Kapitel 7: Die Arbeit mit anderen

Praktische Erfahrung zeigt, daß nichts so sehr deine Immunität gegen das Saufen sichert wie die intensive Arbeit mit anderen Alkoholikern. Das funktioniert auch noch dann, wenn alle anderen spirituellen Aktivitäten versagen [z.B. wenn du zu unruhig bist, um zu meditieren]. Dies ist unsere Zwölfte Empfehlung [suggestion]: Trage diese Botschaft zu anderen Alkoholikern! Du kannst helfen, wenn niemand sonst es kann. Du kannst ihr Vertrauen erwerben, wenn andere hilflos sind. Ruf' dir ins Gedächtnis, daß sie von einer tödlichen Krankheit befallen sind [are fatally ill].

Der Kick, den du dabei kriegen wirst, ist enorm. Zu sehen, wie Leute ins Leben zurückkehren, wie sie wiederum anderen helfen, wie die Einsamkeit verschwindet, wie eine Gemeinschaft um dich herum wächst, und eine Menge Freunde zu haben, das sind Erfahrungen, die du nicht missen solltest. Wir wissen, daß du dir das nicht entgehen läßt. Regelmäßige Kontakte mit Neuen und allen anderen sind Lichtblicke in unserem Leben.

Vielleicht kennst du keine Trinker, die genesen möchten. Du kannst leicht welche finden, indem du bei einigen Ärzten, Geistlichen oder in Krankenhäusern nachfragst. Sie werden deine Hilfe gern in Anspruch nehmen. Spiel dich nicht als Evangelist oder Reformer auf. Leider gibt es viele Vorurteile. Du wirst dir nur selbst Hindernisse in den Weg legen, wenn du Vorurteile wachrufst. Geistliche und Ärzte mögen es nicht, wenn man ihnen sagt, sie verstünden ihr Geschäft nicht. Gewöhnlich sind sie kompetent. Und wenn du willst, kannst du eine Menge von ihnen lernen. Wegen deiner eigenen Erfahrung mit dem Trinken kannst du anderen Alkoholikern in einzigartiger Weise nützlich sein. Also arbeite mit ihnen zusammen, kritisiere sie aber nie. Hilfreich zu sein sollte dein einziger Beweggrund sein.

Wenn du einen Anwärter für Alkoholiker Anonymus entdeckst, dann bring' alles über ihn in Erfahrung, was du kannst. Wenn er nicht mit dem Trinken aufhören will, vergeude keine Zeit damit, ihn überreden zu wollen. Du machst vielleicht eine spätere Gelegenheit zunichte. Diesen Ratschlag sollte man auch seiner Familie geben. Sie sollte geduldig sein und sich klar machen, daß sie es mit einem kranken Menschen zu tun hat.

Wenn es irgendein Anzeichen gibt, daß er aufhören will, dann führe ein offenes Gespräch mit dem Menschen, der ihm am nächsten steht. Meist ist das seine Frau. Mach' dir ein Bild von seinem Verhalten, seinen Problemen, seiner Vergangenheit [background], vom Ernst seines Zustandes und seinen religiösen Neigungen. Du brauchst dieses Wissen, um dich an seine Stelle versetzen zu können, um zu spüren, wie du am liebsten von ihm angesprochen würdest, wenn es umgekehrt wäre.

Üblicherweise ist es klug zu warten, bis der Alkoholiker wieder voll drinhängt. Die Familie mag dagegen sein, aber es ist besser, dieses Risiko einzugehen, außer wenn er in einer sehr schlechten körperlichen Verfassung ist. Gib dich nicht mit ihm ab, solange er sehr betrunken ist, es sei denn, er benimmt sich scheußlich, und die Familie braucht deine Hilfe. Warte das Ende der Saufarien ab oder sieh zu, daß du ihn wenigstens zwischendurch in einem lichten Augenblick erwischst! Dann soll seine Familie oder ein Freund ihn fragen, ob er tatsächlich aufhören und jedwedes Extrem auf sich nehmen will, um das zu erreichen. Wenn er ja sagt, dann sollte [möglichst durch einen Außenstehenden] seine Aufmerksamkeit darauf gelenkt werden, daß du einer bist, der genesen ist. Du sollst ihm beschrieben werden als jemand von einer Gemeinschaft, in der die Leute als Bestandteil ihres eigenen Genesungsprozesses versuchen, anderen zu helfen. Man sollte ihm sagen, daß du gern mit ihm sprechen würdest, wenn er Wert darauf legt.

