs Monaten als gesunder Mann zu ihnen zurückgekehrt
wäre.
Es gibt viele, die aufhören wollen, und mit denen kommen sie
weiter. Ihr verständnisvoller Umgang mit ihnen zahlt sich aus.
Vielleicht kennen Sie einen solchen Mann. Er will mit dem Trinken
aufhören, und Sie wollen ihm dabei helfen, selbst wenn es nur aus
Geschäftsinteresse ist. Sie wissen jetzt mehr über Alkoholismus.
Sie können erkennen, daß er geistig und körperlich krank ist. Sie
sind bereit, seine letzten Auftritte zu übersehen. Vielleicht
könnte man so an die Sache herangehen:
Sagen Sie ihm, daß Sie über sein Trinken Bescheid wissen und daß
das aufhören muß. Sie können ihm sagen, daß Sie seine Fähigkeiten
schätzen und ihn gern behalten wollten, aber nicht, wenn er wei
tertrinkt. Eine entschiedene Haltung in diesem Punkt hat vielen von
uns geholfen.
Als nächstes können Sie ihm versichern, daß Sie nicht beabsichti
gen, Moral zu predigen oder ihn zu verdammen. Sollte das früher
geschehen sein, dann nur aufgrund eines Mißverständnisses. Wenn
irgendwie möglich, lassen Sie ihn erkennen, daß Sie es gut mit ihm
meinen. An diesem Punkt ist es an der Zeit,
die Krankheit Alkoholismus zu erklären. Sagen Sie ihm, daß er Ihrer
Ansicht nach ein schwer kranker - vielleicht todkranker - Mann ist.
Fragen Sie ihn, ob er unter diesen Umständen nicht wieder gesund
werden will. Sie müssen fragen, weil viele Alkoholiker, verdreht
und vergiftet wie sie sind, gar nicht aufhören wollen. Will er es
denn? Will er jeden notwendigen Schritt unternehmen, alles
daransetzen, um wieder gesund zu werden und für immer mit dem
Trinken aufzuhören?
Falls er ja sagt, meint er es wirklich ehrlich oder denkt er im
stillen, daß er Sie täuschen kann, daß er nach einer Pause und
einer Behandlung dann und wann wieder etwas Alkohol trinken kann?
Wir glauben, daß der Betroffene hier sorgfältig unter die Lupe
genommen werden sollte. Versichern Sie sich, daß er weder sich
selbst noch Sie täuscht.
Ob Sie dieses Buch erwähnen, ist Ihnen überlassen. Wenn er sich
nicht festlegt und immer noch meint, daß er irgendwann wieder
trinken kann, und sei es Bier, dann können Sie ihn nach seinem
nächsten Besäufnis rauswerfen. Wenn er ein Alkoholiker ist, wird
das fast mit Sicherheit wieder geschehen. Mit Nachdruck muß ihm das
verständlich gemacht werden. Entweder haben Sie es mit einem
Menschen zu tun, der gesund werden will und kann, oder nicht. Wenn
nicht, wozu dann Zeit mit ihm verschwenden? Das mag hart klingen,
aber es ist üblicherweise der beste Weg.
Nachdem Sie sich davon überzeugt haben, daß Ihr Mann gesund werden
will und daß er alles tun wird, um das zu erreichen, können Sie ihm
eine feste Vorgehensweise vorschlagen. Für die meisten trinkenden
Alkoholiker und für solche, die gerade eine Trinkphase hinter sich
haben, ist in gewissem Umfang eine körperliche Behandlung
erwünscht, ja sogar geboten. Die Angelegenheit der körperlichen
Behandlung sollten Sie natürlich Ihrem Arzt überlassen. Wie auch
immer die Behandlungsmethode ist, es geht darum, Körper und Geist
von den Folgen des Alkoholismus
zu befreien. In kundigen Händen dauert das selten lange, noch ist es
sehr teuer. Ihr Mann hat größere Chancen, wenn er in eine
körperliche Verfassung versetzt wird, in der er richtig denken kann
und in der er nicht mehr nach Alkohol giert. Wenn Sie ihm eine
solche Behandlung vorschlagen, kann es wichtig sein, daß Sie ihm
die Kosten dafür vorlegen. Sie sollten ihm aber klarmachen, daß
alle vorgelegten Ausgaben später von seinem Lohn einbehalten
werden. Es ist besser für ihn, wenn er sich voll verantwortlich
fühlt.
Wenn Ihr Mitarbeiter das Angebot annimmt, sollte darauf hingewiesen
werden, daß die körperliche Behandlung nur ein kleiner Teil des
Ganzen ist. Obwohl Sie ihm die bestmögliche medizinische Betreuung
zukommen lassen, muß er wissen, daß er eine innere Wandlung
durchzumachen hat. Um über das Trinken hinwegzukommen, ist eine
Änderung des Denkens und der Einstellung notwendig. Wir alle mußten
die Genesung über alles stellen, denn ohne sie hätten wir beides
verloren, Familie und Beruf.
Haben Sie volles Vertrauen in seine Fähigkeiten, gesund zu werden?
Da wir beim Vertrauen sind: Können Sie sich darauf einstellen, daß
diese Angelegenheit von Ihrer Seite aus streng vertraulich
behandelt wird, daß seine alkoholbedingten Verfehlungen und seine
anstehende Behandlung nie ohne seine Einwilligung erwähnt werden?
Nach seiner Rückkehr ist es wohl angebracht, ein eigehendes
Gespräch mit ihm zu führen.
Kommen wir auf das Hauptthema dieses Buches zurück. Hier werden
gezielte Vorschläge gemacht, wie der Arbeitnehmer sein Problem
lösen kann. Für Sie als Arbeitgeber sind einige der hier
vorgetragenen Gedanken sicher ungewöhnlich. Vielleicht sind Sie mit
dem, was wir vorschlagen, nicht ganz einverstanden. Was wir
anzubieten haben, ist nicht der Weisheit letzter Schluß, aber bei
uns hat es funktioniert. Sicher kommt es Ihnen mehr auf das
Resultat an als auf die Methode. Ob Ihr Mitarbeiter es mag oder
nicht, er muß die bittere Wahrheit über Alkoholismus erleben. Das
wird ihm nicht schaden, auch wenn er davon nicht begeistert ist.
Wir schlagen vor, daß Sie den Arzt Ihres Patienten auf dieses Buch
aufmerksam machen. Wenn der Patient fähig ist, dieses Buch zu
lesen, obwohl er noch am Boden zerstört ist, kann er sich seiner
Lage bewußt werden.