Wenn er dich nicht sehen möchte, dräng' dich ihm niemals auf. Weder sollte die Familie ihn hysterisch anflehen, irgend etwas zu unternehmen, noch sollte sie ihm viel von dir erzählen. Sie sollten das Ende seines nächsten Besäufnisses abwarten. Du kannst dieses Buch gezielt dort plazieren, wo er es während einer Trinkpause liegen sehen kann. Für all das gibt es keine besonderen Regeln. Die Familie muß diese Dinge entscheiden. Aber bedränge die Familie, daß sie nicht überängstlich reagiert, weil dadurch alles verdorben werden könnte.

Die Familie sollte nicht versuchen, dich zu vertreten. Wenn möglich, sollte vermieden werden, daß der Kontakt durch seine Familie hergestellt wird. Es ist besser, wenn er dich durch einen Arzt oder eine Institution kennenlernt. Wenn er eine Entgiftung im Krankenhaus braucht, soll er sie haben, aber nicht zwangsweise, außer wenn er gewalttätig ist. Überlaß' es dem Arzt, dem Patienten zu sagen, daß es einen neuen Weg zu einer Lösung gibt.

Wenn es deinem Schützling besser geht, mag der Arzt deinen Besuch vorschlagen. Obgleich du mit der Familie gesprochen hast, sollten die Angehörigen aus dem ersten Gespräch herausgehalten werden. Unter diesen Voraussetzungen wird der Betroffene merken, daß er nicht unter Druck steht. Er wird das Gefühl haben, daß er sich mit dir verständigen kann, ohne daß seine Familie an ihm herumnörgelt. Besuche ihn [call on him], solange er noch zittert. Er ist zugänglicher, wenn er niedergeschlagen ist.

Wenn möglich, solltest du mit ihm allein sprechen. Beginne das Gespräch mit ganz allgemeinen Dingen. Komm' nach einer Weile aufs Trinken zu sprechen. Erzähle ihm genug von deinen Trinkgewohnheiten, Symptomen und Erfahrungen, bis er Mut bekommt, über sich selbst zu reden. Wenn er sprechen möchte, laß ihn das tun. Auf diese Weise wird dir klarer, wie du weitermachen kannst. Wenn er nicht mitteilsam ist, gib ihm einen kurzen Überblick über dein Trinkerleben bis zu dem Zeitpunkt, an dem du aufgehört hast. Aber verrate noch nicht, wie das gelungen ist. Wenn er depressiv ist, erzähle ausführlich von den Schwierigkeiten, die dir der Alkohol bereitet hat. Dabei solltest du es vermeiden, zu predigen oder zu belehren. Wenn er guter Laune ist, erzähl' ihm lustige Episoden aus deiner Saufzeit. Bring' ihn so weit, daß er auch ein paar von sich erzählt.

Wenn er merkt, daß du alle Trinkertricks kennst, dann fang an, dich ihm gegenüber als Alkoholiker zu bezeichnen. Erzähl' ihm, wie durcheinander du warst und wie du schließlich erfahren hast, daß du krank bist und daher so schwach. Erzähle ihm genau, welche verzweifelten Versuche du gemacht hast, um aufzuhören. Beschreibe ihm das verdrehte Denken [mental twist], das zum ersten Schluck und damit zum nächsten Besäufnis führt. Beschreib' ihm den Alkoholismus so, wie wir es im zweiten und dritten Kapitel getan haben. Wenn er Alkoholiker ist, wird er dich sofort verstehen. Er wird deine geistigen Ungereimtheiten [mental inconsistencies] mit seinen eigenen vergleichen.

Wenn du dich ausreichend überzeugt hast, daß er ein waschechter Alkoholiker ist, kannst du anfangen, ihm die Hoffnungslosigkeit der Krankheit auszumalen. Zeig' ihm anhand deiner eigenen Erfahrungen, wie der verwirrte Zustand der Gedanken, der dem ersten Schluck vorausgeht, das normale Funktionieren der Willenskraft verhindert. Beziehe dich jetzt noch nicht auf dieses Buch, es sei denn, er hätte es schon gesehen und möchte darüber sprechen. Hüte dich davor, ihn als Alkoholiker abzustempeln. Laß ihn seine eigenen Schlüsse ziehen. Wenn er weiterhin meint, kontrolliert trinken zu können, sage ihm, daß er das möglicherweise kann - wenn sein Alkoholismus noch nicht zu weit fortgeschritten ist. Beharre darauf, daß seine Chancen auf Genesung aus eigener Kraft gering sind, falls er ernstlich süchtig ist.