Wie immer auch der Zustand des Patienten sein mag, so hoffen wir
doch, daß der Arzt ihm die Wahrheit sagt. Wenn dem Patienten dieses
Buch ausgehändigt wird, dann sagt am besten niemand zu ihm, er
müsse sich an unsere Vorschläge halten. Er muß selbst entscheiden.
Sie möchten natürlich darauf wetten, daß Ihre veränderte Haltung
und der Inhalt dieses Buches das Problem aus der Welt schaffen. In
manchen Fällen ist das so, in anderen wieder nicht. Wenn Sie am
Ball bleiben, wird in der Mehrzahl der Fälle Ihr Bemühen von Erfolg
gekrönt sein. In dem Maße, in dem unsere AA-Gemeinschaft wächst,
vergrößert sich die Chance, daß betroffene Arbeitnehmer in Kontakt
mit uns treten können. Wir sind davon überzeugt, daß bis dahin
durch dieses Buch schon eine ganze Menge erreicht werden kann.
Wenn Ihr Angestellter aus einer Behandlung zurückkommt, dann reden
Sie mit ihm. Fragen Sie ihn, ob er glaubt, eine Lösung gefunden zu
haben. Wenn er bereit ist, sein Problem mit Ihnen zu besprechen,
wenn er weiß, daß Sie Verständnis haben und durch nichts, was er
Ihnen erzählen möchte, aus der Fassung zu bringen sind, dann hat er
einen guten Start.
Übrigens: Können Sie wirklich ruhig bleiben, wenn der Mann anfängt,
schockierende Dinge zu erzählen? Er könnte Ihnen beispielsweise
gestehen, daß er seine Spesenabrechnung frisiert hat oder das er
plante, Ihnen Ihren besten Kunden abspenstig zu machen? Tatsächlich
kann er so auspacken, wenn er unseren Weg zur Genesung akzeptiert
hat, der - wie Sie wissen - strikte Ehrlichkeit erfordert. Können
Sie das wie ein schlechtes Geschäft abschreiben und neu mit ihm
beginnen? Sollte er Ihnen Geld
schulden, dann ist es ratsam, mit ihm Vereinbarungen zu treffen.
Wenn er über seine familiäre Situation spricht, können Sie zwei
fellos hilfreiche Vorschläge machen. Darf er sich mit Ihnen offen
aussprechen, solange er nicht Geschäftsklatsch verbreitet oder
seine Mitarbeiter kritisiert? Ein Angestellter mit diesen Charak
tereigenschaften verdient Ihre uneingeschränkte Loyalität.
Die größten Feinde von uns Alkoholikern sind Groll, Eifersucht,
Neid, Enttäuschung und Angst. Wo immer Menschen im Geschäftsleben
zusammenkommen, ergeben sich Rivalitäten, und aus diesen erwachsen
Intrigen. Oft haben wir Alkoholiker den Eindruck, als wollte man
uns fertigmachen. Meistens ist das nicht der Fall. Aber hin und
wieder wird unser früheres Trinken in diese Intrigen eingeflochten.
Da war zum Beispiel ein boshafter Kollege, der immer dumme, kleine
Witze über die Heldentaten aus der Saufzeit eines Alkoholikers
machte. Und so sorgte er dafür, daß die alten Geschichten im Umlauf
blieben. In einem anderen Fall wurde ein Alkoholiker zur Behandlung
ins Krankenhaus geschickt. Am Anfang wußten das nur wenige. Nach
kurzer Zeit war es so bekannt, als ob es am Schwarzen Brett
gestanden hätte. Natürlich verringert so etwas die Genesungschancen
des Betroffenen. In vielen Fällen kann der Arbeitgeber das Opfer
vor solchem Klatsch schützen. Er sollte zwar niemand bevorzugen, er
kann jedoch einen Mitarbeiter gegen schädliche Provokation und
unfaire Kritik verteidigen.
Im großen und ganzen sind Alkoholiker tatkräftige Leute. Aktiv wie
bei der Arbeit sind sie auch in der Freizeit. Ihr Angestellter wird
wohl alles daran setzen, um wiedergutzumachen. Noch etwas
geschwächt steht er vor der körperlichen und geistigen
Wiederherstellung eines Lebens, das keinen Alkohol kennt, und
übertreibt vielleicht alles ein bißchen. Es kann sein, daß Sie
seinen Wunsch bremsen müssen, sechzehn Stunden am Tag zu arbeiten.
Sie müssen ihn ermutigen, hin und wieder auch zu entspannen. Er
wird den Wunsch haben, viel für andere Alkoholiker zu tun, und das
auch während der Arbeitszeit. Eine gewisse Nachsicht ist
angebracht. Diese Tätigkeit braucht er, um seine Nüchternheit zu
erhalten.
Nachdem der Angestellte einige Monate ohne Trinken hinter sich
gebracht hat, können Sie vielleicht seine Hilfsbereitschaft
gegenüber anderen Angestellten, die ein Alkoholproblem haben,
einsetzen. Voraussetzung ist natürlich, daß die Betroffenen damit
einverstanden sind. Ein genesener Alkoholiker in einer ziemlich
untergeordneten Stellung kann ohne weiteres mit einem Mann in einer
höheren Position sprechen. Da er jetzt eine völlig andere
Einstellung zum Leben hat, wird er nie versuchen, aus einem solchen
Gespräch Vorteile zu ziehen.
Sie können Ihrem Angestellten vertrauen. Dennoch werden Sie auf
grund langjähriger Erfahrung mit typischen Alkoholiker
Entschuldigungen mißtrauisch sein. Beim nächsten Anruf seiner Frau,
die ihn krank meldet, kommt Ihnen schlagartig der Gedanke, er könne
betrunken sein. Wenn das stimmt und er immer noch versucht,
nüchtern zu werden, wird er es Ihnen erzählen, selbst wenn es ihn
seine Stellung kostet. Er weiß, daß er ehrlich sein muß, wenn er
überleben will. Er wird es zu schätzen wissen, wenn Sie sich nicht
den Kopf über ihn zerbrechen. Er rechnet es Ihnen hoch an, wenn Sie
weder mißtrauisch sind, noch versuchen, sein Leben so zu lenken,
daß er gegen die Versuchung zu Trinken abgeschirmt ist. Wenn er
gewissenhaft unserem Programm der Genesung folgt, kann er überall
hingehen, wo es für Ihr Geschäft erforderlich ist.