Sprich weiterhin von Alkoholismus als einer Krankheit mit tödlichem Ausgang. Sprich mit ihm über die körperlichen und geistigen Begleiterscheinungen des Alkoholismus [of body and mind]. Sorge dafür, daß seine Aufmerksamkeit sich hauptsächlich auf deine persönlichen Erfahrungen konzentriert. Falls ein Arzt oder Psychiater dich irgendwann für unheilbar erklärt hat, dann teile ihm das auf jeden Fall mit. Erkläre ihm, daß viele zum Untergang bestimmt sind, die ihre mißliche Lage nicht wahrhaben wollen. Ärzte, die die Wahrheit kennen, sind zu Recht abgeneigt, ihren Alkoholiker-Patienten die ganze Geschichte auseinanderzusetzen, außer wenn es einem guten Zweck dient. Du aber kannst mit ihm ausführlich über die Hoffnungslosigkeit des Alkoholismus reden, denn du hast eine Lösung anzubieten. Dein Freund wird bald zugeben, daß er viele, wenn nicht alle Züge eines Alkoholikers trägt. Wenn sein eigener Arzt bereit ist, ihm zu sagen, daß er ein Alkoholiker ist, um so besser. Selbst wenn dein Schützling sich seinen Zustand noch nicht ganz eingestanden hat, wird er neugierig sein, wie du es geschafft hast. Laß ihn fragen, wenn er will. Wenn er nicht fragt, erzähl' ihm den Rest deiner Geschichte. Sag ihm genau, wie es bei dir gelaufen ist. Betone nachdrücklich den spirituellen Aspekt. Wenn der Mann Atheist oder Agnostiker ist, dann hebe sehr deutlich hervor, daß er mit deiner Vorstellung von Gott [conception of God] nicht übereinstimmen muß. Er kann jedwede Überzeugung wählen, die ihm zusagt, vorausgesetzt, daß sie ihm selber sinnvoll erscheint. Hauptsache, er ist bereit, an eine Kraft, die größer ist als er, zu glauben und nach spirituellen Prinzipien zu leben.

Wenn du es mit so jemandem zu tun hast, benutze besser die Alltagssprache, um spirituelle Prinzipien zu schildern. Es hat keinen Zweck, Vorurteile gegen theologische Leitsätze und Begriffe wachzurufen, über die er ohnehin nur verworrene Vorstellungen hat. Bring' solche Dinge nicht zur Sprache, egal wie deine eigenen Überzeugungen sein mögen.

Dein Schützling mag einer Konfession angehören. Er mag eine intensivere religiöse Erziehung und Ausbildung genossen haben als du. In diesem Falle wird er sich verwundert fragen, was du ihm über sein Wissen hinaus noch sagen könntest. Er wird aber neugierig sein zu erfahren, warum seine religiösen Ansichten nicht funktioniert haben, während deine dir zum Sieg verhalfen. Er ist vielleicht ein Beispiel für die Tatsache, daß Glaube allein nicht genügt. Um lebendig zu sein, muß der Glaube von Selbstaufopferung und selbstlosen, konstruktiven Aktionen begleitet sein. Er soll sehen, daß du nicht gekommen bist, um ihm Religionsunterricht zu geben. Gib zu, daß er wahrscheinlich mehr über Religion weiß als du. Aber mach' ihn auf die Tatsache aufmerksam, daß irgendwas falsch sein muß, wie tief sein Glaube und sein Wissen auch sein mag, sonst würde er ja nicht trinken. Sag ihm, daß du ihm vielleicht helfen kannst herauszufinden, wo er die ganzen Regeln, die er so gut kennt, nicht richtig angewendet hat. Um unserem Zweck zu dienen, vertreten wir keinen bestimmten Glauben, noch irgendeine religiöse Gemeinschaft. Wir befassen uns nur mit allgemeinen Prinzipien, wie sie den meisten Konfessionen zu eigen sind.

Beschreibe unser Aktionsprogramm, erzähl' ihm, wie du deine Selbsterforschung vorgenommen [Vierter-Schritt] und wie du deine Vergangenheit in Ordnung gebracht hast [Neunter.-Schritt]. Erkläre ihm schließlich, warum du nun bestrebt bist, ihm zu helfen [Zwölfter-Schritt]. Sag ihm unmißverständlich, daß er dir gegenüber zu nichts verpflichtet ist, sondern daß du lediglich hoffst, daß er versuchen wird, anderen Alkoholikern zu helfen, sobald er aus seinen eigenen Schwierigkeiten herausgekommen ist. Zeige ihm [besser durch dein Beispiel, als durch Worte], wie wichtig es ist, das Wohlergehen anderer Menschen über das eigene zu stellen. Mach' ihm deutlich, daß er nicht unter Druck steht und daß er dich nicht wiederzusehen braucht, wenn er nicht will. Du solltest nicht beleidigt sein, wenn er den Kontakt abbrechen will, denn dann hat er dir mehr geholfen als du ihm. Wenn das, was du gesagt hast, vernünftig, ruhig und voll menschlichen Verständnises war, hast du vielleicht einen Freund gewonnen. Vielleicht hast du ihn durch das Gespräch über den Alkoholismus unsicher gemacht. Das wäre nur zu seinem Besten. Je hoffnungsloser er sich fühlt, um so besser. Er wird dann eher deinen Ratschlägen folgen [follow your suggestions].