Wenn er rückfällig wird, sei es auch nur ein einziges Mal, müssen
Sie entscheiden, ob Sie ihn entlassen. Wenn Sie sicher sind, daß er
es nicht ernst meint mit dem Aufhören, sollten Sie sich von ihm
trennen, ohne lange zu zaudern. Wenn Sie andererseits davon
überzeugt sind, daß er sein Bestes tut, möchten Sie ihm sicher noch
einmal eine Chance geben. Aber Sie sollten sich nicht verpflichtet
fühlen, ihn zu behalten, denn Sie haben schon genug
für ihn getan.
Da ist noch etwas, was Sie vielleicht tun möchten. Wenn Sie Chef
einer großen Firma sind, wünschen Sie, daß Ihre jüngeren leitenden
Angestellten dieses Buch in die Hand bekommen. Die Abteilungsleiter
sollten wissen, daß Sie nichts gegen Alkoholiker in Ihrem
Unternehmen haben. Jüngere Führungskräfte sind oft in einer
schwierigen Lage. Ihre Untergebenen sind häufig ihre Freunde. Aus
verschiedenen Gründen werden die Abteilungsleiter ihre Leute
decken, in der Hoffnung, daß sich alles wieder zum Guten wendet.
Der Führungsnachwuchs gefährdet oft die eigene Position, indem er
versucht, schweren Trinkern zu helfen, denen man entweder die
Entlassung oder eine Möglichkeit zur Genesung hätte geben sollen.
Nach der Lektüre dieses Buches kann ein junger Vorgesetzter etwa
mit folgenden Worten auf einen Mann zugehen: "Hör mal gut zu, Eddy.
Willst du aufhören zu trinken oder nicht? Jedesmal, wenn du
betrunken bist, bringst du mich in eine mißliche Lage. Das ist
weder mir noch der Firma gegenüber fair. Ich habe etwas über
Alkoholismus erfahren. Wenn du ein Alkoholiker bist, dann bist du
ein schwerkranker Mann. So benimmst du dich auch. Die Firma will
dir da raushelfen, und wenn du willst, gibt es einen Weg. Wenn du
ihn einschlägst, werden wir deine Vergangenheit vergessen. Die
Tatsache, daß du zu einer Behandlung fort bist, wird nicht erwähnt
werden. Wenn du aber mit dem Trinken nicht aufhören kannst oder
willst, solltest du kündigen.
Ihre junge Führungskraft mag mit dem Inhalt dieses Buches nicht
einverstanden sein. Er soll und braucht es den Alkoholiker nicht
merken zu lassen. Zumindest weiß er jetzt um das Problem. Er läßt
sich nicht mehr mit den üblichen Versprechungen an der Nase
herumführen. Er wird in der Lage sein, diesem Mann gegenüber eine
korrekte und ehrliche Haltung einzunehmen. Er wird keinen weiteren
Grund mehr haben, einen alkoholkranken Mitarbeiter zu decken.
Der langen Rede kurzer Sinn: Keiner sollte entlassen werden, nur
weil er Alkoholiker ist. Wenn er aufhören möchte, sollte man ihm
eine echte Chance geben. Wenn er nicht aufhören kann oder will,
sollte er entlassen werden. Davon sollte man selten abweichen. Wir
glauben, daß mit dieser Methode viel zu erreichen ist. Sie erlaubt
die Wiedereingliederung guter Leute. Gleichzeitig werden die
Bedenken zerstreut, sich von solchen Leuten zu trennen, die nicht
aufhören können oder wollen. Alkoholismus kann durch den Ausfall
von Arbeitszeit, den Verlust von Menschen und durch die Minderung
von Ansehen Ihrem Unternehmen beträchtlich Schaden zufügen. Wir
hoffen, unsere Vorschläge dienen dazu, daß solche Schäden
weitgehend vermieden werden. Es erscheint uns sinnvoll, wenn wir
Sie als Arbeitgeber drängen, einerseits die sinnlosen Bemühungen
einzustellen und andererseits dem, der es wert ist, eine Chance zu
geben.
Vor einiger Zeit sprachen wir den Vizepräsidenten eines großen
Industriekonzerns an. Er antwortete: "Es freut mich, daß Ihr Euer
Trinkproblem im Griff habt. Aber es ist unsere Firmenpolitik, sich
nicht in das Privatleben der Angestellten einzumischen. Wenn jemand
so viel trinkt, daß seine Arbeit darunter leidet, entlassen wir
ihn. Ich kann mir nicht vorstellen, wie Ihr uns helfen könnt. Wie
Ihr seht, haben wir kein Alkoholproblem." - Dieses Unternehmen gibt
jedes Jahr Millionen für Forschungszwecke aus. Die
Produktionskosten werden bis zur letzten Stelle hinterm Komma
ausgewiesen. Es gibt Erholungseinrichtungen und eine
Firmenversicherung. Aus menschlichen und geschäftlichen Gründen
besteht ein echtes Interesse am Wohlergehen der Angestellten. Aber
Alkoholismus, so glaubt man, den gibt es dort nicht. Wahrscheinlich
ist diese Einstellung typisch. Bei uns ist eine Menge Erfahrung
auch über das Geschäftsleben, zumindest aus der Sicht des
Alkoholikers, zusammengekommen. Darum mußten wir über die offen
geäußerte Meinung dieses Herrn lächeln. Er wäre schockiert, wenn er
wüßte, wieviel der Alkoholismus sein Unternehmen
im Jahr kostet. Unter den Beschäftigten dieser Firma verbergen sich
wahrscheinlich viele Alkoholiker und Alkoholgefährdete. Die Leiter
großer Unternehmen haben oft wenig Ahnung, wie weitverbreitet
dieses Problem ist. Wenn Sie meinen, daß es in Ihrem Unternehmen
kein Alkoholproblem gibt, kann es sich auszahlen, dieser Sache
nochmals auf den Grund zu gehen. Dabei werden Sie einige
interessante Entdeckungen machen. Selbstverständlich ist in diesem
Kapitel von Alkoholikern die Rede, von kranken und gestörten
Menschen. Unser Freund, der Vizepräsident, dachte bei seiner
Aussage an Gewohnheitstrinker oder fröhliche Zecher. Was diese
betrifft, so ist seine Einstellung zweifellos richtig. Aber er
unterschied nicht zwischen solchen Leuten und Alkoholikern.
Es kann nicht erwartet werden, daß man einem alkoholkranken Ange
stellten unverhältnismäßig viel Zeit und Aufmerksamkeit widmet. Er
sollte keine Sonderstellung einnehmen. Derjenige Alkoholiker, der
gesund wird, will das auch nicht. Er will sich nicht aufdrängen. Im
Gegenteil. So einer arbeitet wie ein Wilder und dankt es bis an
sein Lebensende.
Heute gehört mir eine kleine Firma. Ich beschäftige zwei
Alkoholiker, die soviel umsetzen wie fünf Verkäufer. Warum auch
nicht? Sie haben eine neue Einstellung gewonnen; denn sie sind vor
einem trostlosen Leben gerettet worden. Ich freue mich über jeden
Augenblick, den ich darauf verwandt habe, ihr Leben wieder in
Ordnung zu bringen.
 

Kapitel 11
Ein Ausweg für Sie
 

Für die meisten Leute bedeutet Trinken Geselligkeit, Kameradschaft
und lebhaft angeregte Phantasie. Es bedeutet Befreiung von Sorgen,
Langeweile und Kummer. Es ist das fröhliche Zusammensein mit
Freunden und gibt das Gefühl, das Leben sei gut. Bei uns war das in
der Schlußphase unseres schweren Trinkens nicht mehr so. Es machte
keinen Spaß mehr. Nur Erinnerungen blieben. Nie gelang es uns, die
schönen Stunden der Vergangenheit zu wiederholen. In uns war eine
einzige große Sehnsucht, das Leben so wie früher zu genießen. Um
das zu erreichen, klammerten wir uns wie besessen daran, durch ein
Wunder diese Fähigkeit zum kontrollierten Trinken wieder zu
erlangen. Es gab immer wieder einen neuen Versuch - und einen neuen
Fehlschlag.
Je weniger die Leute uns mochten, um so mehr zogen wir uns von der
Gesellschaft, vom Leben selbst zurück. Wir wurden Untertanen des
Königs Alkohol, zitternde Einwohner seines verrückten Reiches. Der
kalte Nebel der Einsamkeit senkte sich über uns. Er wurde immer
dicker und schwärzer. Einige von uns suchten in finsteren Kneipen
Verständnis, Kameradschaft und Bestätigung. Für Augenblicke fanden
wir, was wir suchten. Dann holte uns die Einsamkeit ein. Was
folgte, war das furchtbare Erwachen angesichts der vier
apokalyptischen Reiter: Schrecken, Verwirrung, Enttäuschung,
Verzweiflung. Unglückliche Trinker, die das lesen, werden es
verstehen.
Ein richtiger Trinker sagt hin und wieder, wenn er mal trocken
ist: "Ich vermisse den Alkohol überhaupt nicht. Ich fühle mich
wohler und arbeite besser. Das Leben macht mir Spaß." Als nüchterne
Alkoholiker lächeln wir über einen derartigen Gedanken. Wir wissen,
daß sich unser Freund so verhält, wie der Junge, der im Dunkeln
pfeift, um sich Mut zu machen. Unser Freund betrügt sich selbst.
In seinem Inneren würde er alles dafür geben, wenn er ohne
nachteilige Folgen ein halbes Dutzend Schnäpse trinken könnte. Er
wird bald das gleiche Spielchen wieder versuchen, denn sein
Nichttrinken macht ihn nicht glücklich. Ein Leben ohne Alkohol kann
er sich nicht vorstellen. Eines Tages wird er sich
das Leben überhaupt nicht mehr vorstellen können - weder mit noch
ohne Alkohol. Dann wird er die Einsamkeit so kennenlernen, wie nur
wenige sie kennen. Er wird bereit sein zum Sprung in den Abgrund.
Er wird das Ende herbeiwünschen.
Wir haben beschrieben, wie wir da herausgekommen sind. Sie sagen:
"Ja, ich bin bereit. Aber werde ich damit nicht zu einem Leben
verurteilt, in dem ich stumpfsinnig, langweilig und mürrisch sein
muß wie einige Tugendbolde, die ich kenne? Ich weiß, daß ich ohne
Alkohol auskommen muß, aber wie kann ich das? Habt Ihr einen
vollwertigen Ersatz dafür?"

Ja, dafür gibt es Ersatz, und es ist weit mehr als das. Es ist die
Kameradschaft unter den Anonymen Alkoholikern. Dort werden Sie
Befreiung von Sorgen, Langeweile und Kummer erfahren. Ihre
Phantasie wird angefeuert. Ihr Leben bekommt endlich einen Sinn.
Die schönsten Jahre liegen noch vor Ihnen. So erleben wir diese
Gemeinschaft, und Ihnen wird es genauso ergehen.
"Wie stelle ich das an?", fragen Sie: "Wo kann ich diese Leute
finden?" Sie werden diese neuen Freunde in Ihrer eigenen Umgebung
finden. Nicht weit von Ihnen sind Alkoholiker hilflos zum Sterben
verurteilt wie Menschen auf einem sinkenden Schiff. Wenn Sie in
einem größeren Ort leben, sind es Hunderte. Groß und klein, arm und
reich, das sind zukünftige Mitglieder der Anonymen Alkoholiker.
Unter ihnen werden Sie Freunde fürs Leben finden. Neue und
wunderbare Beziehungen werden Sie mit ihnen verbinden. Gemeinsam
werden Sie dem Unheil entkommen, und Schulter an Schulter brechen
Sie auf zu der gemeinsamen Reise. Dann werden Sie erfahren, was es
heißt, etwas von sich selbst zu geben, so daß andere überleben und
das Leben neu entdecken können. Dann werden Sie die volle Bedeutung
des Wortes erkennen können: "Liebe deinen Nächsten wie dich
selbst."

Es erscheint unglaublich, daß diese Menschen je wieder glücklich,
geachtet und nützlich werden. Wie können sie aus solchem Elend,
Schande und Hoffnungslosigkeit herausfinden? Die Antwort heißt: So
wie diese Dinge uns geschahen, können Sie auch mit Ihnen geschehen.
Wenn dieser Wunsch für Sie an erster Stelle steht und wenn Sie sich
unsere Erfahrung zu eigen machen wollen, sind wir sicher, daß es
eintrifft. Auch heute geschehen noch Wunder. Unsere eigene Genesung
ist Beweis dafür.
Wir hoffen, daß dieses bescheidene Buch in einer Flut von Alkoho
lismus für viele verzweifelte Trinker zu einem Rettungsring wird,
wenn sie unsere Ratschläge befolgen. Wir sind sicher, daß viele
wieder auf die Beine kommen und gehen können. Sie werden sich dann
denen zuwenden, die noch krank sind. Gruppen von Anonymen
Alkoholikern können in Stadt und Land entstehen, als Zufluchtsort
für diejenigen, die einen Weg herausfinden müssen.