Dein Kandidat mag Gründe anführen, warum er meint, das Programm nicht in allen Punkten nötig zu haben. Er mag sich z.B. gegen den Gedanken auflehnen, jetzt ans Großreinemachen [drastic housecleaning - Vierter-Schritt] gehen zu müssen, wozu das offene Gespräch mit anderen notwendig ist [Fünfter-Schritt]. Widersprich' solchen Ansichten nicht. Erzähl' ihm, daß du auch einmal so empfunden hast wie er. Du bezweifelst aber, daß du große Fortschritte gemacht hättest, ohne aktiv etwas zu unternehmen. Sprich schon beim ersten Besuch von der Gemeinschaft Alkoholiker Anonymus. Wenn er Interesse zeigt, dann leihe ihm deine Kopie dieses Buches. [If he shows interest, lend him your copy of this book.]

Wenn dein Freund nicht weiter von sich selbst erzählen will, dehne den Besuch nicht zu lange aus. Gib ihm Gelegenheit, über alles nachzudenken. Wenn du noch dableibst, dann überlaß' es ihm, die Richtung des Gesprächs zu bestimmen. Manchmal ist ein Neuer erpicht darauf, eine Entscheidung zu treffen [Dritter-Schritt] und sofort darauf seine Angelegenheiten mit dir zu besprechen [Fünfter-Schritt]. Du magst versucht sein, ihn gewähren zu lassen. Das ist fast immer ein Fehler. Hat er nämlich später Schwierigkeiten, wird er sagen, du hättest ihn gedrängt. Am ehesten wirst du Erfolg mit Alkoholikern haben, wenn du dich nicht als Kreuzritter oder Reformator aufspielst. Sprich mit einem Alkoholiker nie von oben herab aus einem moralischen oder spirituellen Wolken-Kuckucksheim [hilltop]. Lege ihm nur dein spirituelles "Handwerkszeug" vor, damit er es unter die Lupe nehmen kann. Zeig' ihm, wie du damit gearbeitet hast. Biete ihm Freundschaft und Kameradschaft an. Sage ihm, daß du alles tun wirst, um ihm zu helfen, wenn er gesund werden will.

Wenn er an der Lösung, die du ihm anbietest, nicht interessiert ist, wenn er von dir nur erwartet, daß du als Bankier für seine finanziellen Schwierigkeiten fungierst oder als Kindermädchen [nurse] bei seinen Sauftouren da bist, dann laß ihn fallen, bis er seine Meinung ändert. Das wird er wohl erst tun, nachdem er wieder und wieder gelitten hat.

Wenn er ernsthaft interessiert ist und dich wiedersehen will, dann bitte ihn, in der Zwischenzeit dieses Buch zu lesen. Danach muß er selbst entscheiden, ob er weiter gehen will. Er sollte weder von dir noch von seiner Frau noch von seinen Freunden angetrieben oder gedrängt werden. Wenn er Gott finden soll, muß der Wunsch von innen kommen.

Wenn er denkt, er kann auf andere Art mit dem Alkohol fertig werden, oder wenn er einen anderen spirituellen Weg bevorzugt, dann ermutige ihn, seinem Gewissen zu folgen. Wir haben kein Monopol auf Gott, denn du kennst lediglich den Weg, der für dich wirksam war. Betone jedoch, daß wir Alkoholiker vieles gemeinsam haben, und daß du ihm auf jeden Fall freundschaftlich gesinnt bist. Laß es damit genug sein.

Sei nicht entmutigt, wenn er nicht gleich reagiert. Such dir einen anderen Alkoholiker, und versuche es erneut. Du wirst ganz bestimmt einen finden, der verzweifelt genug ist, dein Angebot begierig anzunehmen. Es ist Zeitverschwendung und eine armselige Vorgehensweise [poor strategy], wenn du jemandem nachläufst, der nicht mit dir arbeiten kann oder will. Wenn du so jemanden in Ruhe läßt, wird er in aller Regel anfangen, dir nachzulaufen, denn er wird bald überzeugt sein, daß er aus eigener Kraft nicht genesen kann. Zuviel Zeit für einen einzelnen verschwenden bedeutet, einem anderen Alkoholiker die Gelegenheit vorzuenthalten, zu leben und glücklich zu sein. Einer von uns scheiterte völlig mit seinem ersten halben Dutzend Schützlingen. Er erzählt oft von den vielen, die inzwischen genesen sind und die um ihre Chance gebracht worden wären, wenn er sich weiter mit den noch Uneinsichtigen beschäftigt hätte.