Im Kapitel "Die Arbeit mit anderen" haben Sie in etwa erfahren, wie
wir auf andere zugehen und ihnen zur Genesung verhelfen. Nehmen wir
mal an, daß durch Sie verschiedene Familien diese neue Lebensweise
übernommen haben. Jetzt wollen Sie wissen, wie Sie weitermachen
sollen. Ein kleiner Blick in Ihre Zukunft wird Ihnen ermöglicht,
wenn wir etwas über das Wachsen der Gemeinschaft erzählen. Hier
ist ein kurzer Überblick:
Im Jahr 1935 machte einer von uns eine Reise in eine Stadt im
Westen. Geschäftlich gesehen war die Reise für ihn ein Mißerfolg.
Wäre dieses Unternehmen erfolgreich gewesen, wäre er finanziell
wieder auf die Beine gekommen, was ihm damals lebenswichtig er
schien. Es endete in einem Rechtsstreit und führte zu nichts. Das
Verfahren wurde mit großer Härte und Schärfe ausgefochten. Bitter
enttäuscht, in Mißkredit gebracht und fast pleite, fand er sich an
einem fremden Ort wieder. Körperlich noch schwach, weil er erst
seit ein paar Monaten nüchtern war, sah er, daß diese mißliche Lage
gefährlich für ihn war. Er wollte mit jemand sprechen, aber mit
wem?
An einem trüben Nachmittag ging er in der Hotelhalle auf und ab
und machte sich Gedanken, wie er seine Rechnung bezahlen könnte. An
einem Ende der Halle war unter Glas das Verzeichnis der örtlichen
Kirchen. Am anderen Ende war eine Tür zu einer einladenden Bar. Er
konnte drinnen die fröhlichen Leute sehen. Dort würde er
Gesellschaft und Entspannung finden. Wenn er nicht auch etwas
trinken würde, hätte er keinen Mut, eine Bekanntschaft zu knüpfen,
und würde ein einsames Wochenende erleben. Selbstverständlich
konnte er keinen Alkohol trinken: Aber warum sollte er nicht
erwartungsvoll an einem Tisch sitzen bei einer Flasche Ginger Ale?
War er denn schließlich nicht schon sechs Monate trocken?
Vielleicht aber könnte er auch - sagen wir mal - drei Gläser
vertragen, aber nicht mehr! Furcht packte ihn. Er bewegte sich auf
dünnem Eis. Wieder war es der alte, trügerische Irrsinn - dieses
erste Glas. Schaudernd wandte er sich ab und ging durch die Halle
zu dem Kirchenverzeichnis. Musik und fröhlicher Lärm drangen immer
noch aus der Bar zu ihm herüber. Aber was war mit seiner
Verantwortung gegenüber seiner Familie und gegenüber den Menschen,
die sterben würden, weil sie nicht wußten, wie sie gesund werden
sollten, was war mit den vielen anderen Alkoholikern? Es mußte
viele in dieser Stadt geben. Er würde einen Geistlichen anrufen. Er
konnte wieder klar denken und dankte Gott. Nachdem er aus dem
Verzeichnis aufs Geratewohl eine Kirche ausgesucht hatte, ging er
in eine Telefonzelle und nahm den Hörer ab.
Das Telefongespräch mit dem Geistlichen brachte ihn schließlich mit
einem Bürger dieser Stadt zusammen, einem früher fähigen und
geachteten Mann, der sich dem Tiefpunkt der Verzweiflung eines
Alkoholikers näherte. Es war das übliche: Die Familie zerrüttet,
die Frau krank, die Kinder vernachlässigt, die Rechnungen unbezahlt
und das Ansehen dahin. Der Mann hatte den verzweifelten Wunsch, mit
dem Trinken aufzuhören. Er sah aber keinen Weg, obwohl er schon
viele ernsthafte Versuche unternommen hatte, dem Verhängnis zu
entrinnen. Es war dem Mann schmerzlich bewußt, daß er irgendwie
abnormal war; er war sich aber nicht voll darüber im klaren, was es
heißt, Alkoholiker zu sein.*
 

* Hier wird von Bills erstem Besuch bei Dr. Bob berichtet. Die
beiden Männer sind die Gründer der AA-Gemeinschaft. Bills Ge
schichte steht am Anfang dieses Buches. Dr. Bobs Lebensgeschichte
folgt im nächsten Kapitel.
 

Unser Freund berichtete von seinen Erfahrungen. Sein Gespräch
spartner stimmte ihm zu, daß auch er trotz großer Willensanstren
gung nicht mit dem Trinken aufhören konnte. Eine seelische Erfah
rung, so räumte er ein, könnte die Not wenden. Aber das, was ihm
als Lösung vorgeschlagen wurde, schien ihm unerreichbar. Er er
zählte, wie er in ständiger Angst vor denen lebte, die etwas über
seinen Alkoholismus in Erfahrung bringen könnten. Natürlich hatte
er die fixe Idee aller Alkoholiker, daß sein Trinken nur wenigen
aufgefallen wäre. Warum, so argumentierte er, sollte er den Rest
seiner Existenz aufs Spiel setzen und noch mehr Leid über seine
Familie bringen? Diese Gefahr sah er, wenn er seinen schlimmen
Zustand leichtsinnigerweise den Leuten eingestand, denen er seinen
Lebensunterhalt verdankte. Alles würde er tun, sagte er, nur das
nicht.
Neugierig geworden, lud er unseren Freund zu sich nach Hause ein.
Einige Zeit später, gerade als er glaubte, seine Sucht unter
Kontrolle zu haben, ging er wieder auf eine schlimme Sauftour. Für
ihn war es das Besäufnis, das allen Besäufnissen ein Ende setzen
sollte. Er sah ein, daß er sich seinem Problem ehrlich stellen
mußte, um mit Gottes Hilfe die Herrschaft darüber zu gewinnen.
Eines Morgens packte er den Stier bei den Hörnern und erzählte
denen, die er fürchtete, welcher Art seine Schwierigkeiten waren.
Er kam überraschend gut an und erfuhr, daß viele über sein Trinken
Bescheid wußten. Er machte mit dem Auto die Runde und besuchte
Menschen, denen er Schaden zugefügt hatte. Er war nervös, denn es
konnte den Ruin bedeuten, besonders bei einem Mann seines Berufs.
Erschöpft, aber sehr glücklich kam er um Mitternacht heim. Er hat
seitdem keinen Alkohol mehr getrunken. Wie wir sehen werden, gilt
er jetzt viel in seiner Gemeinde. Die meisten Schulden aus dreißig
Jahren harten Trinkens waren in vier Jahren abgegolten. Doch das
Leben war für die beiden Freunde nicht einfach. Sie wurden vor
viele Schwierigkeiten gestellt. Beide erkannten, daß sie seelisch
aktiv bleiben mußten. Eines Tages riefen sie die Oberschwester
eines örtlichen Krankenhauses an. Sie erklärten ihr Anliegen und
erkundigten sich, ob es dort einen Voll-blut-Alkoholiker gebe.