Angenommen, es kommt zu einem zweiten Besuch. Der andere hat inzwischen dieses Buch gelesen und sagt, er sei bereit, alle Zwölf-Schritte des Genesungsprogramms zu durchlaufen. Da du selbst Erfahrungen damit gemacht hast, kannst du ihm viele praktische Ratschläge [practical advice] geben. Empfiehl ihm, daß er die Entscheidung [des Dritten- Schritts] in deinem Beisein trifft und dir seine Lebensgeschichte erzählt [Fünfter-Schritt]. Bestehe aber nicht darauf, daß er es mit dir tut, wenn er es vorzieht, jemand anderen zu konsultieren.

Vielleicht ist er pleite und obdachlos. In diesem Fall könntest du ihm helfen, eine Arbeit zu finden oder ihm eine kleine finanzielle Unterstützung gewähren, falls dadurch nicht deiner Familie oder deinen Gläubigern Geld vorenthalten wird, das ihnen zusteht. Vielleicht möchtest du deinen Schützling für einige Tage bei dir zu Hause aufnehmen. Wahre dabei die Diskretion. [D. h. stelle ihn vor anderen nicht bloß.] Sei dir sicher, daß deine Familie ihn willkommen heißen wird und paß auf, daß der andere dich nicht wegen deines Geldes, deiner Beziehungen und deiner Gastfreundschaft ausnutzt. Wenn du das zuläßt, schadest du ihm nur, du ermöglichst ihm, unaufrichtig zu sein; du trägst eher dazu bei, daß er vor die Hunde geht, als daß du ihm hilfst zu genesen.

Scheue nie diese Verantwortung, aber gehe sicher, daß du das Richtige tust, wenn du solche Verantwortung übernimmst. Anderen mit Selbstaufopferung [self-sacrifice] zu helfen, ist der Grundstein deiner Genesung. Ab und zu eine freundliche Tat ist nicht genug. Wenn es nötig ist, mußt du täglich der gute Samariter sein. Das kann dich viele schlaflose Nächte kosten, dir kaum noch freie Zeit für Annehmlichkeiten und Zerstreuung lassen, sowie Unterbrechungen deiner beruflichen Tätigkeit erfordern. Es könnte bedeuten, Geld und Heim zu teilen, aufgebrachte Ehefrauen und Verwandte zu beraten, zahllose Besuche auf Polizeirevieren, in Sanatorien, Krankenhäusern, Gefängnissen und Obdachlosenheimen zu machen. Es ist möglich, daß dein Telefon Tag und Nacht klingelt. Deine Frau wird dir manchmal sagen, daß sie sich vernachlässigt fühlt. Es ist möglich, daß ein Betrunkener das Mobiliar deiner Wohnung zerschlägt oder eine Matratze anzündet. Es kann sein, daß du dich ihm gegenüber zur Wehr setzen mußt, wenn er gewalttätig wird. Manchmal mußt du einen Arzt rufen und nach seiner Weisung Beruhigungsmittel verabreichen. Ein anderes Mal kann es sein, daß du die Polizei oder einen Krankenwagen rufen mußt.

Solche Dinge passieren ständig, jedoch gestatten wir einem Alkoholiker selten, für längere Zeit in unserer Wohnung zu leben. Es ist nicht gut für ihn und schafft manchmal ernsthafte Probleme in der Familie.

Auch wenn ein Alkoholiker auf angebotene Hilfe nicht eingeht, besteht kein Grund, seine Familie hängenzulassen. Ihr solltest du weiterhin in jeder Hinsicht freundlich begegnen. Der Familie sollte deine Lebensweise angeboten werden. Wenn sie das annimmt und fortan spirituelle Grundsätze praktiziert, hat das Familienoberhaupt eine viel größere Chance zu genesen. Selbst wenn er weiter trinkt, wird für die Familie das Leben erträglicher sein.

Für einen Alkoholiker, der fähig und willens ist, zu genesen, ist wenig Fürsorge im eigentlichen Sinne des Wortes nötig oder erwünscht. Diejenigen, die nach Geld und Obdach rufen, anstatt ihr Alkoholproblem zu überwinden, sind auf dem Holzweg. Trotzdem gehen wir extrem weit, um einander mit dem Nötigsten zu versorgen, wenn es angebracht ist. Das mag widersprüchlich erscheinen, es ist jedoch in Ordnung.