Sie antwortete: "Ja, wir haben so ein Prunkstück. Er hat gerade ein
paar Krankenschwestern verprügelt. Er verliert vollkommen den Kopf,
wenn er trinkt. Aber er ist ein prima Kerl, wenn er nüchtern ist.
Er war in den letzten sechs Monaten achtmal hier. Sie müssen
wissen, daß er einmal ein bekannter Rechtsanwalt in unserer Stadt
war, aber jetzt haben wir ihn festgeschnallt." * Hier war jemand,
der in Frage kam, der Beschreibung nach war er aber nicht sehr
vielversprechend. Vom Seelischen her an eine solche Sache
heranzugehen, war damals nicht so selbstverständlich wie heute.
Dennoch sagte einer der beiden Freunde: "Legt ihn in ein
Einzelzimmer, wir kommen."
Zwei Tage später starrte ein zukünftiges Mitglied der Anonymen
Alkoholiker mit glasigen Augen auf die Fremden neben seinem Bett
und fragte: "Wer seid Ihr Leute und warum das Privatzimmer? Ich war
vorher immer in einem Saal."
Einer der Besucher sagte: "Wir machen mit Ihnen eine Alkoholismus-
Behandlung."
Die Hoffnungslosigkeit stand tief im Gesicht des Mannes geschrie
ben, als er entgegnete: "Das hat doch keinen Sinn. Es gibt nichts,
was mir noch helfen würde. Ich bin abgeschrieben. Die letzten drei
Mal habe ich mich auf dem Weg von hier nach Hause betrunken. Ich
habe schon Angst, aus der Tür zu gehen. Ich kann das nicht
verstehen."

*Das bezieht sich auf den ersten Besuch von Bill und Dr. Bob bei
dem AA-Mitglied Nummer drei. Dessen Geschichte steht ebenfalls im
nächsten Kapitel. Aus der Begegnung dieser drei Männer entstand
1935 die erste AA-Gruppe in Akron, Ohio.
Eine Stunde lang erzählten die zwei Freunde ihm Erlebnisse aus
ihrer Trinkerzeit. Immer wieder sagte er: "Das bin ich. Das bin
ich. Genauso trinke ich."
Der Mann im Bett erfuhr von der akuten Vergiftung, unter der er
litt, wie sie den Körper eines Alkoholkranken zerstört und seinen
Geist verwirrt. Es wurde viel über den geistigen Zustand gespro
chen, der dem ersten Glas vorausgeht.
"Ja, das bin ich", sagte der kranke Mann, "genau mein Ebenbild. Ihr
wißt genau, wovon Ihr redet, aber ich kann mir nicht vorstellen,
was es bringen soll. Ihr seid wer. Ich war es einmal, aber jetzt
bin ich ein Niemand. Nach allem, was Ihr mir erzählt, weiß ich
jetzt mehr denn je, daß ich nicht aufhören kann." Daraufhin brachen
die beiden Besucher in ein Gelächter aus. "Wie ich es sehe, gibt es
da verdammt wenig zu lachen", meinte das zukünftige AA-Mitglied.
Die zwei Freunde sprachen von ihrer seelischen Erfahrung und
erzählten ihm, welchen Weg sie eingeschlagen haben.
Er unterbrach sie: "Früher war ich streng gläubig, aber das hat das
Problem nicht gelöst. Morgens, wenn ich einen Kater hatte, betete
ich zu Gott und schwor, daß ich nie mehr einen Tropfen anrühren
würde, aber um neun Uhr war ich voll wie eine Strandhaubitze."
Am nächsten Tag war der Schützling schon aufnahmebereiter. Er
hatte über alles nachgedacht. "Vielleicht habt Ihr recht," sagte
er, "für Gott sollte eigentlich alles möglich sein." Dann fügte er
noch hinzu: "Allerdings hat er gewiß nicht viel für mich getan, als
ich noch versucht habe, allein gegen die Trinkerei anzukämpfen."

Am dritten Tag vertraute der Rechtsanwalt sein Leben der Sorge und
Führung seines Schöpfers an und sagte, daß er uneingeschränkt
bereit sei, alles Nötige zu tun. Seine Frau kam. Sie wagte kaum zu
hoffen, obgleich sie meinte, schon eine Veränderung an ihrem Mann
feststellen zu können. Er hatte angefangen, seine seelische
Erfahrung selbst zu machen. Am gleichen Nachmittag zog er sich an
und verließ das Krankenhaus als freier Mann. Er nahm an einem
Wahlkampf teil, hielt Reden, besuchte Veranstaltungen aller Art und
blieb oft die ganze Nacht auf. Er verlor die Wahl nur knapp. Aber
er hatte Gott gefunden, und indem er Gott begegnete, fand er zu
sich selbst.
Das war im Juni 1935. Er trank nie wieder. Auch er wurde ein
geachtetes und nützliches Mitglied seiner Gemeinde. Er hat anderen
zur Genesung verholfen. Er ist zu einer starken Kraft seiner Kirche
geworden, von der er so lange ferngeblieben war. Wie Sie sehen, gab
es jetzt drei Alkoholiker in dieser Stadt, die davon überzeugt
waren, den anderen das weitergeben zu müssen, was sie erfahren
hatten, wenn sie nicht untergehen wollten. Nach mehreren
vergeblichen Versuchen, andere zu finden, tauchte ein vierter auf.
Er kam durch einen Bekannten, der die guten Neuigkeiten gehört
hatte. Es stellte sich heraus, daß er ein junger unbekümmerter Kerl
war, dessen Eltern nicht herausfinden konnten, ob er mit dem
Trinken aufhören wollte oder nicht. Es waren tiefreligiöse Leute,
die traurig waren, weil ihr Sohn nichts mit der Kirche zu tun haben
wollte. Er litt sehr unter seinen Räuschen, aber es schien, daß man
nichts für ihn tun konnte. Er willigte jedoch ein, ins Krankenhaus
zu gehen, und dort war er im gleichen Zimmer untergebracht, das der
Rechtsanwalt kurz vorher verlassen hatte.
Er hatte drei Besucher. Nach einer Weile sagte er: "So wie Ihr über
den seelischen Kram redet, leuchtet mir das ein. Ich bin bereit
mitzumachen. Meine alten Herrschaften haben wahrscheinlich doch
recht gehabt." So war noch einer zur Gemeinschaft hinzugekommen.
Während all dieser Zeit war unser Freund, den wir in der Hotelhalle
kennengelernt haben, in dieser Stadt geblieben. Er war drei Monate
dort. Jetzt kehrte er nach Hause zurück. Er ließ seinen ersten
Bekannten, ferner den Rechtsanwalt und den sorglosen jungen Mann
zurück. Diese Männer hatten etwas vollkommen Neues in ihrem Leben
gefunden. Obgleich sie wußten, daß sie anderen Alkoholikern helfen
mußten, um selbst nüchtern zu bleiben, wurde dieses Motiv
zweitrangig. Es wurde übertroffen von dem Glück, sich für andere
einzusetzen. Sie teilten ihr Heim und ihre schmalen Einkünfte mit
den Leidgenossen und widmeten ihnen bereitwillig ihre Freizeit. Sie
waren Tag und Nacht bereit, einen Neuen ins Krankenhaus zu bringen
und ihn zu besuchen. Ihre Zahl nahm ständig zu. Sie hatten einige
betrübliche Mißerfolge, aber in solchen Fällen versuchten sie, der
Familie des Mannes einen neuen, seelischen Lebensweg aufzuzeigen.
Auf diese Weise milderten sie Kummer und Leid.

Ein Jahr und sechs Monate später hatten diese drei bei sieben
weiteren Erfolg gehabt. Sie sahen sich oft. Kaum ein Abend verging,
an dem sich nicht in der Wohnung eines der Mitglieder Männer und
Frauen trafen. Glücklich über ihre Befreiung dachten sie ständig
daran, ihre Entdeckung an Neue weiterzugeben. Neben diesen
zwanglosen Zusammenkünften gab es an einem Abend in der Woche ein
Meeting für alle, die an einem seelisch ausgerichteten Lebensweg
interessiert waren. Neben Gemeinschaft und Geselligkeit wurde es
zum Hauptzweck, neuen Leuten die Möglichkeit zu geben,
über ihre Probleme zu einer bestimmten Zeit an einem festen Ort zu
sprechen.
Außenstehende fingen an, sich für uns zu interessieren. Ein Ehepaar
stellte diesem seltsam zusammengewürfelten Haufen sein großes Haus
zur Verfügung. Die beiden waren bald so begeistert, daß sie ihr
Heim der Sache bald ganz überließen. Manch verstörte Ehefrau hat
dieses Haus aufgesucht und dort Liebe und verständnisvolle
Kameradschaft unter Frauen gefunden, die das Problem kannten. Die
Ehemänner dieser Frauen erzählten, was mit ihnen geschehen war. Die
hilfesuchende Frau erhielt Ratschläge, wie ihr unberechenbarer
Partner ins Krankenhaus zur Behandlung gebracht werden könnte und
wie ihm zu begegnen sei, sollte er wieder ausrutschen.
So mancher Mann, noch benommen von seinem Krankenhauserlebnis, ist
über die Schwelle dieses Hauses in die Freiheit gegangen. So manch
ein Alkoholiker, der dort eintrat, erhielt eine Antwort. Er konnte
sich der fröhlichen Menge nicht entziehen, die über ihr eigenes
Unglück lachte und das seine verstand. Tief beeindruckt durch jene,
die ihn im Krankenhaus besucht hatten, kapitulierte er endgültig,
als er später beim Meeting im oberen Stockwerk die Geschichte eines
Mannes hörte, dessen Erfahrungen mit seinen eigenen
übereinstimmten. Der Ausdruck auf den Gesichtern der Frauen, dieses
gewisse Etwas in den Augen der Männer, die anregende und
ansteckende Atmosphäre des Ortes bestärkten ihn in der Gewißheit,
daß er hierher gehörte.
Niemand konnte dem widerstehen, was von diesen Menschen ausging:
die praktische Art, Schwierigkeiten anzupacken, die große Toleranz,
die Ungezwungenheit, die echte Demokratie und vor allem das
unbegreifliche Verständnis füreinander. So manch ein Alkoholiker
und seine Frau machten sich glücklich auf den Heimweg und
überlegten, was sie jetzt für ihre betroffenen Bekannten und deren
Familien tun könnten. Sie wußten, daß sie jetzt eine Menge neuer
Freunde hatten, und es kam ihnen so vor, als hätten sie diese
Freunde schon immer gekannt. Sie hatten Wunder gesehen, und eines
sollte ihnen widerfahren. Vor allem hatten sie jene große
Wirklichkeit geschaut: ihren liebenden und allmächtigen Schöpfer.
Heute kann dieses Haus kaum noch die wöchentlichen Besucher auf
nehmen, denn die Zahl beläuft sich in der Regel auf sechzig bis
achtzig. Alkoholiker von nah und fern werden angezogen. Familien
aus umliegenden Städten fahren weite Entfernungen, nur um dabei zu
sein. Eine Gemeinde, dreißig Meilen entfernt, hat eine Gruppe von
fünfzehn Mitgliedern. Weil es ein größerer Ort ist, nehmen wir an,
daß diese Gruppe eines Tages aus mehreren hundert Mitgliedern
bestehen wird.
Aber das Leben der Anonymen Alkoholiker ist mehr, als an
Zusammenkünften teilzunehmen und Krankenbesuche zu machen. Zum AA-
Alltag gehört es: Alte Scharten auswetzen, Familienzwiste
bereinigen, den enterbten Sohn seinen erzürnten Eltern wieder
nahebringen, Geld borgen und einander den Arbeitsplatz sichern, wo
es gerechtfertigt ist. Keiner ist so verrufen oder ist so tief
gesunken, um nicht herzlich aufgenommen zu werden, wenn er es
ehrlich meint. Über soziale Unterschiede, kleine Rivalitäten und
Eifersüchteleien geht man mit einem Lächeln hinweg. Als
Schiffbrüchige im selben Boot, gerettet und vereint von einem Gott,
sind Herz und Geist eingestimmt auf das Wohl anderer. Da ist all
das, was anderen Leuten so viel bedeutet, für sie nicht mehr
wichtig. Wie sollte es auch?
Ähnlich vollzieht sich in vielen Städten des Ostens der USA der
selbe Vorgang. In einer dieser Städte gibt es ein weithin bekanntes
Krankenhaus für die Behandlung von Alkohol- und Drogenabhängigen.
Vor sechs Jahren war einer von uns dort Patient. Viele von uns
haben in den Mauern dieses Krankenhauses zum ersten Mal die
Gegenwart und die Kraft Gottes erfahren. Wir stehen tief in der
Schuld des dort tätigen Arztes. Obwohl es zum Nachteil für seine
eigene Arbeit sein könnte, hat er uns versichert, daß er an unsere
Sache glaubt.