Die Frage ist nicht, ob wir geben sollen, sondern wann und wie. Oft hängt davon Erfolg oder Mißerfolg ab. In dem Augenblick, in dem unsere Fürsorge zur Versorgung wird, fängt der Alkoholiker an, sich mehr auf unsere Hilfe zu verlassen als auf Gott. Unser Schützling verlangt nach diesem und jenem und behauptet, er könne mit dem Alkoholproblem nicht fertig werden, bevor seine materielle Not behoben ist. - Unsinn! Einige von uns mußten sehr harte Schläge einstecken, bevor sie diese Wahrheit gelernt hatten: Arbeit oder keine Arbeit - Frau oder keine Frau -, wir kommen einfach so lange vom Trinken nicht los, solange wir die Abhängigkeit von anderen Menschen über die Abhängigkeit von Gott stellen.

Brenne es tief in das Bewußtsein eines jeden Menschen ein, daß er gesund werden kann, ohne sich [materiell, emotional usw.] von anderen abhängig zu machen. Seine Genesung vom Alkoholismus kann keine Menschenseele auf dieser Erde vereiteln, sie kann auch nicht verhindern, daß er mit allem versorgt wird, was gut für ihn ist [was er braucht]. Die einzige Bedingung ist, daß er Gott vertraut [Zweiter-und-Dritter-Schritt] und reinen Tisch macht [clean house = Vierter-bis-Neunter- Schritt].

Nun zum häuslichen Problem: Es mag Scheidung, Trennung oder gespannte Beziehungen geben. Wenn dein Schützling bei seiner Familie wiedergutgemacht hat, soviel er konnte, und ihr sorgfältig erklärt hat, nach welchen neuen Prinzipien er jetzt lebt, sollte er anfangen, diese Prinzipien nun zu Hause in die Tat umzusetzen - sofern er noch in der glücklichen Lage ist, ein Zuhause zu haben. Obwohl seine Familie in vielerlei Hinsicht auch Fehler gemacht hat, sollte er sich nicht darum kümmern. Er sollte sich vielmehr darauf konzentrieren, sein eigenes spirituelles Programm zu leben. Streit und Schuldzuweisungen sollten gemieden werden wie die Pest. In vielen Familien ist das schwer durchzuführen, aber es muß gemacht werden, wenn irgendein Erfolg sichtbar werden soll. Wenn das einige Monate durchgehalten wird, ist die Wirkung auf die Familie des Mannes sicherlich groß. Die unverträglichsten Leute entdecken, daß sie eine gemeinsame Basis haben, auf der sie sich finden können. Nach und nach werden die Angehörigen ihre eigenen Unzulänglichkeiten einsehen und zugeben. Alles kann dann in einer Atmosphäre von Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit besprochen werden.

Nachdem die Angehörigen greifbare Erfolge sehen, werden sie wahrscheinlich mitziehen und diese bessere Lebensweise mit ihm teilen wollen. Das wird alles auf natürlich-harmonische Weise und zur rechten Zeit geschehen. Voraussetzung ist, daß der Alkoholiker dabei bleibt, nüchtern, rücksichtsvoll und hilfsbereit zu sein, ganz gleich, was andere sagen oder tun. Natürlich können wir alle diesem hohen Anspruch nicht ständig genügen. Aber wir müssen dann wenigstens versuchen, angerichteten Schaden sofort zu reparieren, andernfalls werden wir unsere Nachlässigkeit mit einem Rückfall bezahlen müssen.

Wenn es eine Scheidung oder Trennung gegeben hat, so sollte sich das Paar nicht übereilt wieder zusammentun. Der Mann sollte sich seiner Genesung sicher sein. Die Frau sollte volles Verständnis für die neue Lebensführung aufbringen. Wenn beide ihre alte Beziehung wieder aufnehmen wollen, dann nur auf einer besseren Grundlage, denn die alte hat nicht funktioniert. Das erfordert von beiden auf vielen Gebieten eine neue Einstellung und eine neue Haltung, auch was das Spirituelle betrifft [spirit all around]. Manchmal ist es im Interesse aller Beteiligten, daß ein Paar getrennt bleibt. Offensichtlich gibt es dafür keine Regeln. Lassen wir den Alkoholiker sein neues Programm Tag für Tag leben. Wenn die Zeit für ein gemeinsames Leben gekommen ist, werden es beide Teile spüren.

Nimm es keinem Alkoholiker ab, wenn er sagt, er könne nicht eher genesen, bis er seine Familie zurück hat. Das stimmt einfach nicht. Es gibt Fälle, in denen die Frau aus dem einen oder anderen Grund niemals mehr zurückkommt. Erinnere deinen Schützling daran, daß seine Genesung nicht von Menschen abhängt. Sie ist von seiner Beziehung zu Gott abhängig. Wir haben Menschen erlebt, die gesund geworden sind, obwohl ihre Familie überhaupt nicht zurückgekehrt ist. Wir haben andere erlebt, die rückfällig wurden, als die Familie zu früh zurückkam.