Alle paar Tage schlägt dieser Arzt vor, daß wir uns mit einem
seiner Patienten beschäftigen. Das Verständnis für unsere Arbeit
läßt ihn solche Kranke aussuchen, die willens und fähig sind, auf
einer seelischen Grundlage zu genesen. Viele von uns, die früher
als Patient dort waren, gehen hin, um zu helfen. Außerdem gibt es
in dieser Stadt zwanglose Zusammenkünfte, wie sie vorher
beschrieben worden sind. Dort ist eine große Anzahl von Mitgliedern
anzutreffen. Auch dort gibt es die gleichen, spontan geschlossenen
Freundschaften und dieselbe Hilfsbereitschaft untereinander, die
man unter unseren Freunden im Westen findet. Zwischen Osten und
Westen wird viel herumgereist, und wir erwarten eine Zunahme dieses
hilfreichen Erfahrungsaustausches. Wir hoffen, daß eines Tages
jeder Alkoholiker, der auf Reisen ist, an seinem Bestimmungsort
eine AA-Gruppe vorfindet. Bis zu einem gewissen Grad trifft das
schon heute zu. Einige von uns sind als Geschäftsleute viel
unterwegs. Durch den Kontakt mit unseren zwei größeren Zentren sind
kleinere Gruppen von zwei, drei oder fünf Mitgliedern auch
andernorts entstanden. Wer von uns unterwegs ist, besucht diese
kleinen Gruppen so oft er kann. So ist uns die Möglichkeit gegeben
zu helfen. Gleichzeitig schützen wir uns vor Rückfallgefahren, über
die jeder Reisende berichten kann. *
So wachsen wir. Auch Sie können wachsen, selbst wenn Sie nichts als
dieses Buch in der Hand haben. Wir glauben und hoffen, daß es alles
enthält, was Sie für den Anfang brauchen.
Wir wissen, was Sie jetzt denken. Sie sagen zu sich selbst: "Ich
bin zittrig und allein. Das schaffe ich nie." Sie können es
schaffen. Sie vergessen, daß Sie jetzt eine Kraftquelle angezapft
haben, die stärker ist als Sie selbst. Um es nochmals zu sagen: Mit
diesem Rüstzeug ist es nur eine Frage von Bereitschaft, Geduld und
Arbeit, um zu erreichen, was wir geschafft haben.
Wir kennen ein AA-Mitglied, daß in eine große Stadt gezogen ist.
Schon nach ein paar Wochen stellte er fest, daß es dort wahr
scheinlich mehr Alkoholiker pro Quadratmeile gab, als in jeder
anderen Stadt des Landes. Das war nur ein paar Tage, bevor dieses
Buch 1939 geschrieben worden ist. Wegen des Alkoholproblems waren
die Behörden sehr besorgt. Unser Mann trat in Verbindung mit

*Geschrieben 1939. Im Jahre 1982 gibt es mehr als 40 000 Gruppen in
über hundert Ländern, mit einer geschätzten Mitgliederzahl von über
einer Million.
einem bekannten Psychiater, der in gewissem Umfang Verantwortung
auf diesem Gebiet übernommen hatte. Es stellte sich heraus, daß
dieser Arzt fähig und außerordentlich daran interessiert war, jede
irgendwie wirksame Methode anzuwenden, um das Problem in den Griff
zu bekommen. So wollte er auch wissen, was unser Freund zu bieten
habe.
Unser Freund ging zu ihm und berichtete. Und das mit solchem
Erfolg, daß der Doktor einwilligte, es mit seinen Patienten und
Alkoholikern aus einer Klinik zu versuchen, die er versorgte.
Vereinbarungen wurden auch mit dem Chefarzt der psychiatrischen
Abteilung eines großen, öffentlichen Krankenhauses getroffen, um
noch andere aus dem Strom des Elends herauszusuchen, der durch
diese Anstalt fließt.
So wird unser Freund bald viele Gefährten haben. Einige von ihnen
werden untergehen und vielleicht nie wieder hochkommen. Wenn unsere
Erfahrung gültig ist, dann werden mehr als die Hälfte derer, die
angesprochen wurden, AA-Mitglieder werden. Bilden sich in der Stadt
Gruppen, deren Mitglieder Freude daran haben, anderen zu helfen und
ihnen neuen Lebensmut zu geben, gibt es hier keinen Halt, bis
jeder, der will und kann, Genesung findet. Immer noch könnten Sie
einwenden: "Aber ich werde nicht das Glück haben, Euch, die Ihr
dieses Buch schreibt, persönlich kennenzulernen." Wir wissen es
nicht. Gott wird das bestimmen. Sie müssen sich immer ins
Bewußtsein rufen, daß Sie letztlich nur
auf Ihn bauen können. Er wird Ihnen auch zeigen, wie Sie die
Gemeinschaft ins Leben rufen, nach der Sie sich sehnen. Die
Anonymen Alkoholiker freuen sich, von Ihnen zu hören.
Kontaktadressen stehen am Schluß dieses Buches.
Unser Buch ist nur als Anregung gedacht. Wir sind uns bewußt, daß
wir nur wenig wissen. Gott wird Ihnen und uns ständig mehr offen
baren. Fragen Sie ihn morgens bei der Besinnung, was Sie jeden Tag
für den tun können, der noch krank ist. Die Antwort kommt, wenn bei
Ihnen alles in Ordnung ist. Denn es ist klar, daß Sie nichts
weitergeben können, was Sie selbst nicht haben. Sorgen Sie dafür,
daß Ihr Verhältnis zu ihm in Ordnung ist. Dann werden mit Ihnen und
vielen anderen wunderbare Dinge geschehen. Das ist für uns
unumstößliche Wahrheit.
Geben Sie sich ganz in die Hand Gottes, wie Sie ihn verstehen.
Gestehen Sie ihm und Ihren Freunden Ihre Fehler ein. Räumen Sie die
Trümmer aus Ihrer Vergangenheit beiseite. Geben Sie freimütig von
dem, was Sie finden, und kommen Sie zu uns. Wir werden mit Ihnen in
seelischer Gemeinschaft verbunden sein, und Sie werden bestimmt
einigen von uns begegnen auf dem beschwerlichen Weg zum glücklichen
Ziel. Bis dahin möge Gott Sie segnen und behüten.
 
 
 
 
 

Anonyme Alkoholiker, Postfach 460 227, 80910 München (089) 316 4343

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