Ihr beiden, der Neue und du, müßt Tag für Tag auf dem Weg des spirituellen Fortschritts gehen. Wenn ihr beständig seid, werden erstaunliche Dinge geschehen. Rückblickend erkennen wir, daß die Dinge, die uns begegneten, nachdem wir uns in Gottes Hand gegeben hatten, besser für uns waren als alles, was wir jemals hätten planen können. Folge dem, was eine Höhere Kraft dir diktiert, und du wirst sogleich in einer neuen und wundervollen Welt leben, ungeachtet deiner jetzigen äußeren Umstände!

Wenn du mit einem Alkoholiker und seiner Familie arbeitest, mußt du darauf achten, dich nicht in ihre Streitigkeiten einzumischen. Damit vermasselst du dir vielleicht die Chance zu helfen. Mach' der Familie mit Nachdruck klar, daß er sehr krank war und entsprechend behandelt werden sollte. Warne sie vor aufkommendem Groll und vor Eifersucht. Du solltest darauf hinweisen, daß seine Charaktermängel nicht über Nacht verschwinden werden. Erkläre ihnen, daß er erst am Beginn einer Periode des Wachstums steht. Wenn sie ungeduldig werden, dann bitte sie, die segensreiche Tatsache nicht zu vergessen, daß er jetzt trocken ist.

Wenn du bei der Lösung deiner eigenen häuslichen Probleme erfolgreich warst, dann erzähle der Familie des Neuen, wie du das erreicht hast. So kannst du auf den richtigen Weg weisen, ohne zu kritisieren. Die Geschichte, wie du und deine Frau die Schwierigkeiten gemeistert habt, ist viel wertvoller, als zu predigen oder Kritik zu üben.

Vorausgesetzt, wir sind spirituell fit, dann können wir alle möglichen Dinge tun, vor denen Alkoholiker oft gewarnt werden. Die Leute sagen, wir dürften da nicht hineingehen, wo Alkohol ausgeschenkt wird; weder dürften wir welchen im Hause haben noch mit Freunden Umgang haben, die Alkohol trinken; es sei uns verboten, eine Bar auch nur zu betreten, unsere Freunde müßten - wenn wir sie besuchen - alle Flaschen gut verstecken; ja wir sollten weder an Alkohol denken noch überhaupt daran erinnert werden. Die Erfahrung beweist, daß das Unsinn ist.

Wir treffen täglich auf solche Bedingungen. Ein Alkoholiker, der ihnen nicht begegnen kann, steckt noch im besoffenen Denken [alcoholic mind], und das liegt an seinem spirituellen [oder besser gesagt unspirituellen] Zustand [spiritual status]. Seine einzige Chance, nüchtern zu bleiben, wäre ein Ort wie Grönland. Und selbst dort könnte ein Eskimo mit einer Flasche Schnaps auftauchen und alles ruinieren! Frage einmal eine der Frauen, die ihren Mann an einen entlegenen Ort geschickt hat, in der Annahme [theory], er würde dort seinem Alkoholproblem entkommen!

Die Bekämpfung des Alkoholismus nach der Methode, den kranken Menschen vor der Versuchung abzuschirmen, ist zum Scheitern verurteilt. Wenn der Alkoholiker versucht, sich selbst abzuschirmen, kann ihm das eine Zeitlang gelingen, doch am Ende wird die Katastrophe größer sein denn je. Unsere Frauen und auch wir selbst haben diese Methoden ausprobiert. Diese blödsinnigen Versuche, das Unmögliche zu tun, sind immer fehlgeschlagen.

Unsere Regel lautet, Orte, wo getrunken wird, nicht zu meiden, wenn wir einen vernünftigen Grund haben, uns dort aufzuhalten [legitimate reason]. Das schließt Bars, Nachtklubs, Tanzveranstaltungen, Empfänge, Hochzeiten und sogar stinknormale Partys mit ein. Wer Erfahrungen mit einem Alkoholiker hat, dem mag das wie eine Herausforderung des Schicksals* vorkommen, aber das ist es nicht. [* wörtlich: tempting Providence - Versuchung der Vorsehung]

Du hast sicher gemerkt, daß wir eine wichtige Einschränkung gemacht haben. Frage dich deshalb bei jedem Anlaß: "Gibt es für mich triftige gesellschaftliche, geschäftliche oder persönliche Gründe, um dorthin zu gehen? Wird meine Anwesenheit für irgend jemand dort hilfreich sein? Wäre ich hilfreicher oder nützlicher, wenn ich diese Zeit über anderswo sein würde?" Wenn du diese Fragen zufriedenstellend beantworten kannst, brauchst du keine Befürchtungen zu haben. Geh hin oder halte dich fern, was immer dir am besten erscheint. Sei dir jedoch sicher, daß du soliden spirituellen Boden unter den Füßen hast, ehe du aufbrichst, und daß deine Motive, dorthin zu gehen, durch und durch gut sind. Denke nicht daran, was du davon haben wirst. Denke daran, was du dort einbringen kannst. Wenn du spirituell ungefestigt bist, solltest du statt dessen lieber mit einem anderen Alkoholiker [im Zwölfter-Schritt] arbeiten!

Du sollst nicht mit langem Gesicht an Orten sitzen, wo getrunken wird, und den "guten alten Tagen" nachtrauern. Wenn es ein freudiger Anlaß ist, versuche zur guten Laune der anderen beizutragen; wenn es ein beruflicher Anlaß ist, dann geh' hin und widme dich begeistert deinen Geschäften. Wenn du mit jemandem zusammen bist, der in einem Restaurant essen möchte, geh' auf jeden Fall mit. Laß deine Freunde wissen, daß sie wegen dir ihre Gewohnheiten nicht zu ändern brauchen. Erkläre all deinen Freunden zur rechten Zeit am rechten Ort, warum du Alkohol nicht mehr verträgst. Wenn du das gewissenhaft tust, wird dich kein anständiger Mensch mehr bitten, etwas zu trinken. Während deiner Trinkerzeit hast du dich langsam, aber sicher aus dem Leben zurückgezogen. Jetzt kehrst du ins Leben auf dieser Erde zurück. Fang' nicht wieder an, dich abzukapseln, nur weil deine Freunde Alkohol trinken.

Deine Aufgabe ist es jetzt, jeweils dort zu sein, wo du am hilfreichsten für andere bist, also zögere niemals, irgendwo hinzugehen, wenn du hilfreich sein kannst. Du solltest dich nicht scheuen, wenn es deine Mission erfordert, den übelsten Ort dieser Erde aufzusuchen. Versuche dich nicht feige aus allem herauszuhalten, sondern bleibe aus diesen Motiven heraus beständig in der Schußlinie des Lebens, und Gott selbst wird dich unverletzt erhalten. [You should not hesitate to visit the most sordid place on earth on such mission. Keep on the firing line of life with these motives, and God will keep you unharmed.]

Viele von uns haben Alkohol im Hause. Wir brauchen ihn oft, um "grüne Rekruten" [neuen Mitgliedern, die sozusagen "frisch vom Faß" zu uns kommen] über einen schweren Entzug hinwegzuhelfen [weil sie sonst ins Delir fallen und sterben können]. Einige von uns servieren ihren Gästen noch in maßvoller Weise Alkohol, vorausgesetzt, daß es sich um Leute handelt, die keinen Alkoholmißbrauch treiben [abuse drinking]. Andere meinen, wir sollten überhaupt niemandem Alkohol anbieten. Diese Frage wird bei uns nicht diskutiert. Wir haben das Gefühl, daß jede Familie das in Anbetracht ihrer jeweiligen Umstände selbst entscheiden sollte.

Wir achten sorgfältig darauf, niemals Intoleranz oder gar Haß gegenüber den Trinkgewohnheiten der Gesellschaft [drinking as an institution] zu zeigen. Die Erfahrung lehrt, daß solch eine Haltung für niemanden hilfreich ist. Jeder Neue rechnet damit, daß wir eine solche Einstellung haben, und ist unendlich erleichtert, festzustellen, daß wir keine Hexenverbrenner sind. Ein Geist der Intoleranz könnte Alkoholiker abstoßen, deren Leben ohne unsere Engstirnigkeit hätte gerettet werden können. Selbst der Sache der Abstinenzlerbewegung würden wir mit Intoleranz keinen guten Dienst erweisen. Kein Trinker unter Tausenden läßt sich gern etwas über Alkohol erzählen von jemandem, der den Alkohol haßt.

Eines Tages, so hoffen wir, wird Alkoholiker Anonymus der Öffentlichkeit dazu verhelfen, die Schwere des Alkoholproblems besser zu erkennen. Wir werden wenig hilfreich sein, wenn unsere Einstellung verbittert oder gar feindselig ist. Bei Trinkern würden wir damit sowieso nichts erreichen.

Letzten Endes waren unsere Probleme Marke "Eigenbau". Die Flaschen waren nur ein Symbol. Außerdem haben wir aufgehört, irgend jemand oder irgend etwas zu bekämpfen. Wir müssen das einfach!

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Stand: 27. Juni 1997